| # taz.de -- Kneipenmusik beim Musikfest Bremen: „Kirchenmusiker in Pubs“ | |
| > Kneipenmusik des englischen Barock: der norwegische Violinist Bjarte Eike | |
| > über einen besonderen Moment der Musikgeschichte. | |
| Bild: Barock mit Kneipenschwung: Bjarte Eike (rechts) bei seinen „Alehouse Se… | |
| taz: Herr Eike, warum spielen Sie ausgerechnet Kneipenmusik des englischen | |
| Barock? | |
| Bjarte Eike: Weil das 17. Jahrhundert ein spannender Moment der britischen | |
| Musikgeschichte ist. Aufgefallen ist mir das, als ich vor Jahren ein | |
| englisches Programm für ein Musikfestival erstellte. Da dachte ich | |
| irgendwann, es gab damals ja nicht nur [1][Dowland] und [2][Händel], | |
| sondern auch die Musik der Pubs. Und die war – besonders in der zweiten | |
| Hälfte des 17. Jahrhunderts – überraschend hochkarätig. | |
| Warum? | |
| Weil professionelle Orchester- und Kirchenmusiker in den Pubs zu spielen | |
| begannen. Denn damals herrschte Bürgerkrieg in England, und der | |
| Republikaner Oliver Cromwell – der unter anderem die Hinrichtung von König | |
| Karl I. betrieben hatte – schloss alle Theater und Konzertsäle und entließ | |
| die Hof- und Kirchenmusiker. Sie mussten sich also anders durchschlagen, | |
| hangelten sich von Job zu Job und spielten eben auch da, wo die „normalen“ | |
| Leute verkehrten: in den vielen Pubs und Drinking Houses. | |
| Ein Clash of Cultures. | |
| Nein, eher ein Anstieg des musikalischen Niveaus. Denn in den Pubs war zwar | |
| schon immer viel gesungen und musiziert worden – aber auf eher niedrigem | |
| Level. Als jetzt die „klassischen“ Musiker dazukamen, entwickelte sich ein | |
| sehr lebendiger Austausch zwischen „E- und U-Musik“, eine Art Hybrid | |
| zwischen elaborierter komponierter und Folk-Musik, ein Mix zwischen „Hoch“- | |
| und „Volkskultur“. Später, als man offiziell wieder musizieren durfte, | |
| wandelte man einige Pubs in Konzerthäuser um, richtete im Hinterzimmer | |
| kleine Theater ein, begann – erschwinglichen – Eintritt zu nehmen, es gab | |
| sogar Konzert-Abos. Das war um 1670/71 – 50, 60 Jahre, bevor in Europa die | |
| Aufklärung ausbrach. | |
| Sie und Ihre „Barokksolistene“ präsentieren diese Musik in | |
| [3][Alehouse-Sessions]. Wie laufen die ab? | |
| In den alten Songbüchern – und davon gibt es viele – sind die Melodien ohne | |
| Begleitakkorde notiert. Ich habe also angefangen, sie zu arrangieren und | |
| gemeinsam mit anderen Musikern zu experimentieren. Ich habe stetig neue | |
| Wege und Referenzen gesucht, neue Arten, mit dieser alten Musik zu | |
| arbeiten, inklusive einer Art Pub-Situation, die wir auf der Bühne | |
| schaffen. Inzwischen sind unsere Alehouse-Sessions ein Mix aus | |
| improvisierter Musik, Folk, Jazz, Tanz- und Theaterelementen. Alle singen, | |
| und natürlich ist eine Menge „Klassisches“ à la Purcell drin. Die Grenzen | |
| zwischen Komposition und Improvisation werden bewusst verwischt. | |
| Waren diese Pub-Konzerte damals ein politisches Statement? | |
| Natürlich waren Pubs immer auch Orte politischer Diskussion – aber explizit | |
| subversive Texte habe ich nicht gefunden. In unseren Sessions geht es eher | |
| um das gemeinsame Musizieren, um die Fähigkeit, auch bei Barockmusik zu | |
| improvisieren und eigene Gefühle auszudrücken. Und natürlich ist das | |
| Publikum eingeladen mitzumachen und mitzusingen. | |
| Wollen Sie so auch die gängige Idee vom „elitären“ Barock gerade rücken? | |
| Nein, ich habe keine Mission. Für mich ist der Barock schlicht eine Ära, in | |
| der viele Dinge passierten, die nichts mit Händel und Bach zu tun hatten. | |
| Abgesehen davon mache ich einfach, was mir gefällt. Wenn es anderen | |
| ebenfalls gefällt, ist das fantastisch. Aber natürlich wissen wir um | |
| historisch informierte Aufführungspraxis und bleiben unseren Quellen treu. | |
| Ich bin mir sehr bewusst, dass wir nichts Billiges oder Pop-Artiges machen. | |
| Waren Sie der Erste, der die alte Pub-Musik wieder entdeckte? | |
| Nein, auch andere haben diese Lieder schon gespielt. Aber ich glaube nicht, | |
| dass irgendjemand auf dieselbe experimentelle Art mit dieser Musik | |
| gearbeitet hat wie wir. | |
| 23 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/John_Dowland | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Friedrich_H%C3%A4ndel | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=vGQZj_rU2Cc | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Barock | |
| Konzert | |
| Bremen | |
| Musikfest Berlin | |
| Klassik | |
| Einsamkeit | |
| Elbphilharmonie | |
| Lesestück Interview | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Intendant über das Musikfest Bremen: „Wichtig ist der Spirit“ | |
| Zwischen Jever und Petersburg, zwischen Mittelalter und heute: Festivalchef | |
| Thomas Albert über musikalische Querverbindungen beim Bremer Musikfest. | |
| Musikfest-Chef über sinkende Gagen: „Es wird eine Umverteilung geben“ | |
| Thomas Albert rechnet damit, dass mit den Zuschauerzahlen auch die Gagen | |
| der Stars sinken werden. Daraus ergebe sich eine Chance für den Nachwuchs. | |
| „O Solitude“ von Henry Purcell: Verliebt in die Einsamkeit | |
| Manche Lieder gehen nicht ins Ohr, sondern ins Herz, auf die Haut oder in | |
| den hinteren Gaumen. „O Solitude“ von Henry Purcell feiert die Einsamkeit. | |
| Syrisch-deutscher Musiktransfer: Aalglatt läuft es nicht immer | |
| Wenn syrische und deutsche Musiker zusammen spielen, kollidieren | |
| verschiedene Tonsprachen und Mentalitäten. Aber das ist ja das Spannende an | |
| dem Musiktransfer. | |
| Mini-Oper und große Politik: „Nacktheit ist eine Lösung für Faule“ | |
| In Groningen singt Sopranistin Sara Hershkowitz György Ligetis „Mysteries | |
| of the Macabre“ in Fatsuit und mit Trump-Haarteil |