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# taz.de -- Abitur soll vergleichbar werden: Fucking Föderalismus
> Eine Abi-Aufgabe, zwei Bundesländer. In dem einen haben Schüler*innen
> länger Zeit. Die Kultusminister wollen die Abschlussprüfungen
> vereinheitlichen.
Bild: Ganz schön schwer war das Abi in diesem Jahr, fanden Schüler*innen in B…
Berlin taz | Den baden-württembergischen Abiturienten reichte es nach der
Englischklausur. Viel zu schwer sei der zu interpretierende Prosatext
gewesen, war die einhellige Auffassung Zehntausender Schüler, die
monatelang an Sachtexten geübt hatten. [1][Eine Petition „Englisch Abitur
2018 Baden-Württemberg unfair!“] haben seit April 36.000 Schülerinnen und
Schüler unterschrieben.
Das baden-württembergische Kultusministerin wies die Schüler darauf hin,
dass Abiturienten in Mecklenburg-Vorpommern dieselbe Aufgabe zu bewältigen
gehabt hätten. Auf Nachfrage stellte sich heraus: Im Norden hatten sie eine
halbe Stunde länger Zeit und durften zweisprachige Wörterbücher benutzen.
Seither gibt es noch zwei weitere Petitionen, eine fordert den Rücktritt
der Kultusministerin.
Zwei Bundesländer, ein Abitur – die Schulabschlüsse und die
Voraussetzungen, diese zu erlangen, sind im föderalen Deutschland bis heute
alles andere als vergleichbar. Das ist vor allem dann problematisch, wenn
sich Schüler mit ihrem Zeugnis auf Numerus-clausus-Studiengänge bewerben.
Für die Zulassung zählt nur die Abiturnote – egal wie und wo sie erworben
wurde.
Schon 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zur
Studienplatzvergabe für Medizin ein „länderübergreifendes
Vergleichbarkeitsdefizit der Abiturnoten“ gerügt und die Länder
aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Gegen das föderale Wirrwarr regt sich
nun vermehrt Widerspruch.
Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, bis 2021 einen
Nationalen Bildungsrat einzusetzen, der „Vorschläge für mehr Transparenz,
Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen“ vorlegen soll. Die neue
Bundesbildungsministerin, Anja Karliczek (CDU), machte Anfang Mai schon mal
einen Aufschlag. „Abiturienten erwarten zu Recht, dass ihre Reifezeugnisse
bundesweit den gleichen Wert haben“, schrieb sie im [2][Blog des
Bildungsjournalisten Jan-Martin Wiarda], und versandte gleichzeitig einen
Vorschlag, wie sie sich den Rat vorstellt: als ein Gremium aus Experten,
Praktikern und Politikern aus Bund und Ländern, das Perspektiven jenseits
eingefahrener Wege aufzeigt.
## Die Länder sollen entmachtet werden
Der Clou von Karliczeks Idee: Die Länder mit ihren jeweiligen
Partikularinteressen könnten in ihrem Bildungsrat von den anderen
Mitgliedern auch mal überstimmt werden. Im Klartext: Der Bund will die
Kultusministerien teilweise entmachten. Karliczek weiß die Eltern hinter
sich: Laut einer Befragung, die von den Unionsfraktionen in Auftrag gegeben
wurde, wünschen sich zwei Drittel, dass der Bund mehr Einfluss auf die
Schulpolitik nimmt.
Die Länder reagierten auf Karliczeks Vorstoß umgehend und scharf. „Kein
guter Auftakt“, ließ der Hamburger Bildungssenator Thies Rabe (SPD), der
die Runde der SPD-, Grünen- und Linken-Bildungsminister koordiniert,
wissen. Der taz sagte Rabe, die Stimmenverteilung müsse die politische
Verantwortung und die finanzielle Beteiligung aller Seiten berücksichtigen.
Heißt: „Die Länder zahlen über 90 Prozent der Schulkosten und stehen allein
für die Schulpolitik vor dem Wähler gerade. Deshalb müssen die Länder
entsprechend ihrer Verantwortung gegenüber dem Bund eine sehr deutliche
Stimmenmehrheit haben.“
Auch beim turnusmäßigen Präsidenten der Kultusministerkonferenz (KMK),
Helmut Holter, schrillten die Alarmglocken: „Wir wollen nicht, dass der KMK
nur noch die Rolle des Ausputzers zufällt. Es geht darum, gemeinsam
voranzukommen“, sagt er der taz.
## Bildungsföderalismus muss reformiert werden
Karliczeks Offensive setzt die Länder unter zusätzlichen Handlungsdruck.
Nun also ein Nationaler Bildungsrat, der „Empfehlungen“ abgeben soll. Die
16 Bundesländer, in denen seit 70 Jahren jeweils ein eigenständiges
Ministerium alle schulischen Dinge regelt, müssen nun in kurzer Frist
beweisen, dass sie es schaffen, sich tatsächlich auf verbindliche Standards
zu einigen, und zwar quer über Länder- und Parteigrenzen hinweg. Das dafür
zuständige Gremium, die KMK, wird in dieser Hinsicht eher belächelt: müssen
doch alle Beschlüsse einstimmig getroffen werden. Man einigt sich also auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Drei pensionierte Staatssekretäre, zwei mit SPD und einer mit
CDU-Parteibuch, die in den Amtsstuben einst selbst Schulpolitik
mitgestalteten, hatten sich bereits im Januar per Brief an die
Ministerpräsident*innen gewandt und gefordert, die KMK zu reformieren und
die „Defizite des Föderalismus“ durch einen Bildungsstaatsvertrag zu
beheben. Nach Vorstellung von Burkhard Jungkamp (SPD), Michael Voges (SPD)
und Josef Lange (CDU) soll dieser Vertrag verbindliche bundesweite
Regelungen schaffen: vom Beginn der Schulpflicht, über einen einheitlichen
Übergang nach der Grundschule bis zu einem Zentralabitur.
Die Kultusminister griffen die Anregung auf: Auf der KMK-Sitzung am 15.
März wurde die Einrichtung einer Arbeitsgruppe beschlossen. Diese soll zum
einen Themen vorschlagen, für die man Vereinbarungen schließen könnte, und
die Option für einen Staatsvertrag prüfen. Zum anderen soll die Gruppe der
Amtschefs ein Konzept für den Nationalen Bildungsrat erarbeiten.
„Spätestens vor den Herbstferien, vielleicht sogar schon zur Sommerpause,
soll ein Länderkonzept vorliegen“, sagte Rabe der taz.
## Der neue Bildungsrat soll nicht zu viel Macht haben
Einig sind sich die Länder, dass der Bildungsrat nicht zu mächtig sein
darf. „Wir sind uns in der KMK darüber einig, dass der Bildungsrat
ausschließlich Empfehlungen geben kann. Entscheidungen werden weiterhin im
Bund – wenn es um wissenschaftliche Einrichtungen, die der Bund finanziert,
geht, oder in den Ländern – wenn es um Schulen geht – gefällt“, sagt
Holter.
Parallel setzt der Hamburger Staatsrat Rainer Schulz gerade einen Entwurf
für einen Staatsvertrag auf. Ziel eines solchen ist unter anderem die
Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen einschließlich des Abiturs. Für
das Abitur gibt es bereits einen gemeinsamen Aufgabentopf, aus dem die
Länder sich bedienen können. Aber wie das aktuelle Beispiel aus
Baden-Württemberg zeigt, haben die Schüler davon wenig. „Wir wollen bei der
Vergleichbarkeit des Abiturs weiterkommen“, meint Schulz’ Vorgesetzter Rabe
daher. „Die Aufgaben zum Abitur sollen weiter standardisiert werden und es
muss einheitlichere Regeln für die Zulassung geben.“
## Bundesbildungsministerin im Juni zu Besuch bei der KMK
Am 14. und 15. Juni treffen sich die Kultusminister auf ihrer
vierteljährlichen KMK-Sitzung in Erfurt. Zu dieser wird auch
Bildungsministerin Karliczek erwartet. Auf der Tagesordnung steht auch der
nationale Bildungsrat. Ob es dann bereits eine erste Verständigung geben
könnte, wie Karliczek in ihrem Brief andeutet, bezweifelt Rabe jedoch:
„Verständigungen gibt es immer, aber inhaltliche Vereinbarungen in der
allerersten Sitzung halte ich für sehr optimistisch.“
Ebenfalls am 15.Juni trifft sich der baden-württembergische
Landesschülerbeirat mit Vertretern des Kultusministeriums. Bis dahin werden
die Englischklausuren korrigiert sein. „Wenn die Ergebnisse schlechter sind
als die des Vorjahres, werden wir entscheiden, ob noch weitere Maßnahmen
getroffen werden“, sagt der Vorsitzende Leandro Cerqueira Karst.
Grundsätzlich ist der Landesschülerbeirat sehr dafür, dass Schulabschlüsse
deutschlandweit vergleichbarer werden. „Dazu gehört aber auch, dass
ähnliche Voraussetzungen herrschen, die Schüler also auf gleiche Aufgaben
auch vergleichbar vorbereitetet werden“, sagt Cerqueira Karst. Das würde
eine Angleichung der Lehrpläne bedeuten. Mit dem Föderalismus in seiner
jetzigen Form kaum zu vereinbaren.
1 Jun 2018
## LINKS
[1] https://www.change.org/p/kultusministerium-baden-w%C3%BCrttemberg-englisch-…
[2] https://www.jmwiarda.de/2018/05/03/wie-ich-mir-den-nationalen-bildungsrat-v…
## AUTOREN
Anna Lehmann
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