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# taz.de -- Tarifkampf in der Pflege: Countdown abgelaufen
> Im Tarifkampf in der Pflege läuft das 100-Tage-Ultimatum für Charité und
> Vivantes ab. Ab Montag soll für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt
> werden.
Bild: Unter dem Motto „Pflege braucht Luft“ fand bereits im Mai eine Demo s…
Silvia Habekost, 59, sitzt in einem Café in Berlin-Mitte und stützt ihren
verbundenen Arm auf einem Kissen ab. Normalerweise ist sie es, die andere
umsorgt – nun ist ihr Arm gebrochen und Habekost braucht Hilfe. „Nicht
alles kann man mit nur einer Hand machen“, sagt sie und nutzt ihre freie
Hand, um mit der Gabel ein Quarkteilchen zu essen. Habekost ist
Krankenpflegerin in der Anästhesie und setzt sich in der [1][Berliner
Krankenhausbewegung] für bessere Arbeitsbedingungen und fairen Lohn ein.
Sie demonstriert, sammelt Unterschriften von Kolleg:innen und wird bald
streiken.
100 Tage Zeit hatten Vivantes, Charité und ihre Tochtergesellschaften, um
auf die Forderungen ihrer Mitarbeiter:innen einzugehen. Pflegekräfte,
Reinigungspersonal, Hebammen und andere
Krankenhausmitarbeiter:innen forderten einen „Tarifvertrag
Entlastung“ und „TVöD für alle“. Ersteres soll für einen angemessenen
Personalschlüssel im Krankenhaus sorgen, also genügend Personal für
Patient:innen. „TVöD für alle“ soll dafür sorgen, dass die gleiche Arbeit
für alle gleich vergütet wird. Momentan macht es nämlich einen Unterschied
von bis zu 900 Euro, wie die Bewegung vorrechnet – je nachdem, ob das
Personal bei einer Tochtergesellschaft oder beim Krankenhaus selbst
angestellt ist.
Der Kern der Forderungen des „Tarifvertrags Entlastung“ ist eine
Personal-Patient:innen-Quote für die stationären Bereiche und Personal pro
Arbeitsplatz für alle anderen Bereiche. Wird das missachtet, werden
Belastungspunkte generiert, die mit Freischichten ausgeglichen werden. „Bei
den derzeit geltenden Personaluntergrenzen werden Leitungen mitgezählt, die
nicht mit am Patienten arbeiten. Mit unserem Tarifvertrag soll eine
Entlastung spürbar ankommen“, sagt Habekost.
Die Besonderheit der Berliner Krankenhausbewegung ist das gemeinsame
Agieren: Direkt Angestellte von Vivantes und Charité treten gemeinsam mit
Angestellten der Tochterunternehmen für ihre Anliegen ein. Laut Verdi sind
es über 9.000 Angestellte, die von den Forderungen profitieren würden. „Wir
gehen davon aus, dass die Streikbereitschaft so hoch sein wird, dass es
sicherlich zu Bettenschließungen und Bereichsschließungen kommen kann“,
sagt Meike Jäger von Verdi.
## Versorgung von Patient:innen
Zwar gab es in der Vergangenheit Streiks an Krankenhäusern wie 2018,
[2][als von der Charité ausgehend auch andere Krankenhäuser deutschlandweit
feste Personalschlüssel durchsetzten]. Doch ein Streik im Krankenhaus ist
kompliziert. „Das Streikrecht ist schwierig umzusetzen, wenn die Stationen
belegt sind. Dann können Streikwillige sich nicht direkt am Streik
beteiligen, weil die Patienten ja trotzdem versorgt werden müssen“, sagt
Jäger.
Am 6. August ging die Gewerkschaft Verdi, die die Berliner
Krankenhausbewegung unterstützt, mit der Geschäftsführung der Charité in
Verhandlungen. Vivantes ist bislang zu Verhandlungen nicht bereit.
„Vivantes ist einfach personalfeindlich. Die sehen uns als ihre Feinde und
nicht als Kapital, das sie brauchen“, sagt Habekost.
Auch bei Labor Berlin, einer Tochtergesellschaft von Charité und Vivantes,
wird nicht verhandelt. Zwar dementierte bereits [3][vor zwei Wochen die
Geschäftsführung gegenüber der taz], dass „keinerlei persönliche
Konsequenzen“ drohen, wenn eine Petition zur Aufnahme von
Tarifverhandlungen unterzeichnet würde.
## Demokratisches Moment
Doch der taz liegt eine interne Rundmail vor, die wohl vor einem Streik
abschrecken soll: „Bei Labor Berlin oder Labor Berlin Services (nachfolgend
zusammen „Labor Berlin“) angestellte Mitarbeitende sind während ihrer
Arbeitszeit bei Labor Berlin nicht berechtigt, an Streiks oder sonstigen
Arbeitskampfmaßnahmen teilzunehmen, die von ver.di für Mitarbeitende der
Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH, andere
Vivantes-Tochtergesellschaften oder/und die Charité ausgerufenen werden. Im
Fall von Verstößen, das heißt unzulässigen Streikteilnahmen, sind
erhebliche arbeitsrechtliche Konsequenzen möglich.“
Es ist eine offene Tarifverhandlung, Delegierte werden mit einbezogen. „Die
gesamte Tarifkommission nimmt an den Tarifverhandlungen teil“, sagt
Habekost. Sie erzählt, dass sie gemeinsam mit 200 anderen Menschen im
Innenhof des Verdi-Gebäudes stand, während die Geschäftsführung der Charité
mit Verdi verhandelte. „Das bringt Power rein, es ist ein demokratisches
Konzept, wenn du mitbekommst, was der Arbeitgeber sagt und das
rückkoppelst: Sollen wir das so annehmen? Sind wir bereit, ein paar Tage
länger zu streiken?“
Die Berliner Krankenhausbewegung forderte eine 1:1-Betreuung von
Auszubildenden, die laut Meike Jäger von Verdi als „unrealistisch“ seitens
der Charité-Vorstands abgetan wurde. Außerdem wurde auf den
Belastungsausgleich nicht eingegangen. Letztendlich wurden die
Tarifverhandlungen abgebrochen, weil die Charité auf solche essentiellen
Forderungen nicht einging.
## Gefühl der Ohnmacht
Dabei sind die Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung nicht neu: Die
Petition zum „Tarifvertrag Entlastung“ und „TVöD für alle“ überreich…
Bewegung mit 8.397 Unterschriften am 12. Mai dem Berliner Senat. 1.000
Menschen versammelten sich dafür mit Abstand und Maske. [4][Auf Youtube ist
ein Video der Veranstaltung] rund um die Petitionsübergabe zu sehen. Clara
Sommer, Auszubildende als Krankenpflegerin, spricht dort in ein Mikrofon:
„Ich war in meinem ersten Praxiseinsatz auf einer Station – wir hatten
circa 40 Patienten zu versorgen. Ich habe 16 PKMS-Patienten alleine
gewaschen. Alleine versorgt.“
PKMS sind „Pflegekomplexmaßnahmen“ für Patient:innen, die „hochaufwendi…
Leistungen“ beanspruchen. Dafür gibt es mehr Geld, aber die
Pfleger:innen brauchen mehr Zeit für die Dokumentation. [5][Mittlerweile
wurde diese Maßnahme wieder abgeschafft], doch daran zeigt sich, womit sich
das Pflegepersonal in den Krankenhäusern konfrontiert sieht: Die Gesundheit
ist vom Finanziellen kaum getrennt. Klinikträger wie Vivantes und Charité
müssen Profite erwirtschaften, dafür sparen sie oft am Personal. [6][Laut
der Hans-Böckler-Stiftung fehlten 2018 deutschlandweit] 100.000 zusätzliche
Pflegefachkräfte. Dazu kommt das Krankenhauspersonal, das nicht in der
Pflege arbeitet.
„Heute hängt mir noch das Gefühl nach: Ich habe Menschen versorgt wie in
einer Legebatterie. Ich schäme mich dafür“, sagt Sommer dann noch. Dieses
Gefühl der Ohnmacht, die Belastungsgrenze, die Hebammen,
Therapeut:innen und Pfleger:innen im Krankenhaus jeden Tag aufs Neue
austarieren müssen – darüber wurde gerade während der Coronapandemie viel
geschrieben und diskutiert. Dieser Zustand wirkt oft wie ein Schicksal, dem
sich das Personal hingeben muss, solange die Politik nichts ändert.
## Mobilisierung zum Streik
Die Krankenpflegerin Habekost stört das. Sie sieht sich als Akteurin, die
gegen ihre Arbeitsbedingungen ankämpft. „Wenn Vivantes und Charité
bestreikt werden, das sind immerhin 40 Prozent der Betten in Berlin, das
wird haarig werden. Dann muss es im Grunde laufen wie in der Pandemie –
dass es funktioniert, wissen wir ja. Darauf werden wir uns berufen. Das übt
Druck aus, das ist der Druck, den wir brauchen.“
Derweil ist die Stimmung auf vielen Krankenhausstationen schlecht. „Auf uns
wird keine Rücksicht genommen. Ganz viele werden krank, gehen aus dem Beruf
raus“, sagt Habekost. „Wenn sie darauf jetzt nicht eingehen, dann sagen
schon ganz viele: Dann war es das.“
Laut Verdi sind die Mitgliedsbeiträge durch die Berliner
Krankenhausgesellschaft aber „enorm gestiegen“. Meike Jäger spricht von
einem vierstelligen Bereich. Und auch Habekost geht davon aus, dass die
Berliner Krankenhausbewegung sich durchsetzen kann. Sie nennt als Vorbild
einen Streik am Uniklinikum Saarland, bei dem ganze Stationen leer sein
mussten, weil alle im Team streiken wollten. „Wir wollen das auch
durchsetzen und dafür sorgen, dass in einer Notdienstvereinbarung
Minimalbesetzungen festgelegt werden. Sonst ist das kein richtiger Streik,
sondern ganz normale Arbeit.“ Beim letzten Streik, den Habekost miterlebte,
hatte die Notdienstvereinbarung einen besseren Personalschlüssel als Tage,
an denen regulär gearbeitet wurde. „Das hat Verdi unterschrieben und war
das Papier nicht wert, auf dem es stand. Das müssen wir diesmal besser
machen“, sagt Habekost.
„Charité und Vivantes sagen, dass sie 600 Betten zumachen müssen, wenn sie
unsere Forderungen akzeptieren.“ Für Habekost ist das eine Erpressung, wie
sie jeden Tag passiert, „dass wir unter diesen Bedingungen arbeiten, wie
wir es tun. Aber wir lassen uns nicht mehr erpressen.“ Auf der Website der
Berliner Krankenhausbewegung steht ein Countdown, der bis zum Ablauf des
100-Tage-Ultimatiums runterzählt. Als Habekost im Café sitzt, zeigt er 12
Tage und 7 Stunden an.
22 Aug 2021
## LINKS
[1] https://berliner-krankenhausbewegung.de/
[2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/deutschland-pflegekraefte-in-…
[3] /Tarifkampf-der-Krankenhausbeschaeftigten/!5786616
[4] https://www.youtube.com/watch?v=OYAcjd7owkw&t=77s
[5] https://www.dimdi.de/dynamic/de/das-dimdi/aktuelles/meldung/ops-version-202…
[6] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-studie-in-krankenhaeuser…
## AUTOREN
Nicole Opitz
## TAGS
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