# taz.de -- Pussy Riot Theatre in Deutschland: „Eine imperiale Sehnsucht“ | |
> Mascha Alechina von Pussy Riot ist gerade auf Tour in Deutschland. Sie | |
> spricht über Hafterfahrungen und über die Situation in Russland. | |
Bild: Mascha Alechina im November 2017 im Büro ihres deutschen Verlags | |
taz: Frau Alechina, die Fotosession hat Ihnen gerade sichtlich Spaß | |
gemacht, Sie sind immer wieder vom Stuhl gehüpft. Sind Sie eine sportliche | |
Person? | |
Mascha Alechina: Vom Stuhl zu hüpfen würde ich noch nicht als Sport | |
bezeichnen. Aber ja, ich gehe gerne schwimmen. Und ich spiele Schach. | |
Konnten Sie während Ihrer Haftzeit Schach spielen? | |
In der Untersuchungshaft habe ich Backgammon gespielt – das populärste | |
Spiel im Gefängnis. | |
War das eine der wenigen Freuden in der Haftanstalt? | |
Da muss man zwischen Untersuchungshaft und Arbeitslager unterscheiden. In | |
der Untersuchungshaft hat man viel Zeit, weil man die ganze Zeit in der | |
Zelle verbringt. Dort kannst du lesen oder Backgammon spielen. Eine Stunde | |
am Tag gibt es Freigang, wobei „Freigang“ ein Euphemismus ist: Es gibt | |
keinen Garten oder so, es ist ähnlich wie in einem geschlossenen Raum. Ohne | |
Dach, aber mit einem Gitter über dem Atrium. Im Arbeitslager nahe Perm, in | |
das ich vor gut fünf Jahren kam, herrschten andere Bedingungen. Dort musste | |
man arbeiten, und die Arbeit der Häftlinge ist es, Uniformen für die | |
russische Polizei und das Militär zu nähen. Es ist zynisch. Nach zwei | |
Wochen haben sie mich in eine Einzelzelle gesteckt. Die meiste Zeit habe | |
ich dort verbracht, ehe ich wegen der Haftbedingungen vor Gericht gezogen | |
bin. | |
Sie haben den Prozess gegen die Lagerleitung gewonnen, wie Sie nun in Ihrem | |
Buch „Tage des Aufstands“ schildern. Das scheint mir sehr außergewöhnlich | |
in einem solchen Fall in Russland. | |
Ja, das war ein großer Erfolg. Für mich, aber auch für all jene, die aus | |
Moskau kamen und mich unterstützten. Und für meine Verteidigerin Oksana | |
Darowa. Sie ist großartig. | |
Ihr Buch endet mit Ihrer Freilassung Weihnachten 2013. Wie sind Sie mit den | |
brutalen Hafterfahrungen im Anschluss umgegangen? | |
Das wäre eine Geschichte für ein weiteres Buch. Wir haben danach viele | |
Aktionen für MediaZona gemacht. Nadia (Nadja Tolokonnikowa, weiteres | |
Pussy-Riot-Mitglied; d. Red.) und ich haben MediaZona gegründet, ein | |
unabhängiges Medium, das sich mit Polizeigewalt und politischen | |
Gerichtsverhandlungen beschäftigt. Ich habe eine Theatershow mit dem | |
weißrussischen Ensemble Belarus Free Theatre gemacht, der einzigen | |
politischen Künstlergruppe dieser Art in Weißrussland. | |
Helfen Ihnen die politischen Aktionen über die Erlebnisse in der Haft | |
hinweg? | |
Darum geht es nicht. Es geht darum, sich für andere Menschen einzusetzen. | |
Nachdem wir freigelassen wurden, haben wir uns sehr viele Gefängnisse in | |
ganz Europa angesehen, um sie mit denen in Russland zu vergleichen. | |
Gemeinsam mit einem Kollektiv von Anwälten haben wir deshalb die Gruppe | |
Zona Prava gegründet, die sich für Gefangene in Russland einsetzt. Ende | |
Oktober haben wir in New York eine spontane Aktion für den ukrainischen | |
Regisseur Oleg Senzow und den ukrainischen Aktivisten Alexander | |
Koltschenko im Trump Tower gemacht. Senzow ist 2015 zu 20 Jahren Haft | |
verurteilt worden wegen seines Aktivismus in Sachen Krim. Wir haben | |
Flugblätter verteilt; der Trump Tower war nach unserer Aktion eine halbe | |
Stunde geschlossen. | |
Sie zitieren in Ihrem Buch die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam | |
Schalamow – neben Alexander Solschenizyn einer der bekanntesten russischen | |
Autoren, die den Gulag beschrieben haben. Sehen Sie in Russland die | |
Kontinuität eines Systems des Überwachens und Strafens? | |
Was wir heute in Russland haben, ist ein Erbe des Gulag. Wie ein Staat mit | |
Häftlingen umgeht, spiegelt immer auch, wie die Regierung und der Staat mit | |
ihren Bürgern umgehen. Das Gulag-System existierte, wenn auch in | |
unterschiedlicher Ausformung, über 70 Jahre. Das, was dort in den | |
fünfziger, sechziger und siebziger Jahren geschah, unterscheidet sich | |
natürlich je nach Epoche stark voneinander. Und heute ist es wieder anders. | |
Aber die Struktur hat sich nicht geändert. | |
Als jüngst das Jubiläum „100 Jahre Russische Revolution“ begangen wurde �… | |
wie haben Sie das empfunden? | |
Vor allem die ältere Generation feiert das Jubiläum. In dieser Generation | |
gibt es eine nostalgische Sehnsucht nach der Sowjetunion, eine imperiale | |
Sehnsucht. Manche wünschen sich gar den Zarismus zurück. Immer geht es | |
dabei um den Wunsch nach einem starken Führer. Putin instrumentalisiert | |
das, um durchzuregieren und bestimmte Dinge durchzupeitschen. | |
Sie schreiben: „In Russland hat niemand eine Vorstellung davon, was | |
Zivilgesellschaft ist. Keiner geht davon aus, dass irgendetwas in dieser | |
Welt von ihm abhängt.“ Warum ist das bis heute so? | |
In dem Kapitel, das Sie ansprechen, schildere ich ausführlich eine gewisse | |
Apathie und das Nichthandeln. Alles Politische beginnt aber mit einer | |
Aktion, mit der Erkenntnis, dass man handeln muss. Der Absatz trägt in der | |
Überschrift den Imperativ „kämpfe!“, das ist eine literarische Strategie, | |
die ich in ähnlicher Form im ganzen Buch verfolge. Darauf folgen dann | |
Statements und politische Slogans, die man braucht, um sich dem Ganzen zu | |
widersetzen. | |
Haben Sie eigentlich Kontakte zu deutschen Politikern? | |
Ich kenne Politikerinnen und Politiker der Grünen, die ich sehr schätze. | |
In der deutschen Partei Die Linke gibt es mächtige Figuren wie Sahra | |
Wagenknecht, die einen Entspannungskurs im Umgang mit Russland fordern und | |
implizit die Krim-Annexion zumindest dulden würden. Was würden Sie | |
erwidern? | |
Dass sie Mörder unterstützen. Und Repressionen gegen Bürger. Das sind | |
nicht gerade „linke“ Gedanken. Es sind immer noch über 40 ukrainische | |
Bürger wegen ihres Engagements für die Krim in Russland in Haft. Nicht nur | |
Aktivisten, es sind auch Menschen, die einfach dort lebten. Sie haben bis | |
zu 20 Jahre Haft bekommen, sie wurden zum Teil misshandelt während der | |
Ermittlungen. So ist die Lage. Der Krieg mit der Ukraine geht weiter, und | |
darüber sollte in der EU und in Deutschland immer wieder gesprochen werden. | |
Besonders angesichts dessen, dass wir im kommenden Jahr | |
Präsidentschaftswahlen in Russland haben. Die Ukraine ist auf dem Weg nach | |
Europa, es gibt Visumfreiheit für ukrainische Bürger. Die Ukraine ist fast | |
wie ein Teil der EU und sollte auch so geschützt werden.(Anm. d. Red.: Die | |
EU forderte in einem Papier vom 4. Oktober 2017 die Freilassung der | |
Krimtatarenführer Akhtem Chiygoz und Ilmi Umerov sowie 45 weiterer | |
Personen, die wegen Ihres Krim-Engagements in Haft sind – darunter Oleg | |
Senzow. Laut Amnesty International wurden Umerov und Chiygoz am 25. Oktober | |
freigelassen.) | |
Neben den Präsidentschaftswahlen findet noch die Fußball-WM im kommenden | |
Jahr in Russland statt. Was halten Sie von der Entscheidung, die WM in | |
Russland auszutragen? | |
Das ist eine merkwürdige Entscheidung. Die politische Situation in Russland | |
ist kein respektabler Rahmen für eine Fußballweltmeisterschaft. | |
Sie selbst sind im Vorfeld der Olympischen Spiele 2014 freigelassen worden, | |
es gab einen Zusammenhang. Wären Entlassungen oder Erleichterungen für | |
Häftlinge vor der WM wieder denkbar? | |
Es deutet nichts darauf hin. Die Einstellung der heutigen Regierung Putin | |
ist nicht vergleichbar mit der von vor vier Jahren. Der russischen | |
Regierung ist es total egal, welches Bild Europa von ihr hat. Umso | |
wichtiger ist es, auf bestimmte europäische Werte immer wieder hinzuweisen. | |
Nun gehen Sie mit einem Pussy-Riot-Theaterprojekt auf Deutschlandtour | |
gehen. Es heißt wie Ihr Buch (in der englischen Fassung) „Riot Days“. Ist | |
es eine Bühnenadaption des Textes? | |
Ja. Es ist ein Punkmanifest, das auf meinem Buch basiert. Das Pussy Riot | |
Theatre habe ich gemeinsam mit einigen Freunden ins Leben gerufen, wir | |
wollen die Geschichte als Performance erzählen. | |
Ihre Pussy-Riot-Kollegin Nadja Tolokonnikowa geht mit einem anderen Projekt | |
auch als „Pussy Riot“ auf Tour. Gibt es Differenzen darüber, wer die Marke | |
Pussy Riot nutzen darf? | |
Nein, absolut nicht. Wir machen jetzt einfach unterschiedliche Sachen. Ich | |
mache politisches Theater, Nadja macht Musik. | |
Wird es mit Ihrem Theaterprojekt auch Aufführungen in Russland geben? | |
Es gab zwei Veranstaltungen. Nach der ersten wurde die Bühne direkt im | |
Anschluss geschlossen, und nach der zweiten bekam das Theater, in dem wir | |
auftraten, auch große Probleme. Also beließen wir es dabei. | |
10 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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