# taz.de -- Höfliche Anrede: Siez mich nicht so an | |
> Unsere Autorin wird immer öfter gesiezt, ohne es zu wollen. Ein | |
> kritischer Blick auf das Sie als verstecktes Abgrenzungssignal. | |
Bild: Klassische Außenseiterposition | |
Es gibt viele Wege, Menschen zu zeigen, dass sie nicht dazugehören. Siezen | |
ist einer davon. Siezen ist als [1][Ausgrenzungstool] so beliebt, weil sich | |
das „Sie“ als angeblicher Ausdruck von Respekt und Wertschätzung tarnt. Der | |
Hieb knallt dem Gegenüber nicht direkt vor den Kopf. Er trifft so von der | |
Seite: passiv-aggressiv. | |
Denn eine [2][formale Anrede] in einem informellen Rahmen schafft vor allem | |
eins: Distanz. Siezen ist hier eine Verweigerung von Verbindung. Es sagt: | |
„Du bist kein Teil der In-Group. Du bist nicht du. Du bist Sie.“ In einer | |
Welt, in der ich selbst von Ikea geduzt werde, will das schon was heißen. | |
Besonders auffällig ist das im Netz. Wer dich in den Kommentaren siezt, | |
will dir nichts Gutes. Sondern dir erklären, warum du keine Ahnung hast. | |
Von nichts! Auch die Online-Formulierung [3][„diese Dame“] funktioniert so: | |
Noch nie in der Geschichte des Internets hat jemand unter irgendwas, das | |
eine Frau geschrieben hat kommentiert: „Diese Dame hat Recht und ich habe | |
viel von dieser Dame gelernt.“ Die vornehme Bezeichnung „Dame“ wird ins | |
Spiel gebracht, um darauf hinzuweisen, dass dieser Text von einer Frau | |
geschrieben wurde. | |
Meist folgt auf „diese Dame“ etwas, das der Autorin die Kompetenz | |
abspricht. Ich selbst bin unter Duzenden aufgewachsen. In meiner Familie | |
haben sich alle geduzt. Als Kind und Jugendliche war ich „du“; auch unter | |
Kommiliton*innen und Freund*innen duzt man sich; dann das | |
Genossen-Du und das Kollegen-Du am Theater: Wir duzen junge Menschen und | |
solche, die uns nah sind. | |
## „Suchen Sie was?“ | |
Menschen, mit denen wir etwas teilen. Dass mir nun immer häufiger ein Sie | |
entgegengeschleudert wird, kann zwei Dinge bedeuten: Ich bin alt. Oder ich | |
bin eine Außenseiterin. Es ist wohl Option drei: Ich bin älter geworden und | |
werde deshalb in Räumen, die zu meinem gewohnten Umfeld gehören, als | |
Außenseiterin gesehen. | |
Verunsichernd bis schmerzhaft ist das an Orten, die entstanden sind, weil | |
Menschen sich zusammengeschlossen haben, weil sie im Alltag „anders“ | |
behandelt werden. An Orten also, in denen man sich gefunden hat, um | |
gemeinsam „anders“ zu sein – auf einer feministischen Party oder in | |
Schwarzen Räumen. | |
Nach einer Weile mal wieder in den Punkrock-Schuppen zu kommen, in dem man | |
viel Zeit verbracht hat und dort mit einem freundlich skeptischen „Suchen | |
Sie was?“ begrüßt werden, ist ein harter Burn. | |
Es gibt so viele Erzählungen darüber, dass Menschen im Alter konservativer | |
werden, und da draußen sind genug Leute, die darauf warten, dass ich | |
endlich aus meiner rebellischen Phase rauswachse. Da muss die eigene Szene | |
oder Community ja nicht mitspielen! | |
Ältere Leute in einem queeren Laden sind nicht automatisch die Eltern, die | |
irgendwer mitgebracht hat, sondern vielleicht einfach alte Queers. Wir alle | |
legen unsere Identität und unsere Marginalisierungserfahrungen nicht ab, | |
sobald wir vierzig sind. | |
Wir sind weiterhin auf Schutzräume angewiesen. Viele von uns hat das Leben | |
irgendwie eingeholt und der Alltag mit Lohnarbeit und Sorgearbeit lässt | |
vielen kaum Raum. Ich bin definitiv keines von den coolen Kids mehr. Aber | |
ich bin immer noch cool. Also siez mich nicht von der Seite an. | |
2 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Gegen-Armut-und-Ausgrenzung/!6040439 | |
[2] /Hoeflichkeitsformen-im-Hotelgewerbe/!6024949 | |
[3] /Tradwives--traditionelle-Frauen/!6000366 | |
## AUTOREN | |
Simone Dede Ayivi | |
## TAGS | |
Kolumne Diskurspogo | |
Höflichkeit | |
Diskriminierung | |
Social-Auswahl | |
Kolumne Diskurspogo | |
Asylpolitik | |
Schwer mehrfach normal | |
Kolumne Flimmern und Rauschen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kampf gegen Diskriminierung: Die Rückkehr der Mobbing-Culture | |
Die einen nennen es „Cancel Culture“, die anderen Entnormalisierung von | |
Ausgrenzung. Doch auf Jahre des Fortschritts folgt gerade ein Backlash. | |
EU-Migrationspolitik: Die Menschen, die am Wagen hängen | |
Unsere Kolumnistin wird an der marokkanischen Mittelmeerküste mit den | |
Realitäten der EU-Grenzpolitik konfrontiert. Und fühlt sich überfordert. | |
Umgang mit Verbraucher*innen: Warum duzen die mich? | |
Konzerne jubeln uns mit großer Geste Preiserhöhungen unter. Oder sie | |
überfordern uns mit Self-Service-Touchscreens. Und wir machen auch noch | |
mit. | |
Siezen und Duzen im Journalismus: Letzte Bastion deutscher Sprache | |
Es duzt auf einmal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Geht das? Die | |
journalistische Duz- und Siez-Haltung ist kompliziert. Und sie ändert sich. | |
was fehlt ...: ... Korrekte Anrede | |
"Jawohl mein Führer" - so antwortete ein Angestellter auf Anweisungen des | |
Vorgesetzten und erhielt die Kündigung. Zu Unrecht, meint nun das | |
Landesarbeitsgericht in Mainz. |