# taz.de -- „O Solitude“ von Henry Purcell: Verliebt in die Einsamkeit | |
> Manche Lieder gehen nicht ins Ohr, sondern ins Herz, auf die Haut oder in | |
> den hinteren Gaumen. „O Solitude“ von Henry Purcell feiert die | |
> Einsamkeit. | |
Bild: David Erler sing das O, hoch, dann geht es eine Septime herunter | |
Leipzig/Berlin taz | Nicht als Ohrwurm, sondern als Herzwurm brennt sich „O | |
Solitude“ ein. Vor über 300 Jahren wurde das Lied geschrieben. Anders als | |
jene Schlager, die, einmal zu oft gehört, direkt ein Kopfkarussell in Gang | |
setzen, eine Endlosschleife, die alles überlagert, gleich ob Verwünschung | |
oder Liebesschwur – ich hasse dich, gimme gimme a man after midnight; ich | |
liebe dich, gimme gimme a man after midnight – wird dieses Lied auch oft | |
wiederholt nicht zur Qual. | |
„O Solitude“ ist eine Liebeserklärung an [1][die Einsamkeit]. Henry Purcell | |
hat vor über 300 Jahren die Musik geschrieben. Purcell ist der Bach der | |
Engländer. Der Komponist hat ein großes Werk hinterlassen, obwohl er mit 36 | |
Jahren schon starb. Und, ihm wird nachgesagt, er habe die englische Sprache | |
in die Musik geholt. So hat er mit der Musik dazu beigetragen, dass sich | |
die Länder auf der Insel vereinigen, anstelle sich wie zuvor wegen | |
Religionen in Bürgerkriegen zu verstricken. | |
Aber das schweift ab, zumal der Zusammenhalt des Vereinigten Königreich | |
gerade alles andere als gesichert ist. An dieser Stelle geht es einzig um | |
„O Solitude“. Das Lied beseelt, je öfter gehört, denn es setzt sich nicht | |
im Ohr fest, sondern im Herz, auch auf der Haut und am hinteren Gaumen. | |
Dort schwingt der erste süße Ton, es ist ein kreisrundes O. | |
Erst das O, dann ein Sprung. Vom O, das hoch gesungen wird, geht es eine | |
Septime hinunter, zur ersten Silbe im ersten Wort, in der das O sich | |
wiederholt: „O Solitude“ – O Einsamkeit. Auf Deutsch funktioniert das | |
nicht, sagt David Erler, Sänger ist er, [2][Countertenor]. Die Vokale | |
harmonieren dann nicht, und würden sie es, müsste es „Ei Einsamkeit“ hei�… | |
und schon rutschte alles in die falsche Spur. | |
## Eine Septime kann wie ein Stolpern sein | |
Erler sitzt im Café Gloria im Schatten der Thomaskirche in Leipzig und ist | |
bereit, alles, was aus der Komposition herauszuholen ist, in Worte zu | |
fassen. Ein einfaches Unterfangen ist das nicht. Denn was sollen Worte, wo | |
Musik ist? | |
Das mit der Septime sei auffallend, meint Erler. Einer Oktave, also einem | |
Intervall mit acht Tonstufen, können auch Ungeübte leicht folgen. Eine | |
Septime dagegen könne für sie wie ein Stolpern sein. Erler hat das Lied im | |
Repertoire, führt es bald auch im Friedenauer Kammermusiksaal in Berlin | |
auf. | |
Die Septime ist als Intervall so schwierig wie der Versuch, einen | |
siebenzackigen Stern zu zeichnen. Ein achteckiger ist leicht, man faltet | |
ein quadratisches Blatt erst auf die Hälfte, dann die Hälfte auf ein | |
Viertel und danach die Viertel noch in der Diagonalen. Klappt man es wieder | |
auf, hat man das symmetrische Gerüst für einen achtzackigen Stern. Aber ein | |
siebenzackiger Stern – da hakt es, da fehlt die Symmetrie. | |
In Purcells Lied wird siebenzackig die Einsamkeit besungen: Einsamkeit als | |
großes Glück. Einsamkeit als herbeigesehntes Einssein mit sich in der | |
Natur. Einsamkeit als Verführung, als Unmöglichkeit, als große Schule und | |
schale Täuschung. Und: Einsamkeit als Kontinuum. | |
## Süße Wahl oder süße Freude | |
Das Kontinuum ist der Bass. Vier Takte, die sich immer wiederholen. | |
„Ground“ wird dieses dem Stück zugrunde liegende musikalische Muster | |
genannt, sagt Erler. Und auf seinem Notenblatt, das er im Café Gloria bei | |
der Thomaskirche, wo Johann Sebastian Bach wirkte und begraben ist, zeigt, | |
steht es auch im Titel. „O Solitude – a Ground.“ Auf diesem Grund feiern | |
Melodie und Gesang ein Fest. Wie viele Feste ist es bittersüß. | |
Dieser immer gleiche meditative Bass, er könne tröstend wirken, meint | |
Erler. Aber auch ausweglos, „immer dieselbe Leier.“ Das Stück bekäme | |
dadurch etwas Insistierendes, „nur, das bemerkt man nicht, weil die | |
Singstimme so viele verschiedene Facetten hat.“ Da also, genau da sind sie, | |
die zwei Seiten der Einsamkeit: Dass sie begehrt und gefürchtet wird in | |
einem. | |
„O solitude, my sweetest choice“ heißt die erste Zeile. O Einsamkeit, meine | |
süßeste Wahl. Gesungen ist es leicht, anstatt „choice“ das Wort „joy“… | |
hören – O Einsamkeit, meine süßeste Freude. Und an diesen nicht richtig | |
artikulierten Laut zeigt sich ebenfalls diese Ambivalenz, die an der | |
Vorstellung von Einsamkeit klebt. Sich für sie entscheiden oder sich an ihr | |
freuen, Kopf oder Herz. Wer jedoch denkt, das geht immer so weiter, | |
stolpert eingelullt, über ein hartes Wort am Ende: „Hate“. Hass. „I hate | |
it.“ Für David Erler ist es das auffallendste Kompositionsmerkmal, dass bei | |
„I hate it“ der gleiche siebenstufige Septimensprung wie bei „O solitude�… | |
gesungen werden muss. Bei Hörern komme die Septime nicht als Dissonanz an, | |
sie werde vom Bass aufgefangen, aber es sei dissonant. „Weil die Septime so | |
stark ist, will Purcell uns etwas sagen.“ Nur was? | |
Das Lied des 1659 geborenen und 1695 verstorbenen Komponisten Henry Purcell | |
basiert auf einer Nachdichtung der Lyrikerin Katherine Philips aus dem | |
Französischen. Sie war zu ihren Lebzeiten sehr bekannt, auch als Salondame. | |
Für ihr Werk interessiert sich die Literaturwissenschaft heute allerdings | |
weniger als für die Frage, ob Philipps, die von 1632 bis 1664 lebte, eine | |
Sappho war und Frauen liebte. | |
## Moderne Barockmusik | |
Die Vertonung, die Purcell zum Gedicht komponierte, steht für sich, ist | |
nicht eingebettet in ein größeres musikalisches Werk. Und wenn doch, ist es | |
nicht bekannt. Wie so vieles über ihn nicht bekannt ist. Man weiß nicht | |
einmal, wie Purcells Name richtig ausgesprochen wird, „Pörsell“ oder | |
„Pörsl“. David Erler nennt ihn „Pörsl“. In einem anderen Lied nämlich | |
tauche sein Name auf und könne nur so gesungen werden, sagt Erler. | |
In der Portrait Gallery in London gibt es ein Bild, das Henry Purcell | |
zeigt. Seine Gesichtszüge sind markant, die Augen schimmern glasig, seine | |
Nase ist groß und schmal, sein Mund mit einem leicht schelmischen Zug, | |
trotzdem liegt Weichheit im Ausdruck und zögerliche Empfindsamkeit. | |
Sein Leben lang war Purcell Musiker der Chapel Royal in London, der Kirche, | |
wo Königinnen und Könige beteten. Folglich hat Purcell Kirchenmusik | |
komponiert, das war sein Job, aber auch Opern, Trinklieder, Stücke für | |
Zeremonien, Krönungen oder Trauerfeierlichkeiten wie die für Königin Mary, | |
die 32-jährig im Jahr 1694 an Pocken starb. Die Musik für sie wurde auch | |
auf seiner Beerdigung ein paar Monate später gespielt. | |
Purcells Musik hat bis heute Resonanz, sagt David Erler. Weil sie einen | |
stets überrasche. Und Spielraum lasse für eigene Interpretation. Das mache | |
[3][Barockmusik] auch so modern. Kommt hinzu, dass es zur Zeit, als die | |
Musik komponiert wurde, keine Tonträger gab. Jede Aufführung war | |
einzigartig und kann es auch heute sein. „Es wurde viel mehr improvisiert, | |
als wir uns das vorstellen mögen.“ | |
Erler selbst versteht sich dennoch eher als Diener der Komposition. „Ich | |
will die Noten ernst nehmen und ausführen“, sagt er, „aber je länger man | |
sich damit beschäftigt, desto mehr kann man sich davon lösen.“ | |
Erler ist 1981 in Auerbach im Vogtland in eine Kirchenmusikerfamilie | |
geboren. Dieser Umstand bedeutete etwas in der DDR, nämlich Opposition. | |
David Erlers Eltern waren nicht in der Partei, er nicht bei den | |
Jungpionieren. Die Kirche war der identitätsstiftende Raum. „Bei Kirchen | |
konnte man mehr man selbst sein.“ Das prägt ihn, bis heute. Deshalb fühlt | |
Erler sich [4][der Kirchenmusik nahe], der alten ganz besonders. Er forscht | |
auch zu Kirchenmusikern: Heinrich Schütz, Johann Kuhnau – „deren Pech, dass | |
Bach alles überstrahlt“, deshalb würden nur wenige ihr Werk kennen. | |
Ein paar Tage später steht David Erler im Kammermusiksaal Friedenau, der | |
mit seinen runden Fenstern und den Kronleuchtern, die, wären es Kerzen, | |
eine wahrhaft barocke Stimmung zauberten, und probt „O Solitude“. Im Raum | |
sammelt sich diese fein verwobene Musik, in der jeder Ton eines Instruments | |
gehalten wird von den anderen, und das ohne breiig zusammen zu schmelzen zu | |
einem schweren Musikklumpen. „Purcell ist der Meister der Mittelstimmen“, | |
sagt Erler. Das, was sonst nur die Melodie stütze, sei bei Purcell selbst | |
charaktervoll. | |
Die Musikerinnen an Cembalo, Cello und Geige diskutieren, wie viel Raum sie | |
mit dem Grundmotiv einnehmen können, bevor David Erler mit „O Solitude“ | |
einsetzt, und sie diskutieren die Schnelligkeit, denn das Lied soll langsam | |
sein in seinem Lauf, auch wenn der im Grunde schnell ist. Am Ende liegt | |
alle Spannung in Erlers Gesang, er legt seine ganze Ausdruckskraft in | |
dieses O, um das Herz zum Vibrieren zu bringen und die Schönheit der | |
Einsamkeit groß zu machen, „o solitude, my sweetest choice“. | |
Das Lied begänne so trist und zerbrechlich, sagt Erler, „und ist es am Ende | |
doch nicht.“ | |
25 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Einsamkeit-in-der-Gesellschaft/!5597056 | |
[2] /Countertenor-ueber-Geschlechterrollen/!5315167 | |
[3] /Barocktage-in-der-Staatsoper-Berlin/!5637998 | |
[4] /Der-Hausbesuch/!5532568 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
## TAGS | |
Einsamkeit | |
Klassische Musik | |
Barock | |
Musik | |
Kirchenmusik | |
Reisen | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Einsamkeit | |
Barock | |
Schwerpunkt Armut | |
Oper | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Navigationshilfe fürs Alleinsein: Für sensible SolistInnen | |
Warum fühlt man sich als Einzelgast am Nachmittag in Cafés wohl, am Abend | |
in Restaurants aber nicht? Übers Alleinsein gibt es neue Erkenntnisse. | |
96-Jährige über Gelassenheit: „Wie du denkst, denkt keiner“ | |
Die Hamburgerin Ursula Gleim ist 96 Jahre alt. Einsam fühlt sie sich nicht, | |
doch sie kämpft mit den Herausforderungen des Alters. | |
Erkundung eines verleugneten Gefühls: Einsam wacht | |
Sich einsam fühlen kann auch, wer mitten unter Menschen ist. Umgekehrt sind | |
nicht alle, die allein sind, deswegen schon einsam. | |
Kneipenmusik beim Musikfest Bremen: „Kirchenmusiker in Pubs“ | |
Kneipenmusik des englischen Barock: der norwegische Violinist Bjarte Eike | |
über einen besonderen Moment der Musikgeschichte. | |
Einsamkeit in der Gesellschaft: Bis es wehtut | |
Mehr Community, weniger Gemeinschaft: Einsamkeit ist zum großen Thema | |
unserer Zeit geworden. Aber wie verbreitet ist sie wirklich? | |
Countertenor über Geschlechterrollen: „Es ist so ein Erfülltsein“ | |
Wenn Andreas Scholl singt, glauben viele, eine Frau zu hören. Deshalb | |
musste er sich schon früh mit Frauen- und Männerbildern auseinandersetzen. |