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# taz.de -- Mini-Oper und große Politik: „Nacktheit ist eine Lösung für Fa…
> In Groningen singt Sopranistin Sara Hershkowitz György Ligetis „Mysteries
> of the Macabre“ in Fatsuit und mit Trump-Haarteil
Bild: Vom Präsident zum plärrenden Baby ist für Sara Hershkowitz nur ein Kos…
Frau Hershkowitz, werden Sie am Freitag in Groningen die Stimmung
vermissen?
Sara Hershkowitz: Naja, es wird sicher wirklich nicht dieselbe
Rockkonzert-Atmosphäre sein mit kreischenden und tanzenden ZuschauerInnen,
wie im [1][Sommer], aber das Stück hat schon das Potenzial, auch in einem
Saal mitzureißen und die Inszenierung sollte schon auch dort einen
interessanten Effekt haben.
Im Sommer haben Sie György Ligetis Kammer-Oper „Mysteries of the Macabre“
auf dem [2][Lowlands]-Festival in Nordholland vor 10.000 ZuhörerInnnen
performt …
Von wegen! 15.000 waren es!
… jedenfalls war es nicht das normale Opernpublikum: Wie war es dazu
gekommen?
Das Lowlands ist eins der größten Indie-Rockfestivals in Europa, mit Stars
von überall her, vielen Leuten, die zelten und es dauert mehrere Tage – so
wie Rockfestivals halt sind. Und vor vier oder fünf Jahren haben die
Veranstalter damit begonnen, ein Event mit klassischer Musik zu
integrieren. Dieses Jahr hatten sie das Noord Nederlands Orkest (NNO) dafür
eingeladen.
Reine Klassik?
Yesss!
Also kein Crossover?
Genau, und gerade das macht es zu einer brillianten Idee. Denn in der
ewigen Diskussion darum, wie man mit jungen HörerInnen ein neues Publikum
für klassische Musik gewinnen kann, überlegen die meisten, wie kriegen wir
es hin, dass die Musik cool wirkt. Das ist ein Grundfehler: Denn klassische
Musik ist aufregend, kraftvoll, ergreifend, alles mögliche. Aber cool ist
sie nicht. Und wer die klassische Musik auf diese Weise runterdimmt, der
beleidigt eher das junge Publikum, als es zu gewinnen.
Dagegen hilft Purismus?
Ich denke, dass man Klassik genau so erfahren sollte: Unter freiem Himmel,
mit der Möglichkeit dazu zu tanzen, und Ligeti ist dann wirklich genauso
mitreißend wie ein Rock-Konzert – wie ein David Bowie-Auftritt vielleicht.
Genau darum geht es, das haben die Lowland-Macher kapiert, und das kommt
auch bei den ZuhörerInnen an: Die sind total mitgegangen. Herrlich.
Die „Mysteries“ sind eine Art Konzentrat von Ligetis großer grotesker
Weltuntergangs-Oper „Le Grand Macabre“, in der Sie vor ein paar Jahren in
Bremen aufgetreten waren. War das eine wichtige Erfahrung für Sie?
Ungeheuer. Es war mein Debüt in Deutschland – und seither lebe und arbeite
ich ja hier: Es gibt im Leben von Opernsängerinnen wahrscheinlich wenig,
was ein einschneidenderes Erlebnis wäre, als so ein Debüt. Es war
entsetzlich, als ich die Noten bekam.
Warum?
Es ist so unglaublich schwierig! Es ist vielleicht die schwierigste
Komposition, die es überhaupt gibt, und ich hatte ernste Zweifel ob es
irgendeinem menschlichen Wesen möglich sein würde, diese Rolle zu singen:
Die komplexen ständig wechselnden Rhythmen, die atonalen Kolloraturen, die
rabiaten Sprünge – das ist technisch extrem anspruchsvoll. Und gleichzeitig
ist es sehr komisch und voller Spielfreude, die Musik verführt und zwingt
regelrecht zur Darstellung. Das auf der Bühne zu machen ist unglaublich
lustvoll.
Inszeniert hatte damals Tatjana Gürbaca …
Wunderbar.
Hat deren Auffassung Ihre jetzige Interpretation mitgeprägt?
Nicht so sehr: Es war ein großes Geschenk mit Tatjana Gürbaca zusammen
arbeiten zu dürfen, und wie gesagt, es war mein Deutschland-Debüt. Aber die
„Mysteries“ sind nicht dasselbe Stück, wie die große Oper, und ich hatte
auch etwas anderes mit ihnen vor.
Sie haben eine sehr persönliche Beziehung zu Ligeti und seiner Musik?
Es ist wahr, ich bewundere György Ligeti sehr: Er ist von einer
beeindruckenden Reinheit und Kompromisslosigkeit. Ihm war völlig egal, wie
ihn die Welt betrachtet hat, welchen Erfolg er hatte, ob er als bedeutender
Komponist galt, oder nicht – das alles hat ihn einfach nicht gekümmert. Er
hat seine völlig eigenständige musikalische Welt geschaffen: Wichtig war
ihm, wie die gespielt wird. Und an meinen besten Tagen hoffe ich, ihr zu
genügen. Zugleich stammt er aus Rumänien,
…aus Târnăveni…
Das ist dieselbe Gegend, in der auch meine Vorfahren gelebt haben. Ich bin
die Urenkelin von Menschen, die von Nazis ermordet wurden. Und annähernd
Ligetis gesamte Familie ist durch die Shoa [3][ausgelöscht worden]. Und
sein Werk, gerade diese Oper ist seine Antwort darauf, eine sehr jüdische
Antwort: Er schreibt eine Komödie über den Tod. Das ist etwas, was mein
Volk seit Jahrtausenden macht: Entsetzliche, schreckliche Dinge in
Komödien, in Theater, in Musik zu verhandeln. Das ist mir sehr nah.
Ihre Sicht auf die Mysteries ist politisch bis zur Karikatur hin explizit
und direkt auf die Aktualität bezogen. Warum?
Ligeti war selbst ein politischer Mensch – und eine radikale Person. Er war
total gegen jedes Establishment, ein Zerstörer des Status Quo, der sich
wahrscheinlich sogar dagegen verwehrt hätte, als Anti-Establishment
bezeichnet zu werden, weil er das für eine Schublade gehalten hätte. „Le
Grand Macabre“ hat er selbst als eine Anti-Anti-Oper bezeichnet, weil ihm
der Ausdruck Anti-Oper zu modisch schien. Sie wirft so ziemlich alles, was
für musikalisch akzeptiert oder auch nur akzeptabel gehalten wurde, über’n
Haufen: Mit atonaler Tonsprache, mit konkreter Musik, Autohupen und
Papierrascheln – er hat damit wirklich die Grenzen des musikalisch
Möglichen erweitert. Und auch die dessen, was in einer Oper szenisch für
angemessen gehalten wurde – durch drastische Sexualität und einen komplett
respektlosen Spott über Tod und Weltuntergang. Das Stück ist also für sich
bereits politisch.
Wie sind Sie die Inszenierung angegangen?
Das war lustig: Als das Orchester mich engagiert hat, sagten sie mir, dass
ich es eben nicht nur singen, sondern mir auch ein szenisches Konzept
überlegen sollte. Sie hatten eine Bedingung: Es sollte provokant sein.
Was soll denn das heißen?
Das habe ich sie auch gefragt. Sie meinten: Naja, irgendwas mit provokanter
Kleidung. Das hat mir jetzt nicht so viel geholfen.
Wollten die, dass Sie sich ausziehen?
Möglicherweise. Früher hätte das vielleicht mal geklappt, aber heute?
Nacktheit ist eher eine Lösung für die Faulen. Selbst in der Opernwelt
schockiert nacktes Fleisch niemanden mehr. Das erste was mir dann einfiel
war, mindestens halb im Scherz: Ich mach es in einer Burka. Da hätte es
wahrscheinlich wirklich jemanden gegeben, der das noch als Provokation
verstanden hätte, manche machen sich ja fast schon ein Hobby daraus,
Islamisten zu reizen. Aber ich wollte weder sterben, noch dass das Festival
kaputt gebombt wird. Habe ich also doch wieder verworfen. No Burka.
Und dann?
Dann habe ich mich auf die Frage eingelassen, was wirklich noch provokativ
sein kann 2017, und was sich davon in diesem Libretto und dieser Musik
findet. Und da bin ich eben wieder auf diese Figur des Gepopo gestoßen, des
Geheimpolizisten, der mit einem unglaublichen Machismus auftritt und sich
mit einer totalen Nonsense-Ansprache und irren Ausbrüchen auf der Bühne
breit macht und Furcht und Hysterie und Endzeitstimmung verbreitet.
Also ziehen Sie sich die Fatsuit an und entern rempelnd die Szene mit
trump-alike-Haarteil und -Gesten?
Ja. Ich hatte ein bisschen Sorge, dass das Orchester, das ja keine
politische Organisation ist, Vorbehalte hätte. Aber sie haben die Szene von
Anfang an geliebt. Und Marcel Mandos, der Intendant des NNO, unterstützt
künstlerische Visionen sehr mutig und vorbehaltlos. Das war eine sehr gute
Erfahrung.
Sie spielen die Mysteries sehr körperlich – Sie verwandeln sich während des
Singens von der Trump-Witzfigur nacheinander in ein Baby und eine
Beauty-Queen mit Pussy Riot-Maske. Warum fordern Sie sich selbst solche
sportiven Höchstleistungen ab?
Wenn ich das wüsste! Mir ist es persönlich ein Anliegen, die Grenzen
auszuloten – auch die eigenen: Als Performerin muss ich mich selbst
zwingen, meine Komfort-Zone zu verlassen. Ich möchte jedes Mal weiter
kommen, als Leute es bis dahin für eine Opernproduktion möglich gehalten
hätten. Das ist mir wichtig. Und gleichzeitig darf es nicht das Singen
beeinträchtigen: Die Musik muss bewahrt werden.
[4][Aufführungen]:
20. 10., De Oosterpoort, Groningen, 20.15 Uhr
21. 10., De Lawei, Drachten, 20.15 Uhr
20 Oct 2017
## LINKS
[1] https://www.sarahershkowitz.com/media/
[2] http://lowlands.nl/
[3] https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002626
[4] https://www.nno.nu/concert/rollercoaster
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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Donald Trump
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Pussy Riot
Musiktheater
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