# taz.de -- 96-Jährige über Gelassenheit: „Wie du denkst, denkt keiner“ | |
> Die Hamburgerin Ursula Gleim ist 96 Jahre alt. Einsam fühlt sie sich | |
> nicht, doch sie kämpft mit den Herausforderungen des Alters. | |
taz: Frau Gleim, gibt es Momente, in denen Sie sich einsam fühlen? | |
Ursula Gleim: Ich kann mich nicht erinnern. Ich lebe allein, mein Mann ist | |
vor zwanzig Jahren gestorben. Aber mich trifft die Einsamkeit nicht, weil | |
es Dinge gibt, die bei mir sind. | |
Zum Beispiel? | |
Meine Kirche, die Gemeinde, die Musik, die Bücher und die große Familie. | |
Das klingt so, als wäre es wichtig, auch aus sich selbst zu schöpfen. | |
Die Quelle, aus der ich schöpfe, ist das Wissen, die Bildung. Obgleich es | |
nur die Schulbildung ist, denn ich habe mein Studium abbrechen müssen in | |
der Nazizeit. | |
Gibt es jemanden Ihrer Generation, mit dem Sie sich austauschen können – | |
jemand, der weiß, was es bedeutet, über 90 Jahre alt zu sein? | |
Ich habe eine 95-jährige Schwester, die auch – das auch ist eigentlich | |
verkehrt – in guter Gesundheit ist, aber in Süddeutschland lebt. Früher hat | |
sie Querflöte gespielt, jetzt, da das nicht mehr geht, spielt sie | |
Blockflöte und musiziert mit ihren alten Freundinnen. Ich habe sie gerade | |
zu ihrem 95. Geburtstag besucht. Das ist sehr schön: Wir können von unseren | |
Eltern sprechen, wir lesen alte Briefe von unserem Vater vor. | |
So etwas ist selten. | |
Es ist uns total wichtig, jetzt gerade in dem hohen Alter. Wir kämpfen | |
beide. Es ist nicht leicht, es ist ein großer Preis, den man bezahlt, wenn | |
man so alt wird. | |
Womit kämpfen Sie am meisten? | |
Mit den Zipperlein, die aber keine Zipperlein sind, sondern handfeste | |
Beeinträchtigungen. Ich kann zum Beispiel nicht mehr gut gehen, weil ich | |
nicht mehr die Kraft dazu habe. Und dann gucke ich runter und sehe die | |
jungen Menschen so schnell und flüssig gehen. Das habe ich auch mal | |
gemacht. Wir sind so viel gewandert und wir hatten nie ein Auto. | |
Wenn der Körper nicht mehr kooperiert, wird er zum Feind? | |
Ja, das kann man sagen. | |
Wird dann der Geist noch wichtiger? | |
Ja, und das war das, was ich vorhin meinte: mit den Büchern, mit der Musik. | |
Man kann das bestimmt auch ohne sie haben, aber ich glaube, es erleichtert | |
es sehr. Kaum eines der Enkelkinder liebt klassische Musik, aber für mich | |
und auch für meine Kinder ist es ganz wichtig. | |
Was bringen die Enkel und Kinder an Neuem in Ihr Leben? | |
Ich muss in meinem hohen Alter, meine Tochter will es so, noch Smartphone | |
lernen. Ich finde es enorm schwer und habe keine Lust dazu. Aber meine | |
Tochter lässt nicht locker, ich soll in die Familien-App. Aber ich habe | |
Youtube für mich entdeckt, ich habe einen neuen Computer mit sehr guten | |
Lautsprechern. | |
Wie erleben Sie Zeit? Es klingt nicht so, als würde Sie ihnen langsam | |
vergehen. | |
Darf ich Ihnen etwas Schönes sagen? „Wem Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit | |
wie Zeit, der ist befreit von allem Leid.“ Mir ist es noch nicht so, ich | |
bin nicht befreit von allem Leid. Es gibt Wochenenden, an denen ich mit | |
niemandem spreche, aber das empfinde ich nicht als schlimm. Ich bin nicht | |
die Person, die hinter jeder Bekanntschaft so wahnsinnig her ist. Leider | |
bin ich auch etwas kritisch Mitmenschen gegenüber und denke: Vielleicht ist | |
es genauso gut, wenn ich allein bin. Ich habe aber durch meine Turngruppe, | |
die ich bis vor drei Jahren gemacht habe, Freundschaften geschlossen. Sie | |
kommen zu meinem Geburtstag oder zum Adventskaffee, aber es ist nicht so | |
oft. | |
Wie haben Sie selbst als junger Mensch alte Menschen gesehen? | |
Meine Mutter war, als sie in den 40ern war, wie eine alte Frau gekleidet, | |
man stelle sie sich jenseits von Gut und Böse vor. Als nicht erstrebenswert | |
habe ich es gesehen, glaube ich, aber vielleicht habe ich mir auch keine | |
Gedanken darüber gemacht. Wir haben wenig von unseren Gefühlen gesprochen. | |
Wie auch? Unsere Kinder haben nicht so im Mittelpunkt gestanden wie ihre | |
jetzt, und wir als Kinder auch nicht. Wir lebten in einer großen | |
Altbauwohnung, wir verschwanden hinten und vorne unterhielten sich die | |
Eltern. Unter anderem über Politik, aber nicht mit den Kindern, auch nicht, | |
wenn sie 16 oder 18 waren. | |
Ist es Ihnen manchmal fremd, wie jetzt mit den Kindern umgegangen wird, wie | |
die Enkel die Urenkel behandeln? | |
Ja. Aber ihr macht manches besser als wir. Ich kann nur staunen über das | |
freundschaftliche Verhältnis mit den Eltern, das kannten wir gar nicht. | |
Aber manches haben wir auch sehr gut gemacht. | |
Was ist besser und was schlechter? | |
Meine Tochter wurde 1949 geboren, das war noch vom Krieg geprägt. Da fing | |
es an. Ich las Bücher, Montessori, da hieß es, man solle dem Kind eine | |
Erklärung geben, wenn man etwas verbot. Die haben wir nie gekriegt. Das | |
finde ich schön. Dass mehr erklärt und gefragt wird. Aber wie schaffen es | |
die Eltern, wenn sie keinen Schlaf kriegen, wenn das Kind zwei Jahre in der | |
Mitte im Ehebett liegt? Ich weiß nicht genau, ob es gut ist, wenn man einem | |
Kind so nachgibt, dass sie kaum etwas essen und alles nicht mögen. Bei uns | |
hieß es: Dann krieg ihr nichts. | |
Wie haben Ihre Eltern Sie geprägt? | |
Der preußische Vater: mit Disziplin, die mir heute so sehr nützt. | |
Eigentlich möchte ich morgens lang schlafen, bis neun oder halb zehn, weil | |
ich ganz spät ins Bett gehe. Das gönne ich mir aber nicht, um acht schrillt | |
der Wecker. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, der Tag ist nicht so | |
schön, wenn er spät beginnt. Die Disziplin lässt aber nach. Ich glaube, | |
dazu gehört Kraft, das merke ich jetzt. Zum Beispiel passiert es mir jetzt, | |
dass ich Mittag esse, dann die Küchentür zumache und mich hinlege. Das war | |
eine Todsünde in meinem ganzen Leben. Oder jeden Tag rauszugehen. Dieser | |
Friedhof, der direkt gegenüber vor meinen Augen liegt, da ruhen meine | |
Eltern und mein Mann. Das ist wunderschön. Ich schaue auf meine Zukunft. | |
Zum Friedhof könnte ich ja hingehen, aber die Disziplin fehlt immer öfter; | |
ich lasse es auch zu. | |
Sie sagen das so gelassen: Ich schaue auf meine Zukunft. Selbst als | |
jüngerer Mensch finde ich, dass das ein herausfordernder Gedanke ist. | |
Das finde ich auch. Das ist mehr etwas, das ich mir selber als Trost | |
zuspreche. Sie wissen, was wir alle wollen: dass wir ganz plötzlich | |
sterben. Aber es verletzt die Angehörigen sehr. Meine Eltern waren beide | |
Pastorenkinder, ich liebe Matthias Claudius so sehr: „Wollst endlich sonder | |
Grämen/ Aus dieser Welt uns nehmen/ Durch einen sanften Tod! / Und, wenn du | |
uns genommen,/ Laß uns in Himmel kommen,/ Du unser Herr und unser Gott!“ | |
Ist das nicht wunderschön! Meine armen Enkel müssen sich diese Gedichte | |
auch anhören. | |
Ich stelle es mir als eine große Umstellung vor, nach dem Tod des Partners | |
plötzlich alleine zu leben. Wie haben Sie das erlebt? | |
Das ist eine große Umstellung. Mein Mann war zwölf Jahre älter, er war | |
kriegsbeschädigt, er hatte nur eine Hand. Ich musste viel für ihn tun, das | |
habe ich aber gerne getan. Ich war 77, als er starb, und das ist aus meiner | |
Warte heute ein tolles, jugendliches Alter. Ich habe angefangen, alleine, | |
wenn auch in Gruppen, unsere Reisen fortzusetzen. Es waren gute Jahre und | |
ich scheue mich auch nicht, das zu sagen. Damals habe ich begonnen, mich | |
als Zeitzeugin zu verstehen. | |
Inwiefern? | |
Es war lange kein Thema für mich. Gleich nach dem Krieg kam ein Kind nach | |
dem anderen, wir lebten in einem Zimmer, der Mann hatte nur eine Hand und | |
musste wieder in den Beruf eingegliedert werden Dann gab es drei Dinge: | |
eine Reise nach Oradour, eine kleine französische Stadt, wo die Deutschen | |
Menschen in eine Kirche getrieben und sie dann angezündet hatten. Dann die | |
Todesfuge von Paul Celan und das [1][War Requiem] von Benjamin Britten. | |
Diese Sachen haben mich so getroffen, dass ich das nachgeholt habe und mich | |
auch immer gefragt habe: Wo ist meine Schuld? Ich kann sie nicht so finden, | |
vielleicht ist das falsch. Heute Mittag war mein Arzt da, er ist so alt wie | |
mein Sohn und ich habe ihm gesagt: Ihr habt keine Schuld, aber die | |
Verantwortung müsst ihr weitertragen. Einmal habe ich einem Chilenen davon | |
erzählt, einem Schüler einer meiner Enkelinnen. | |
Was haben Sie ihm gesagt? | |
Ich fange immer so an: Ich habe keinen Mann im Krieg verloren, keinen | |
Bruder, ich bin nicht ausgebombt worden, ich war kein Flüchtling. Ich | |
versuche mir klarzumachen: Warum habe ich nichts von dieser schrecklichen | |
Reichspogromnacht gewusst. Ich war 15, wirklich, ich habe es nicht gewusst. | |
Warum ist der Vater in die Partei eingetreten? Meine Eltern würden sich im | |
Grabe umdrehen, wenn sie meine politische Meinung wüssten. | |
War Politik ein Thema in Ihrer eigenen Familie? | |
Mein Mann war sein Leben lang konservativ und regte sich sehr über die | |
68er-Struktur der Kinder auf. Aber er weckte den Sohn um fünf, weil der in | |
Finkenwerder mit meinem Handfeger, den er in Leim tauchte, irgendwelche | |
Plakate ankleben wollte. Und die Mao-Bibel kam ins Haus. Das musste er | |
aushalten. Die Jungs verweigerten natürlich den Wehrdienst und gingen nach | |
Bremen an die Uni, weil sie röter war. | |
Hat Ihr Mann sich so mit der Nazizeit beschäftigt wie Sie das taten? | |
Mein ältester Enkel fragte: Opa, gehst du mit mir in die | |
[2][Wehrmachtssausstellung]? Wir sind auch gegangen, aber zu mir hat mein | |
Mann gesagt, er habe immer gedacht, der Enkel wolle ihn anklagen, aber das | |
wollte der ja gar nicht. Er hat nie seinen Arm mit der Prothese zornig in | |
die Luft gereckt und gesagt: „Einem Verbrecher bin ich aufgesessen, einem | |
von uns heraufgebrachten Krieg“. Das kann mich alles aufregen bis heute. | |
Aber Ihre Ehe hat das ausgehalten. | |
Ja, die hat es getragen. Vielleicht auch, weil Politik nicht so ein Thema | |
gewesen war. In Oradour sagte eine Mitreisende: Das ist ja das Gegenteil | |
von Frieden, dass wir hier hin müssen. Was sollst Du da sagen? Das war | |
dieses gebildete Publikum. In meinem Bekanntenkreis fiel das Wort gegen | |
mich: „So wie du denkst, denkt keiner.“ | |
26 Dec 2019 | |
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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/War_Requiem | |
[2] http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/docs/home.htm | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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