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# taz.de -- Der Numerus clausus muss weg: Auslese der Besten? Selten so gelacht
> Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland ist sehr hoch. Das fängt in
> den Schulen an – und zieht sich dank NC bis in die Universitäten.
Bild: Nur die Besten der Besten? Nicht nur die Abitur-Note sollte für die Ausw…
Deutschland ist das Land der Bildungsungerechtigkeit. Wer aus einer
Arbeiterfamilie stammt, schafft es kaum aufs Gymnasium, schafft es kaum an
die Uni, schafft es kaum in einen tollen Job. Ähnliches gilt für Kinder mit
Migrationshintergrund. Schlimm genug, doch damit hört die Ungleichheit bei
den Bildungschancen längst nicht auf – an den Unis kommen neue
Ungerechtigkeiten hinzu.
Dafür sorgt der Numerus clausus, der nur Schulabgänger mit Bestnoten zum
Studium zulässt. Und damit einen Großteil faktisch ausschließt – trotz des
Versprechens im Grundgesetz auf freie Berufswahl und Gleichbehandlung.
Nirgendwo kann man das besser beobachten als bei den Medizinern. Bei keinem
Studium ist die Zulassung ungerechter, in keinem Beruf bleiben weiße
Akademikerkinder so unter sich wie bei Ärzten und Apothekern.
Kommende Woche entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die derzeitige
Bestenauslese beim Medizinstudium und anderen beliebten Fächern wie Jura
oder Psychologie. Und die verstößt ganz offensichtlich gegen das
Grundgesetz. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen forderte die Richter in
Karlsruhe bereits zweimal auf, endlich für Klarheit zu sorgen.
Seit Jahrzehnten klagen junge Leute, die gern Urologen, Kardiologen oder
Hausärzte werden wollten, gegen die exorbitanten Zulassungshürden. Lange
stach bei Juristen aber folgendes Argument: Solange es für alle Bewerber
die Möglichkeit gibt, irgendwann über die Wartezeitregelung einen
Studienplatz zu bekommen, ist auch eine Zulassungsbeschränkung
gesetzeskonform.
Mittlerweile beträgt die Wartezeit für das Medizinstudium aber wahnwitzige
14 Semester. Stell dir vor: Du bewirbst dich im Juni für Humanmedizin in
Marburg und bekommst eine Zusage für das Wintersemester 2024/25. Eben mal
sieben Jahre überbrücken! Dann sechs Jahre Studium plus sechs Jahre
Facharzt. Macht summasummarum 19 Jahre Ausbildung; erstes Arztgehalt mit
37. Das muss man sich erst mal leisten können.
## Keine Chance ohne Top-Abi
Unter solchen Bedingungen ist die Wartezeitregelung eine verklausulierte
Absage, das Recht auf die freie Berufswahl ein leeres Versprechen. So
sollten die Verfassungsrichter argumentieren. Alles andere verweigert die
Realität. Und die ist bitter für alle, die Medizin studieren möchten: Ohne
Top-Abi hat man keine Chance. In 14 Bundesländern braucht man sogar eine
1.0, um einen der bundesweit 9.176 Medizinstudienplätze sicher zu haben.
Das ist ungerecht, weil ein Teil der Bewerber nur deshalb ausgesiebt wird,
weil er oder sie etwa in Sport oder Kunst unbegabt ist.
Eine gute Gynäkologin macht aber nicht aus, dass sie in der Schulzeit
überall nach Bestleistungen strebte. Zwar dürfen die Unis einen Großteil
ihrer Medizinstudenten (60 Prozent) selbst auswählen und dabei auch andere
Kriterien wie soziale Kompetenzen oder praktische Erfahrungen
berücksichtigen. Jede Hochschule hat da ihr eigenes Modell. Aber: Die
Abi-Note ist bei der Auswahl der Bewerber das Hauptkriterium – und soll es
auch bleiben. Darauf haben sich Bund und Länder erst diesen Frühling wieder
verständigt.
Was aber noch stärker gegen den Numerus clausus – oder kurz NC – als
Auswahlmethode spricht, sind die unterschiedlichen Abiturstandards in
Deutschland. Allen ist klar, dass ein 1,0 in Thüringen nicht dem
Leistungsstand eines 1,0 in Bayern entspricht. Oder anders formuliert: Wer
in Erfurt zur Schule geht, hat bessere Chancen auf einen Einserschnitt als
in München, Hamburg oder Berlin. Dieser Umstand findet aber bei der
Studienplatzvergabe keine Berücksichtigung.
Bisher haben die Bundesländer wenig Tatendrang an den Tag gelegt, ihre
Hoheit aufzugeben und Abiturleistungen ernsthaft vergleichbar zu machen.
Zugleich bleibt der NC das alles entscheidende Kriterium für die
Studienplatzvergabe. Und das verzerrt nicht nur den Wettbewerb bei
Medizinern: 42 Prozent der Studiengänge in Deutschland unterliegen einer
Zulassungsbeschränkung.
Das Bundesverfassungsgericht muss den Numerus clausus also endlich als
verfassungswidrig einstufen und der Politik auftragen, eine neue Regelung
zu finden. Und dafür gibt es nur zwei sinnvolle Lösungen: die Studienplätze
massiv ausbauen – oder an allen Unis einheitliche Aufnahmeprüfungen
einführen.
## Die Alternative: Verbindlicher Studierfähigkeitstest
Ersteres wäre charmant, weil es den Hausärztemangel auf dem Land beheben
könnte, den künftig die Landarztquote lindern soll – 10 Prozent ihrer
Studienplätze dürfen die Unis dafür reservieren. Das Problem ist aber: Es
gibt für das Medizinstudium derzeit rund fünfmal so viele Bewerber wie
Plätze. Selbst bei einer Verdopplung der Kapazitäten käme weiterhin nur die
Hälfte zum Zuge.
Um das Auswahlverfahren gerecht zu gestalten, brauchen die Unis ein
gänzlich neues Modell – eines ohne NC und Abiturnoten. Am besten einen
verbindlichen Studierfähigkeitstest, der an allen Unis gilt. Er würde
besser darüber Aufschluss geben, wer für das Medizinstudium geeignet ist,
als eine wenig aussagekräftige Abiturnote. Und die Umstellung wäre leicht
zu schaffen: Den Medizinertest gibt es schon, an 23 deutschen Unis kann man
den Test für Medizinische Studiengänge (TMS) freiwillig machen.
Die Entscheidung würde politischen Mut erfordern, denn eine verbindliche
Eignungsprüfung an den Unis würde das Abitur als zentralen Leistungsmaßstab
entwerten und den Bildungsföderalismus infrage stellen. Ein Mut, der sich
lohnen würde. Die Vergabe der Studienplätze würde gerechter. Die Schulen
würden profitieren, wenn das rigide Wettbewerbs- und Leistungsdenken
minimiert würde. Und nicht zuletzt käme dieser Mut jenen zugute, die unser
jetziges Bildungssystem schon früh als Verlierer abstempelt.
18 Dec 2017
## AUTOREN
Ralf Pauli
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