| # taz.de -- Pussy Riot in Bremen: Tante Marija erzählt was vom Punk | |
| > Ihre Anti-Putin-Messe feiern Pussy Riot in Bremen. Während ihrer | |
| > Performance erschlagen sie ZuschauerInnen mit Reizüberflutung. | |
| Bild: Revolution ist Handarbeit: Pussy Riot näht vermummt im Lager | |
| Bremen taz | Der Macker auf der Bühne spritzt mit einer Wasserflasche ins | |
| Publikum und trifft die ersten Sitzreihen unerwartet. Einige schreien auf, | |
| andere versuchen zu fliehen, die meisten bleiben einfach verdattert sitzen. | |
| „Welcome to hell“ steht auf der Leinwand hinter der Bühne. Der Typ mit | |
| nacktem Oberkörper holt noch eine Flasche und macht weiter das Oldenburger | |
| Publikum nass. | |
| Zunächst irritiert, dass da ein Mann auf die ZuschauerInnen losgeht. Denn | |
| die Performance vom Mittwochabend in der Oldenburger Kulturetage ist Teil | |
| der Deutschland-Tournee des feministischen Pussy Riot Theatre, das am | |
| Samstag nun im Bremer Schlachthof auftritt. Das Stück basiert auf dem Buch | |
| „Riot Days“ von der 2012 inhaftierten Marija Aljochina und erzählt die | |
| Geschichte des feministischen Protestkollektivs. | |
| Immerhin bringt das Wasser Bewegung in die ersten Reihen. Endlich mal. Es | |
| sind Literflaschen. Erst zwei, dann drei, am Ende ungefähr zehn. Als sie | |
| leer sind, wirft der Typ sie ins Publikum. Nicht im hohen Bogen, sondern | |
| mit voller Wucht. Ein älterer Mann in der ersten Reihe will sich in | |
| Sicherheit bringen. Er kommt nur langsam hoch, geht ein paar | |
| Zeitlupenschritte zur Seite. Zu langsam. Zur Strafe gibt es einen ganzen | |
| Liter Wasser ins Gesicht. Einige ZuschauerInnen schleudern daraufhin die | |
| Flaschen zurück auf die Bühne, nur treffen sie leider nicht. | |
| Der Typ, der in seiner Mackerhaftigkeit und mit zur Schau gestellten | |
| Bauchmuskeln an Tyler Durden aus der Fight-Club-Verfilmung erinnert, trägt | |
| Sonnenbrille. Als er mit dem Wasserwerfen fertig ist, setzt er sich auf den | |
| Bühnenrand, guckt das Publikum an und raucht. Dann nimmt er noch einen Zug | |
| von seiner Kippe und schnippt sie auf ein Mädchen in der ersten Reihe. | |
| Müssen Punks eigentlich Arschlöcher sein? Ist das diese Revolution, von der | |
| alle reden? | |
| Die Riot-Days-Performance vom Pussy Riot Theatre sind das Making-of des | |
| feministischen Aufstands gegen Putin. Es ist eine Mischung aus Punkkonzert, | |
| Lesung und Theaterperformance. Marija Aljochina, selbst Teil des | |
| feministischen Pussy-Riot-Kollektivs, steht im Zentrum des inszenierten | |
| Bühnenprotests, das auf ihrem Buch „Riot Days“ („Tage des Aufstands“) | |
| basiert. Kernstück ist dabei natürlich: das Punk-Gebet in der | |
| russisch-orthodoxen Christus-Erlöser-Kathedrale, das Pussy Riot 2012 | |
| weltweite Bekanntheit, einen Schauprozess und zwei Jahre Straflager | |
| einbrachten. | |
| ## Mit Sturmhaube tanzen | |
| Gerade mal 40 Sekunden haben fünf Frauen damals unter zu Sturmhauben | |
| zerschnittenen bunten Wollmützen auf der Kanzel der großen Moskauer | |
| Kathedrale getanzt – an einem Ort, an dem Frauen sonst nur putzen dürfen. | |
| „Blasphemie“, sagt der orthodoxe Patriarch, ein Mann mit einer | |
| 30.000-Dollar-Uhr, der auf einer Jacht herumcruist, während er dazu | |
| aufruft, Putin zu wählen. | |
| Auf der Bühne erschlägt der Protest die ZuschauerInnen regelrecht. | |
| Geschrien auf Russisch, mit Militanz und ein wenig Dada, überflutet der | |
| inszenierte Protest die Sinne – zusammen mit schnell geschnittenem | |
| Filmmaterial auf einer Leinwand im Hintergrund, über die auch noch | |
| übersetzende Untertitel laufen. | |
| Es ist laut. Dafür sorgen neben dem revolutionären Geschrei das Schlagzeug, | |
| Elektrobeats und ein Alt-Saxofon der russischen Irgendwas-mit-Punk-Kombo | |
| Awott (Asian Women on the telephone), die irgendwo zwischen ausufernder | |
| Opern-Stimme und melancholischem Saxofon wabert. | |
| ## So punk wie möglich | |
| Der Produzent des Stückes (noch ein Mann) hatte vor der Vorstellung das | |
| Publikum dazu aufgerufen, sich so punk wie möglich zu verhalten. Aber das | |
| ist schwer: Ganz voll ist der Saal der Kulturetage in Oldenburg nicht. Zu | |
| viel Bestuhlung und zu wenig Punkmusik lassen keinen Pogo zu. Und Bierdosen | |
| zum Schmeißen hat sowieso niemand dabei. Putin ist weit weg und das Leben | |
| hier doch eigentlich ganz in Ordnung. Oder nicht? | |
| Die Nummer mit den Wasserflaschen ist der Höhepunkt. Das kalte Wasser im | |
| Gesicht und die Schmerzen im Auge vom Schraubverschluss aus Hartplastik | |
| markieren die Ankunft im Straflager. Auch Aljochina gießt sich eine Flasche | |
| über dem Kopf aus. Das Wasser im Gesicht fühlt sich irgendwie richtig an. | |
| Es weckt auf. Spült den Grauschleier von den Augen, den man vom | |
| Untertitellesen bekommen hat. Wäscht den dicken Film aus russischem | |
| Geschrei, Alt-Saxofon und Protest-Pathos weg. Das, was Aljochina | |
| „Revolution gegen Putin“ nennt, ist damit vorbei: aus der Traum vom | |
| solidarischen Russland – statt Revolution und Umwälzungen gibt es jetzt | |
| Gulag. | |
| Der Bruch auf der Bühne wirkt tatsächlich stark, auch wenn er natürlich nur | |
| eine Idee vom Straflager vermittelt. Aber schon das tut weh: Als würde man | |
| nicht in der perfekt ausgeleuchteten und gediegenen Oldenburger Kulturetage | |
| sitzen, sondern in der russischen Taiga ankommen. | |
| ## Wo Tränen gefrieren | |
| Das also ist der Ort, an den man gelangt, wenn man in der | |
| Christus-Erlöser-Kathedrale dreimal laut auf Russisch “Scheiße Gottes“ | |
| schreit – „Sran’, sran’, sran’Gospodnya“. Wo die Tränen gefrieren … | |
| Psychopharmaka Menschen ruhig stellen sollen. Nebelmaschinen hüllen die | |
| Bühne in Rauch. Danach: Schmerz, Schreie, Hungerstreik. | |
| Das Stück endet mit einem Appell für Bewegung. „Es ist wichtig, für seine | |
| Freiheit zu kämpfen. Ich kämpfe jeden Tag für meine Freiheit“, schreit | |
| Aljochina auf Zehenspitzen am Bühnenrand. Spotlight ins Publikum. „Und | |
| ihr?“ | |
| Nichts rührt sich. Alles still. Irgendwann kommt Applaus. Sozial erwarteter | |
| Applaus, der die angespannte Stille vertreibt. Aljochina lächelt leicht, | |
| winkt etwas unbeholfen. Musik setzt ein. Zum richtigen Beat könnte man | |
| jetzt auch tanzen. Aber an der Stelle, wo der Bass droppen müsste, hört | |
| alles auf – wieder Stille. | |
| 12 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Gareth Joswig | |
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