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# taz.de -- Platzvergabe im Medizinstudium: Von den Besten die Sozialsten
> Beim Zugang zum Medizinstudium soll die Abinote bald weniger zählen – die
> soziale Kompetenz stattdessen mehr. Die Uni Münster testet das gerade.
Bild: Juroren in der „Limette“: Für das Medizinstudium in Münster ist auc…
MÜNSTER taz | Eines Tages wird Ria erzählen können, dass ihre Karriere als
Ärztin hinter verspiegeltem Polizeiglas begann. In einem kleinen
Untersuchungszimmer sitzt die 18-Jährige einem Schauspieler gegenüber,
spricht mit ihm, simuliert eine Situation, von der sie erst Minuten vorher
auf einem Zettel gelesen hat. Durch eine halbdurchsichtige Scheibe wird Ria
von Ärzten und Psychologen beobachtet – sie entscheiden mit darüber, ob Ria
an der Uni Münster studieren darf.
Ria, die aus einer westfälischen Kleinstadt stammt, ist eine von 160
Abiturienten, die es bis in das Auswahlverfahren für Medizinstudenten an
der Uni Münster geschafft haben – wohl eines der aufwändigsten
Auswahlverfahren für Studierende in der gesamten Republik. Wer mitmachen
darf, hat wie Ria einen Abiturschnitt zwischen 1,0 und 1,3 und es dennoch
nicht in die Gruppe derer geschafft, die dank ihres exzellenten Abiturs und
einer großen Portion Losglück sofort einen Medizinstudienplatz bekommen.
An einem Regentag Ende Februar an der Münsteraner Fakultät bekommen die
„Zweitbesten“ eine zweite Chance: Die Bewerber dürfen morgens in einem
schriftlichen Test ihr naturwissenschaftliches Verständnis beweisen,
nachmittags folgt der Teil mit den Schauspielern, der
„Multiple-Mini-Aktionstest“. Er soll persönliche Eigenschaften beurteilbar
machen: emotionale Intelligenz, die Fähigkeit zum Beziehungsaufbau,
manuelles Geschick. Von den 160 Teilnehmern wird die Hälfte einen
Studienplatz bekommen.
Ria, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, und ihre
Mitbewerber wissen im Moment ihrer Prüfung, dass hinter den
Spiegelglasscheiben ein Team aus Juroren sitzt, Mitarbeitern des
medizinischen Fakultät, die sie sehen und hören können. Weniger als sieben
Minuten hat jeder, um mit dem Schauspieler zu sprechen, dann ertönt ein
lauter Gong, man geht raus, wartet vor der Nachbartür, begegnet dem
nächsten Schauspieler. Die kleinen Räume sind kreisförmig angeordnet, wie
die Kammern einer Zitrusfrucht, weshalb das brandneue Gebäude in Münster
„Limette“ genannt wird. Im Innern, dort, wo bei der Limette die
Fruchtfleischsegmente zusammentreffen, ist ein runder, abgedunkelter Raum
mit zwanzig Juroren.
## Tests relativieren Abinote
Welche Situationen hier genau simuliert werden, soll auf Wunsch der
Hochschule geheim bleiben. „Es sind alltägliche Szenen, oft mit einem
leichten medizinischen Bezug“, so viel verrät Bernhard Marschall, der
Studiendekan der Mediziner in Münster. Die Juroren haben ein Coaching
hinter sich, in dem sie lernen, dass die Attraktivität der Bewerber sie
irreleiten kann; sie wissen auch, dass sie eine Abiturientin namens
„Chantal“ möglicherweise anders beurteilen als eine „Hannah“. In Müns…
in der Limette, soll die Studienplatzvergabe gerechter werden: Die
Abiturnote wird relativiert.
Das Münsteraner Auswahlverfahren könnte nun auch an anderen medizinischen
Fakultäten Schule machen. Das sieht die [1][Studienreform „Masterplan
Medizinstudium 2020“] vor, die am Freitag von Bund und Ländern beschlossen
wurde. Demnach sollen die Hochschulen in ihren Auswahlverfahren neben der
Abiturnote mindestens zwei weitere Kriterien anwenden. In Zukunft sollen
deshalb soziale und kommunikative Fähigkeiten sowie die
Leistungsbereitschaft der Bewerber – etwa über Tests – stärker einbezogen
werden (siehe Kasten). Das Reformvorhaben war ursprünglich im
Koalitionsvertrag vereinbart worden. Anfang dieses Jahres schien die
Verabschiedung der Reform schon bald möglich, doch Mitte März nahm die
Kultusministerkonferenz (KMK) das Thema Masterplan dann plötzlich wieder
von ihrer Agenda. Der Grund: Die Finanzierung erschien der KMK nicht
gesichert. Das Vorhaben galt deshalb zwischenzeitlich sogar als
gescheitert; viele Ärzteverbände reagierten bestürzt.
## Bis zu sieben Jahre Wartezeit
So weit kam es dann doch nicht. In Zukunft sollen nun nicht nur
Auswahlverfahren wie das in Münster gefördert werden, sondern auch andere
Kriterien neben der Abiturnote mehr Gewicht bekommen, etwa medizinische
Ausbildungen. Beides verspricht mehr Maß für einen inzwischen äußerst
elitären Wettstreit: Fast 44.000 Bewerber wollten zum Wintersemester
2016/17 Medizin studieren, 19.000 waren es zum Sommersemester 2017; es gab
jeweils aber nur gut 9.000 bzw. 1.600 Plätze. Wer sicher einen Platz
möchte, sollte heute ein 1,0-Abitur haben; außerdem haben die Universitäten
schon jetzt eigene Kriterien, etwa medizinische Ausbildungen oder den
Studierfähigkeitstest TMS. Wer nicht genug Prädikate vorweisen kann, muss
bis zu sieben Jahre warten.
„Das Rennen um die Studienplätze ist zur Groteske geworden“, bilanziert
Andreas Botzlar, Vizepräsident des Marburger Bundes. Für die
Ärztegewerkschaft ist seit Langem klar, wie man dieses Rennen am besten
entschärfen könnte: durch mehr Studienplätze.
## Finanzstarke Studierende könnten sich „freikaufen“
Der Masterplan Medizinstudium 2020 aber wählt einen ganz anderen Weg.
Geplant ist eine Studienplatzquote für Interessenten, die sich
verpflichten, nach dem Studium und der fachärztlichen Weiterbildung in der
Allgemeinmedizin bis zu zehn Jahre als Landarzt in unterversorgten Regionen
zu arbeiten. Sollten sie dieses Versprechen brechen, drohen „wirksame
Sanktionen“, heißt es im Masterplan. Kolportiert wurden bisher schon
Vertragsstrafen von bis zu 150.000 Euro. Den einzelnen Ländern soll
ermöglicht werden, eine solche „Landarztquote“ für bis zu zehn Prozent der
Studienplätze einzuführen.
„Wir halten nichts davon, dass sich 18-Jährige auf eine zehn, fünfzehn
Jahre in der Zukunft liegende Form der Berufsausübung festlegen müssen“,
sagt Botzlar. Carolin Siech von der Bundesvertretung der
Medizinstudierenden sieht zudem eine Gefahr: „Studierende, die
entsprechende finanzielle Möglichkeiten haben, könnten sich später
‚freikaufen‘.“ Es wäre also möglich, gezielt mit der Strafe zu kalkulie…
Die Bereitschaft, Geld für einen Medizinstudienplatz zu zahlen, ist ohnehin
schon jetzt vorhanden. An privaten Medical Schools in Deutschland, die mit
Fakultäten im europäischen Ausland kooperieren, bekommt man ohne Numerus
clausus einen Platz. Für 60.000 bis 70.000 Euro kann man beispielsweise in
Kassel oder Nürnberg das ganze Studium absolvieren.
Auch die Münsteraner Bewerber sehen die Landarztquote mit Skepsis. „Dass
man bereit ist, sich als Landarzt zu verpflichten, sagt wenig darüber aus,
ob man ein guter Arzt wird“, findet etwa die 19-jährige Lea aus Hamburg.
„Darüber sagt so ein Test wie heute in Münster mehr aus.“
## Das Unizertifikat steht im Vordergrund
Allerdings ist selbst das ausgefeilte Münsteraner Verfahren schon auf
Kritik gestoßen – immerhin ist es kaum weniger elitär als alle anderen. Den
Bewerber mit dem 2,5-Abi sucht man vergebens, nur die Besten dürfen
teilnehmen. Warum es trotzdem sinnvoll ist, unter den Besten die emotional
Kompetentesten zu finden?
Der Münsteraner Studiendekan Bernhard Marschall muss für eine Antwort etwas
weiter ausholen. „Derzeit beginnt eine Generation zu studieren, die mit
einer Zunahme an globaler Verunsicherung konfrontiert ist“, erklärt der
Chirurg. „Gerade besonders leistungsstarke Mitglieder dieser Generation
reagieren mit einer zielgerichteten Investition in Bildung. Dabei steht
unter Umständen gar nicht das eigentliche Berufsziel im Mittelpunkt,
sondern das Universitätszertifikat, das zunächst eine persönliche
Versicherungsgarantie verspricht. Die ärztliche Approbation gilt in diesem
Zusammenhang als besonders attraktiv.“
Zusammen mit einem viel zu eindimensionalen Prüfungssystem führe dies dazu,
dass die Studierenden heute nicht fragten: „Was muss ich denn tun, um ein
guter Arzt zu werden?“ Sondern: „Was muss ich tun, um die nächste Klausur
oder das Examen zu bestehen?“ Dieser Entwicklung begegnet man in Münster
mit den Tests auf emotionale Fähigkeiten. So will man unter den Bewerbern
diejenigen finden, die zwar extrem leistungs- und sicherheitsorientiert
sind, sich aber daneben besonders gut für den Arztberuf eignen.
## Segelflugzeuge und Cello
Die Frage nach gerechten und sinnvollen Zulassungskriterien für das
begehrte Medizinstudium ist nichts Neues; sie ist Jahrzehnte alt. Schon in
den 1960er-Jahren beklagte die deutsche Hochschulmedizin öffentlich, dass
es 8.000 Bewerber auf nur 2.000 Plätze gebe. Allerdings wurden damals ganz
andere Kriterien diskutiert als heute. Dem Spiegel sagte Alkmar von
Kügelgen, Vorsitzender des Westdeutschen Medizinischen Fakultätentags, im
Jahr 1966: Wer Medizin studieren und ein „tüchtiger Arzt“ werden wolle,
solle „als Junge ein Segelflugzeug gebastelt haben, in einer
Kammermusikbesetzung Cello bis zum frühen Haydn gespielt haben und
möglichst nicht sitzengeblieben sein“.
Für Ria ist die Antwort auf die Frage, wer Medizin studieren darf, im Jahr
2017 eine andere: Sie hat ein 1,0-Abitur, nach der Schule ein Praktikum in
einer Geburtsstation in Tansania gemacht – und große soziale Kompetenz im
Münsteraner Test bewiesen.
Drei Tage nach der Prüfung bekommt sie ihre Zulassung. Bei der Zimmersuche
stellt Pia fest: Die Gespräche in den Studenten-WGs seien „auch eine Art
Bewerbungsverfahren“ – nur entspannter.
5 Apr 2017
## LINKS
[1] https://www.bmbf.de/files/2017-03-31_Masterplan%20Beschlusstext.pdf
## AUTOREN
Christina Hucklenbroich
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