| # taz.de -- Die These: Gute Pflege für alle, jetzt! | |
| > Der Staat muss endlich einen Systemwechsel in der Pflege anstoßen. | |
| > Rekommunalisierung und Bürger:innenversicherung wären ein guter | |
| > Anfang. | |
| Bild: „Gesundheit ohne Profite“: Demonstrantin vor dem Bundesministerium f�… | |
| Dass meine Eltern einen wichtigen Beruf ausüben, ahnte ich schon als Kind, | |
| obwohl zu dieser Zeit noch niemand von „Systemrelevanz“ sprach. Beide | |
| arbeiteten als Pflegekräfte in einem Seniorenheim, das wie unser zweites | |
| Zuhause war. Damals dachte ich: Wenn ich alt bin, möchte ich auch hier | |
| leben, in der schönsten Wohngemeinschaft der Welt. Heute, viele Jahre | |
| später, arbeite ich als Journalist und weiß: Die Pflege ist in der Krise. | |
| Ich spreche mit Pflegekräften, die am Druck auf der Arbeit zerbrechen und | |
| täglich das Patient:innenwohl gefährden müssen, weil sie [1][über ihre | |
| Belastungsgrenzen] hinausgehen. Mit Klinikleitern, die gezwungen sind, | |
| überall zu sparen. Mit Pflegedienstleiterinnen, die kein Personal finden. | |
| Gleichzeitig recherchiere ich, wie Klinikketten als „Anlagetipps der Woche“ | |
| gepriesen werden, Milliardenumsätze verbuchen und Konkurrenten übernehmen. | |
| Die Unternehmensberatung McKinsey bezeichnet Kliniken als [2][„einmalige | |
| Gelegenheit“ für Investitionen]. Im Schnitt könne man damit eine Rendite | |
| von 13 bis 15 Prozent erzielen. Der Gesundheitssektor übertreffe damit alle | |
| anderen Bereiche, so McKinsey. | |
| Ich begann mir die Unternehmenszahlen der drei größten privaten | |
| Klinikbetreiber anzusehen und war erstaunt: Der Konzern Fresenius Helios | |
| setzt jährlich 5,97 Milliarden Euro um und damit mehr als die | |
| Fastfood-Kette McDonald’s in Deutschland. Die Asklepios Kliniken | |
| erwirtschaften pro Jahr 3,54 Milliarden Euro und liegen damit knapp vor der | |
| Parfümeriekette Douglas oder der Microsoft Deutschland GmbH. Die | |
| Sana-Kliniken übertreffen mit ihren 2,7 Milliarden Euro Jahresumsatz sogar | |
| den Textilhändler C & A und den Versandriesen Hermes. In keiner Branche gab | |
| es in den vergangenen Jahren mehr Firmenzukäufe als im Gesundheitssektor, | |
| das belegen [3][Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung]. | |
| Das zeigt sich auch in der Altenpflege, in der jährlich rund 50 Milliarden | |
| Euro umgesetzt werden – bis zum Jahr 2030 dürfte der Umsatz der Branche | |
| laut Prognosen auf 85 Milliarden Euro steigen. Auch deshalb haben | |
| internationale Immobilienkonzerne oder Hedgefonds die Pflege als | |
| Spekulationsobjekt entdeckt. Der börsennotierte Konzern Deutsche Wohnen | |
| etwa hat in den vergangenen Jahren 30 Pflegeeinrichtungen für insgesamt 680 | |
| Millionen Euro gekauft und 120 Millionen Euro in Seniorenheime investiert. | |
| ## Pflegekonzern Alloheim ist Spekulationsobjekt | |
| Gleichzeitig wurde der private [4][Pflegekonzern Alloheim von Investoren | |
| übernommen]. Seitdem ist das Unternehmen Spekulationsobjekt. Erst gehörten | |
| Alloheim im Jahr 2008 nur 13 Altenheime an, dann kaufte der Investor | |
| StarCapital die Firma. Fünf Jahre später verkaufte der Londoner Investor | |
| die Pflegekette mit dann 49 Häusern für 180 Millionen Euro an die | |
| US-amerikanische Beteiligungsgesellschaft Carlyle. Im Jahr 2017 verkauften | |
| die New Yorker Anleger Alloheim wiederum für mehr als 1 Milliarde Euro an | |
| einen schwedischen Investor. | |
| Was bei Alloheim geschieht, ist längst kein Einzelfall. Es zeigt: | |
| Gesundheit ist ein Geschäft, das zulasten der Pflegekräfte und | |
| Patient:innen geht. Und das ist grundfalsch, weil sich nur dann etwas | |
| an den Arbeitsbedingungen und dem Personalmangel ändert, wenn sich das | |
| System am Menschen und nicht an Profiten orientiert. | |
| Wenn wir das Klatschen für die Coronaheld:innen und die Danksagungen | |
| an die Systemrelevanten ernst meinen, müssen wir handeln. Dieser Wahlkampf | |
| muss einer für die Pflege sein! Es reicht nicht aus, wie bereits geschehen, | |
| Pflegemindestlöhne zu erhöhen oder eine Tarifbindung in Pflegeheimen zu | |
| erzwingen. Es braucht jetzt eine radikale Reform. | |
| Anfangen sollte ein solcher Systemwechsel mit einem Privatisierungsstopp. | |
| Viele Krankenhäuser haben Schulden, viele Pflegeheime müssen zulasten der | |
| Angestellten und der Bewohner:innen sparen. Selbst in der Coronakrise | |
| mussten Kliniken Insolvenz anmelden oder konnten die Gehälter der | |
| Beschäftigten nur auszahlen, weil die Regierung Sondergelder zur Verfügung | |
| stellte. Dieselbe Regierung, die dafür verantwortlich ist, dass in den | |
| vergangenen 20 Jahren rund 1.000 Kliniken schließen mussten – vorwiegend | |
| städtische, kommunale und gemeinnützige. Meist nicht, weil eine oft | |
| behauptete Überversorgung herrscht oder die Krankenhäuser schlecht | |
| wirtschaften, sondern weil private Betreiber ihnen Konkurrenz machen. | |
| ## Kliniken sollten rekommunalisiert werden | |
| Statt Kliniken weiter zu privatisieren, sollten wir sie rekommunalisieren. | |
| Die Bundespolitik könnte einen Fonds errichten, der Rekommunalisierungen | |
| finanziert und unterstützt, um das Gesundheitssystem langfristig wieder | |
| mehr in staatliche Verantwortung zu bringen. Gleiches gilt für Pflegeheime | |
| und mobile Pflegedienste. Auch sie wurden in den vergangenen 20 Jahren | |
| verstärkt privatisiert. Der Staat sollte eine Pflegeoffensive starten und | |
| damit die wenigen noch bestehenden kommunalen oder gemeinnützigen | |
| Seniorenheime erhalten und weitere Heime bauen und übernehmen. | |
| Gleichzeitig muss rückgängig gemacht werden, was mit dazu beigetragen hat, | |
| dass sich das Gesundheitssystem in Deutschland an Gewinnen orientiert. Es | |
| braucht die zeitnahe Abschaffung der Fallpauschalen, damit Behandlungen | |
| wieder nach dem tatsächlichen Bedarf und nicht mit pauschalen Beträgen | |
| vergütet werden. | |
| Patient:innen sollen die Behandlung erhalten, die sie wirklich | |
| benötigen, und nicht diejenige, die gut in den Krankenhausplan passt und | |
| die noch dringend gemacht werden muss, um Effizienzziele zu erreichen. Sie | |
| sollen dann entlassen werden, wenn es medizinisch sinnvoll ist, und nicht | |
| dann, wenn es sich für die Klinik finanziell rechnet. Pflegende, | |
| Ärzt:innen, Therapeut:innen und Hilfskräfte sollten nach dem | |
| tatsächlichen Bedarf eingestellt werden, den es auf den Stationen gibt, | |
| nach verbindlichen Personalschlüsseln und [5][nicht nach finanzieller Lage] | |
| der Häuser. Das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip muss wieder | |
| eingeführt werden, sodass die bei Behandlungen und Operationen tatsächlich | |
| anfallenden Ausgaben von den Krankenkassen erstattet werden. | |
| Ein bundesweiter, verbindlicher Profitdeckel für die Pflege und ein Ende | |
| des Gewinnstrebens mit unserer Gesundheit ist dringend nötig. Die Politik | |
| könnte ein Instrument schaffen, das Profite begrenzt und private Betreiber | |
| dazu zwingt, Gewinne zu investieren – und zwar in die bessere Bezahlung der | |
| Angestellten und in angemessene Arbeitsbedingungen. Ein solidarisches | |
| Gesundheitswesen ist möglich – finanziert durch eine | |
| Bürger:innenversicherung, in die endlich alle einbezahlen. | |
| Nur dann verhindern wir, dass unser Klatschen wie Hohn klingt und sich die | |
| Pflegekrise verschärft. Es liegt an uns allen, Veränderungen lautstark | |
| einzufordern. Denn wer jetzt noch nicht vom Pflegenotstand betroffen ist, | |
| wird es in Zukunft sein. Gute Pflege brauchen wir alle, früher oder später. | |
| 22 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Protest-der-Pflegebranche-in-Berlin/!5765930 | |
| [2] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-gepflegter-profit | |
| [3] https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-gesundheitsbranche-im-visier-445… | |
| [4] /Corona-im-Altenheim/!5683175 | |
| [5] /Personalbemessung-in-der-Langzeitpflege/!5666724 | |
| ## AUTOREN | |
| David Gutensohn | |
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