# taz.de -- Austausch an der Adria: Jedes Verstehen ist ein Gruppenerfolg | |
> Wer auf Reisen Menschen trifft und mit ihnen redet, stößt sprachlich | |
> mitunter an Grenzen. Aber schön ist es schon. Samuel Beckett hätte seine | |
> Freude. | |
Bild: Bucht von Kozarica, Mljet | |
Es ist ein schwüler Nachmittag an der Adria, der Wind ist zu wenig und der | |
Kaffee zu viel, denn meine Vermieterin ist an Demenz erkrankt und vergisst, | |
wie oft sie nachschenkt. Ich bin eingeladen auf ihrer mit Wein überrankten | |
Terrasse auf der kroatischen Insel Mljet. Die Frau ist in zweierlei | |
Hinsicht eigen im Massentourismus: Sie spricht keine Fremdsprache und sie | |
interessiert sich ernsthaft für ihre Gäste. | |
Wir ermitteln, dass es ein bisschen funktioniert, wenn sie Kroatisch | |
spricht und ich Russisch, eigentlich funktioniert es natürlich nicht, aber | |
da sitze ich schon bei ihr am Tisch. Die zweite Frau dort, ihre | |
Saisonkraft, ist eine in Bosnien lebende Serbin, halb Postjugoslawien in | |
einem Garten. Serbisch und Kroatisch, sagen sie, das sei bis auf ein paar | |
Worte dasselbe. | |
Es gibt auf Reisen mehr als Verstehen und Nichtverstehen. Reden in zwei | |
verwandten Sprachen, von denen jede Person am Tisch nur eine spricht, fühlt | |
sich an, als würden zwei Züge in gegensätzliche Richtungen aneinander | |
vorbeifahren. Man nimmt Schemen und Fetzen wahr, ein bisschen Wahrheit und | |
eine Kaskade von Irrtümern. Die jüngere Frau: „Mein Vater lebt in | |
Deutschland.“ Ich: „In welcher Stadt in Deutschland?“ „Berlin, Hamburg, | |
Düsseldorf, Stuttgart …“ „Nein, ich meine, wo lebt dein Vater?“ „Wie… | |
Vater? Mein Vater ist tot.“ Samuel Beckett hätte seine Freude gehabt. | |
Aber unser absurder Diskurs hat auch eine merkwürdige Poesie. Wir | |
wiederholen uns in Endlosschleife, langsam und betont wie Betrunkene. Wenn | |
nichts geht, lächeln wir und trinken mehr Kaffee. Jedes Verstehen ist ein | |
Gruppenerfolg. Denn auch das geht. Die ältere Kroatin entpuppt sich als | |
Kind der Insel, mit Tourismus zu etwas Wohlstand gekommen, ihre Tochter | |
oder Stieftochter lebt seit dem Studium in den USA. Die Serbin lebt | |
offenbar prekär, war nie im Auslandsurlaub und macht das hier, um ihre | |
Kinder in Bosnien zu versorgen. Wir sind aus drei verschiedenen Welten, so | |
viel verstehe ich. | |
Irgendwann stößt der Mann der Vermieterin dazu, er spricht perfektes | |
Englisch. Ich bin erleichtert. Er beginnt einen jovialen Touri-Smalltalk, | |
die beiden Frauen sind außen vor. Das Gespräch ist belanglos. Mit dem | |
Verstehen ist plötzlich jede Bedeutung verloren. Ich mache mich bald auf. | |
Vielleicht, denke ich, hat vorher nur das Rätseln eine Bedeutung | |
vorgegaukelt. | |
Ich erinnere mich an einen Satz der Alten, den ich nach zig Anläufen | |
entschlüsselt habe: Der alte Baum vorne im Garten ist vertrocknet, er war | |
immer da, und das mache sie traurig. Ich habe gelächelt, als ich verstand, | |
und sie lächelte, weil sie verstand, dass ich verstand. Ich glaube, der | |
Unterschied zu ihrem Mann war: Wir wollten einander wirklich verstehen. | |
27 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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