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# taz.de -- Kolumne Geräusche: Umfzz, umfzz, umfzz und so weiter
> Im toten Winkel der Musikkritik gedeiht, was sich allen "Kontroversen",
> "Diskursen" und "Positionen" entzieht.
Manche Menschen ziehen sich zur geistigen Entgiftung jahrelang nach Indien
zurück, andere gehen monatelang ins Kloster. Ich für meinen Teil flüchte
mich gerne mal für ein paar Wochen in das elitäre Reich der Neuen Musik,
regiert von Großfürsten wie Arvo Pärt oder György Ligeti. Dünne Luft und
klirrende Klangflächen aus schierer Schönheit tun halt manchmal ganz gut,
dafür muss man sich nicht entschuldigen. Wie bei jeder echten Fernreise
stellt sich der Kulturschock erst bei der Rückkehr in die Realität ein.
Diesmal waren es die Worte "Disco Pogo", erstmals gehört aus einem Ford
Fiesta, der, vorbeibrausend, eine Schleppe aus bleiernen Beats hinter sich
herzog, umfzz, umfzz, umfzz.
Es bedurfte keiner allzu investigativen Recherche, und schon war ich im
Bilde: "Disco Pogo" von den "Atzen" ist ungefähr der derzeit größte Hit
deutscher Zunge und steht seit geschätzten 600 Jahren an der Spitze der
Charts. Es ist eine obszön verrutschte Chimäre aus Techno, HipHop und dem
urdeutschen Sondergenre "Jubel, Trubel, Heiterkeit". Könnte "Disco Pogo"
sprechen, es müsste winseln: "Erschieß mich, bitte, erlöse mich von meinen
Schmerzen". Und doch hatte ich bis dato noch nie auch nur einen Pieps
dieser mit wahrlich vielen elektronischen Piepsern gesegneten Musik gehört.
Warum nicht?
Ich lese doch auch sonst im Feuilleton der FAZ immer alles über
vergleichbar kommerziellen Quatsch. Etwa über Lady Gaga, ihren vor allem
"aus neofeministischer Sicht" erfreulich "reflektierten" und "souveränen
Umgang mit popkulturellen Referenzen", umfzz. Und die Süddeutsche, um keine
Verrenkung verlegen, bemüht sogar, umfzz, Michel de Montaigne, um
aufgeschlossenen Bildungsbürgern wie mir diese "Mischung aus Kleopatra und
Bond Girl" zu erklären. Die Atzen aber und ihr "Disco Pogo" dagegen sind
selbst der Intro zu blöde, dort findet man den Hit schlicht "dämlich", wenn
nicht sogar "gefährlich".
Hier haben wirs mit einer echten Schweigespirale zu tun, zumal es den
bekennenden Fürsprechern der Atzen an der diskursiven Schulung gebricht -
die halten "Disco Pogo" einfach für "hamma" und "sooo geil", denn "der Bass
geht sau ab" und die "Mädels inne Disse" auch. Punkt. Vielleicht besteht
die obskure "Krise" der Musikkritik einfach in ihrer Eitelkeit, nur sehen
zu wollen, worin sie sich auch hübsch spiegeln kann.
Machen wirs also kurz: "Disco Pogo" vereint die verstörenden Skills von
Aphex Twin mit dem rhythmischen Hintersinn der Chemical Brothers,
rehabilitiert das Deutsche als Muttersprache der Ausschweifung - und
zelebriert den Exzess als temporären Ausgang des Individuums aus seiner von
kapitalistischen Produktionsbedingungen verschuldeten Unmündigkeit. So
ungefähr. Das sollen die feinen Herren Pärt und Ligeti den Atzen erst mal
nachmachen.
Lyrik: "Wir lassen uns das gottverdammte Feiern nicht verbieten / Wie ein
kranker Haufen raufen wir uns / Atzen, lasst es krachen" (Die Atzen, "Disco
Pogo")
Musik: Das gedämpfte Brausen, wenn der Geldautomat noch ganz für sich die
Scheinchen sortiert.
16 Apr 2010
## AUTOREN
Arno Frank
Arno Frank
## TAGS
Lesestück Interview
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