# taz.de -- EU-Migrationspolitik: Die Menschen, die am Wagen hängen | |
> Unsere Kolumnistin wird an der marokkanischen Mittelmeerküste mit den | |
> Realitäten der EU-Grenzpolitik konfrontiert. Und fühlt sich überfordert. | |
Bild: Menschen, vermutlich Migranten, auf einer Anhöhe an der Tarajal-Grenze i… | |
Drei Jungs hängen an unserem Wohnwagen. Zwei an der Kabine, einer zwischen | |
den Rädern. Die Autos in der nordmarokkanischen Stadt Tanger hupen uns an. | |
Wir wollen [1][nach Europa ausschiffen]. Die Flüchtenden, die sich hier | |
unter Lkws hängen, betreiben ein aussichtsloses Unterfangen: Der Hafen | |
Tanger Med ist aufgerüstet mit Stacheldraht, Spürhunden und | |
Röntgenkontrollen. | |
Die Jungs müssen runter, der eine unterm Wagen hängt lebensgefährlich, und | |
ich bin auch nicht wild darauf, dass die anderen die Kabine aufbrechen. Wir | |
halten an, verjagen sie, aber bis wir zurück in der Kabine und im | |
schleppenden Verkehr sind, hängen sie längst wieder drauf. Einer der Jungs | |
lacht über unsere kläglichen Versuche, [2][Frontex zu spielen]. Sein Lachen | |
klingt höhnisch und leer, es erinnert mich an Straßenkinder, wie innerlich | |
tot. Und ich bilde mir ein, er lache auch über unsere moralische | |
Hilflosigkeit. | |
Wer mit dem Lkw rund um Europa fährt, erlebt Grenzen. Ein perfides Regime | |
europäischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dessen Anblick Flug- und | |
Zugreisenden erspart bleibt. Und es ist unmöglich, keine eigene Rolle und | |
Schuld dabei einzunehmen. Wer verzweifelte Menschen am Wagen hängen hat, | |
muss sich dazu verhalten. Und wer nicht gerade großen Heldenmut und | |
Naivität besitzt, dem tut der nächste Blick in den Spiegel weh. | |
Wir begegnen auch der prügelnden Seite. Nahe der [3][kroatischen | |
EU-Außengrenze] hetzt uns jemand nachts Wachen auf den Hals. Als wir die | |
richtigen Pässe vorzeigen und niemanden dabei haben, entschuldigen sich die | |
Polizisten unterwürfig. In Marokko nahe der Atlantikküste hämmern mitten in | |
der Nacht Uniformierte an unsere Tür. Der Kommandeur erzählt später, sie | |
würden hier Fluchtboote aufhalten. Es sind absurde Jekyll-und-Hyde-Beamte, | |
vermeintlich nette Typen, die später Rücken mit Schlagstöcken traktieren. | |
Und wir? Der Security-Mann eines Supermarktes hilft: Er jagt die Teenager | |
ins Gebüsch und verschafft uns Vorsprung. Ein [4][Türsteher Europas]. | |
Vielleicht hätten wir den Kids zumindest ein Essen ausgeben sollen, | |
irgendeine Geste des Miteinanders. Aber erst zum Essen einladen, dann wie | |
Hunde verjagen, wenn sie den Wagen stürmen? Es kommt mir naiv und absurd | |
vor. Vielleicht werden unsere Enkel irgendwann ratlos fragen, warum wir all | |
das zugelassen haben. Ich werde [5][keine gute Antwort] haben. | |
Wir brettern ohne Halt bis zum Hafen und haben eine schöne Fahrt übers | |
Meer. Kürzlich dachte ich noch mal an den lachenden Jungen. Da schrieb mir | |
ein marokkanischer Freund, ein Kumpel sei beim Fluchtversuch gestorben. Er | |
hatte sich unter einen Lkw gehängt und fiel. | |
24 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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