# taz.de -- Solidarität in Gambia: Marx wären die Augen ausgefallen | |
> Auf fast allen Scores schneidet der westafrikanische Staat Gambia | |
> schlecht ab. Aber diese Ranglisten lassen viele Dinge aus. | |
Bild: Unterwegs in Gambia | |
Fürs Abendessen brauchen wir Chilis. Mein Gastgeber erntet sie spontan auf | |
einem Acker zwischen Erdnussplantagen und Paprikafeldern im gambischen | |
Hinterland. „Wem gehört das Feld?“, will ich wissen. „Einem Nachbarn.“ | |
„Müssen wir ihn nicht fragen?“ Er lacht. „Ach, hier kann man jederzeit e… | |
bisschen von Nachbarn nehmen.“ Es bleibt mir im Kopf, lange nach dem | |
Chilifeld. Ich arbeite für Kost und Logis bei einem gambischen Brüderpaar | |
in der Landwirtschaft. Wie in vielen Dörfern leben hier Familien mit teils | |
zehn Kindern und mit mehreren Ehefrauen. Das Leben ist einfach: Gekocht | |
wird über dem Feuer, gewaschen per Hand, viele der Lebensmittel bauen sie | |
im Dorf selbst an. Die Schulbesuche der Kinder sind teuer und kurz, die | |
Apotheke ist fast leer, die Welt für Frauen klein, und viele Männer trinken | |
stoisch den halben Tag lang Tee. | |
Auf fast allen Scores schneidet der arme [1][westafrikanische Staat Gambia] | |
schlecht ab. Aber diese Ranglisten sind nicht neutral. Sie lassen Dinge | |
aus, denen wir wenig Wert zusprechen: Solidarität, Großzügigkeit, Freizeit | |
oder soziale Fähigkeiten. Diese multiethnische Dorf-Community ist in all | |
dem so bemerkenswert, dass ich kaum fassen kann, dass wir denselben | |
Planeten bewohnen. Vieles gehört vielen. Familien, denen es gerade schlecht | |
geht, werden mitversorgt. Auf jedem Hof gibt es Wasser für Fremde und im | |
Zweifel einen Schlafplatz. Unser Gastgeber erzählt, zu Zeiten seines | |
Großvaters habe es Geldtransfers kaum gegeben. Man bekam Boden vom | |
Dorfältesten zugeteilt, bestellte gemeinsam die Reisfelder – und wenn der | |
Reis geerntet war, hatten alle ein halbes Jahr frei. Wäre [2][Marx] bis | |
Gambia gekommen, ihm wären die Augen ausgefallen. | |
Allerdings hat all das einen Preis. Was nicht vom Geld zusammengehalten | |
wird, geht über enge soziale Regeln. Den Frauen der Hof, den Männern der | |
öffentliche Raum. Jede:r muss sich einfügen, die Abhängigkeit ist groß. | |
Auf der Dorfstraße soll ich mit jeder Person Floskeln austauschen, in | |
dieser Outdoor-Gesellschaft zieht es sich endlos hin. Grüßen Kinder nicht, | |
dürfe man sie schlagen. Überhaupt berichten viele gleichmütig von | |
Prügelstrafen für alles Erdenkliche. Denn wer älter ist, hat recht. Der | |
Diskurs ist klar geregelt, selbst der erwachsene Sohn dürfe seiner Mutter | |
nicht widersprechen, sagt man mir. Ich finde es schnell erstickend und | |
autoritär. Es scheint mir auch nicht der günstigste Boden für Veränderung | |
oder Individualität. Traditionen sind hier unantastbar und oft höre ich die | |
Angst, sie inmitten des allseitigen Imperialismus zu verlieren. | |
Wir – die deutsche Gesellschaft und die gambische Dorfgesellschaft – sind | |
zwei der Extreme. Wie wenig beide Seiten wissen, welchen Preis sie zahlen. | |
2 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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