| # taz.de -- Präpkurs im Medizinstudium: Maries Leiche | |
| > MedizinstudentInnen lernen die menschliche Anatomie an Leichen. Oft ist | |
| > es ihr erster Kontakt mit einem Toten. Unser Autor hat den Präpkurs | |
| > begleitet. | |
| Bild: „Aus eigenem Interesse einen Menschen auseinandernehmen?“ Marie Bayer… | |
| Die Haut, grau wie Asphalt, ist in quadratische Flächen aufgeschnitten. | |
| Marie Bayer nimmt das Viereck links unten am Rücken zwischen zwei Finger, | |
| hebt es an, klappt es zur Seite weg. Unübersichtlich sieht es darunter aus. | |
| Fett, Gewebe, ein paar Rippen sind zu sehen, gelb, grau, hellbraun. Von | |
| allen Seiten beugen sich die sieben MedizinstudentInnen über die Leiche, | |
| Skalpelle in den rechten, Pinzetten in den linken Händen, weiße Kittel über | |
| schwarzen Hoodies, roten Tops, Jeans und Röcken. Vom Kopfende aus | |
| betrachtet: eine Szene wie in einem schlechten Gruselfilm, in dem sieben | |
| Vampire über ihr Opfer herfallen. | |
| Marie Bayer und ihre KommilitonInnen haben kein Opfer vor sich, sondern | |
| eine Körperspenderin. Sie studieren im dritten Semester Medizin an der | |
| Berliner Charité und sind im Präparationskurs, den alle nur Präpkurs | |
| nennen, fast alle zum ersten Mal direkt mit einem toten Menschen | |
| konfrontiert. In den kommenden zwei Semestern werden sie den Körper | |
| erforschen, von außen nach innen. | |
| Sie werden Haut abziehen, Muskeln freilegen, Nerven präparieren. Die Leiche | |
| öffnen, ihre Organe herausnehmen, sich im Bauchraum nach hinten | |
| durcharbeiten und so Schicht für Schicht die Anatomie des Menschen zu | |
| begreifen versuchen. Eine Praxis, die seit Jahrhunderten fester Bestandteil | |
| der Medizinausbildung ist. | |
| Von den Toten, die ihren Körper der Wissenschaft gespendet haben, erfahren | |
| die StudentInnen nicht viel. „61/17/w“ steht mit grünem Edding neben dem | |
| Präparationstisch auf einem Aluschrank geschrieben. Leichennummer, Jahr des | |
| Todes, Geschlecht. Mehr wissen sie nicht. Wer war die Frau? Hatte sie | |
| Kinder, einen Mann? Ihre Krankheitsgeschichte lässt sich nach und nach | |
| rekonstruieren, anhand von Narben, Gewebe und anderen Merkmalen, die allein | |
| ihr Körper erzählt. | |
| ## Das Unterhautfett | |
| Zwei Mal pro Woche, Mittwoch und Donnerstag 10.15 Uhr, präparieren Marie | |
| und sechs KommilitonInnen an ihrer Leiche. Der Saal sieht nicht aus wie | |
| düstere Pathologieräume im „Tatort“. Tageslicht fällt durch hohe Fenster, | |
| Skelette stehen herum, eine Tafel, Stühle. Außerdem sechs Präpariertische, | |
| über denen jeweils eine Art riesige Dunstabzugshaube montiert ist, aus der | |
| Luft strömt – gegen den Geruch –, welche an den Rändern des Stahltisches | |
| eingesogen wird. So entsteht ein Luftvorhang um die Leichen. | |
| Zu Beginn des Kurses sind sie mit weißen Baumwolltüchern bedeckt und in | |
| Plastikfolie gehüllt, damit sie nicht austrocknen. Je zwei Leichen lagern | |
| in den Trennschränken hinter Rollos: sechs weibliche links, sechs männliche | |
| rechts. | |
| Trotz der modernen Lüftungsanlage dringt der süßlich-beißende Geruch des | |
| Formalins, das zur Konservierung der Leichen benutzt wird, in die Nase, | |
| sobald man den Raum betritt. Noch wenn Marie Bayer abends in ihrer WG-Küche | |
| sitzt, hängt ihr der Geruch in der Nase. „Ist wohl eine Art olfaktorisches | |
| Gedächtnis“, sagt sie. Gewöhnt sie sich daran? | |
| Es ist Ende April, die zweite Woche des Semesters, als Stefan Exner, 66 und | |
| Dozent an der Charité, zwei Gruppen an zwei Tische leitet. „Wie ist es euch | |
| ergangen nach der letzten Woche?“, fragt er. Schweigen. Lächeln. Marie | |
| Bayer sagt: „Nicht so gut. Der Geruch. Ich hab vom Präpkurs geträumt.“ | |
| Vorsichtige, kleine Bewegungen macht sie, als sie sich dann mit Skalpell | |
| und Pinzette durch das Unterhautfett der Leiche arbeitet, die vor ihr auf | |
| dem Bauch liegt. Nachdem die fest mit der darunter liegenden Gewebeschicht | |
| verbundene Haut abgetrennt ist, offenbart sich zentimeterdickes gelbliches | |
| Fettgewebe. „An manchen Stellen fühlt es sich flüssig an, an anderen | |
| härter“, sagt Marie. „Ein bisschen wie Rührei.“ | |
| „Sind das hier schon die Bänder?“, fragt einer. – „Ja, sind sie“, sa… | |
| Tutor, der den Dozent unterstützt. | |
| „Soll ich das ganze Fett da wegschneiden?“ – „Ja, ruhig weg damit.“ | |
| Gewebe wird entfernt und in eine kleine silberne Schale gelegt. Alle | |
| entfernten Körperteile werden dort gesammelt. Ist die Schale voll, wird sie | |
| in einen Plastikeimer entleert. Später, etwa in einem Jahr, wird der Inhalt | |
| mit dem Körper verbrannt. | |
| ## Die Körperspende | |
| Zwei Wochen später schließt Marie Bayer ihr Fahrrad an einem Straßenschild | |
| in Berlin-Mitte an, sie kommt gerade vom Präpkurs. 19 Jahre, eine Frau mit | |
| Brille und blonden kurzen Haaren. Seit ein paar Jahren weiß sie, dass sie | |
| Medizin studieren und die Psyche des Menschen verstehen will. Sie möchte | |
| Psychiaterin werden – und muss jetzt trotzdem Haut und Fett von ihrer | |
| Leiche entfernen. | |
| Damit kann sie sich nicht so recht anfreunden, sagt sie. „Nur aus eigenem | |
| Interesse einen Menschen auseinanderzunehmen.“ Den Menschen also zum | |
| Arbeitsgegenstand werden zu lassen, der doch wesentlich mehr sei als sein | |
| Körper. Ob ihr der Kurs etwas bringt? „Ich weiß es noch nicht. Es sieht | |
| komisch aus, es fühlt sich komisch an. Und es macht Geräusche, wenn man die | |
| Haut abzieht.“ | |
| Sorge bereitet ihr vor allem, das Gesicht zu präparieren, den | |
| persönlichsten Teil des Körpers. Sie weiß, dass sie sich überwinden muss, | |
| auch bei der Öffnung des Körpers. Mit Säge und Knochenschere, „das ist noch | |
| mal eine Stufe härter“. Marie würde gern wissen, mit welcher Motivation | |
| ihnen die Tote ihren Körper überlassen hat, und mit ihren Angehörigen | |
| sprechen. Dass Menschen ihren Körper für die Ausbildung von ÄrztInnen zur | |
| Verfügung stellen, meint sie, sei ein ziemliches Privileg. | |
| Tatsächlich ist die Körperspende ein selbstloser Akt, der über den Tod | |
| hinaus wirkt. Eigentlich ist das ja ein urmenschlicher Trieb: etwas zu | |
| schaffen, das das eigene Leben überdauert. Kinder großziehen, Bücher | |
| schreiben – da gibt es die Anerkennung noch zu Lebzeiten. Körperspender | |
| dagegen erscheinen altruistisch, sie schaffen etwas Bleibendes, ohne davon | |
| zu profitieren. Marie Bayer beruhigt das. | |
| ## Die Kartei | |
| In ihrem Büro in einem kleinen Backsteinhaus vor dem großen Anatomiegebäude | |
| reicht Martina Plaschke kalten Orangensaft. Seit 1979 lehrt sie an der | |
| Charité, seit 18 Jahren ist sie als Prosektorin für die Körperspende | |
| zuständig. „Wir brauchen für die Präpkurse jedes Jahr 55 Verstorbene, und | |
| für die Fortbildung von Ärzten würden wir weitere 80 brauchen“, sagt sie. | |
| In Berlin gebe es etwas zu wenig Körperspender, andere Unikliniken hätten | |
| ein Überangebot und einen Aufnahmestopp verhängt. | |
| Körperspender, so erklärt sie, müssen mindestens 50 Jahre alt sein. Sind | |
| sie jünger, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie wegziehen, für die | |
| Charité nicht mehr auffindbar sind und ihre Namen in der Kartei verstauben. | |
| Auch ist es wohl für die Studierenden leichter zu verkraften, wenn sie an | |
| den Körpern alter Menschen arbeiten. | |
| Als Körperspender führt man eine grüne Karte mit sich, die einen als | |
| solchen ausweist. Nach dem Tod wird die Charité im besten Fall informiert, | |
| sie holt den Leichnam ab und bereitet ihn für die Präparation vor. Die | |
| Konservierung dauert mehrere Monate, der Präpkurs zwei Semester. Bis die | |
| Angehörigen den Verstorbenen beerdigen können, dauert es über zwei Jahre. | |
| 2004 wurde in Deutschland das Sterbegeld gestrichen. Bis dahin zahlten die | |
| gesetzlichen Krankenkassen nach dem Tod eines Versicherten bis zu 1.050 | |
| Euro an die bestattungspflichtigen Angehörigen – oder eben an die Charité | |
| für die Bestattung eines Körperspenders. Seitdem müssen KörperspenderInnen | |
| etwa 1.000 Euro an die Charité zahlen. Für viele wirkt das grotesk. „Aber | |
| sie bezahlen ja nicht die Körperspende, sondern die Bestattungskosten“, | |
| sagt Plaschke. Es sei somit eine günstige Art der Bestattung. | |
| Oft seien die SpenderInnen Angehörige von MitarbeiterInnen der Charité, | |
| Eltern von StudentInnen oder frühere PatientInnen – mit einer Verbindung | |
| zum Haus. In den meisten Fällen aber seien es Leute, die einfach für ihre | |
| Bestattung vorsorgen und ihren Angehörigen keine Arbeit machen möchten. | |
| „Und dabei noch etwas Gutes tun“, meint Plaschke. Pragmatisch die Zeit nach | |
| dem Tod regeln. | |
| ## Lunge und Kopf | |
| Begreifen kommt von Greifen. Mit den eigenen Händen Haut, Fett, das Herz, | |
| die Lunge, das Kniegelenk erfühlen und verstehen, das lässt sich mit | |
| modernen 3D-Modellen schwer ersetzen, die Verschiedenheit der Körper ebenso | |
| wenig. „Traditionell hat der Präpkurs auch eine psychologische Funktion als | |
| Initiationsritus für Mediziner“, sagt Stefan Exner. Er baut | |
| Berührungsängste ab. | |
| An der Charité werden schon die StudentInnen im ersten Semester in den | |
| Präparationssaal geführt, in ihrer dritten Studienwoche. Erstes | |
| Reinschnuppern, die erste Begegnung mit dem Tod – nicht alle halten das | |
| aus. „Ich setze mich kurz hin“, sagt eine Studentin Anfang Mai am | |
| Präparationstisch, da wird sie ohnmächtig und von anderen aufgefangen. | |
| Wenig später kommt sie angeschlagen zurück. „Surreal ist das mit der | |
| Leiche. Ich hoffe, ich gewöhne mich daran.“ | |
| Dann folgt die nächste Eskalationsstufe: Aus einem großen Plastikbehälter | |
| holt eine Tutorin eine Lunge, dann einen halben Kopf. Längs geteilt, mit | |
| Kleinhirn, Großhirn, Augapfel und 30 Zentimetern Wirbelsäule, die daran | |
| hängt. Die meisten schrecken zurück. Einige treten näher. Noch nie habe an | |
| der Charité jemand wegen des Präpkurses das Studium abgebrochen, heißt es. | |
| ## Die Niere | |
| Mitte Mai, Marie Bayers Gruppe versammelt sich im Präparationssaal. | |
| Plastikhandschuhe werden übergezogen, die Rucksäcke stapeln sich in der | |
| Ecke. Dozent Stefan Exner erklärt, wie Gänsehaut am Unterarm entsteht. | |
| Die Leiche liegt bereits auf dem Tisch, noch immer auf dem Bauch. Der | |
| Fortschritt der Präparation ist deutlich zu sehen: Die Haut ist noch dran | |
| und wird zur Seite geklappt, darunter kaum mehr gelbliches Fett, | |
| stattdessen graue Strukturen. Fasern, Gewebe, Knochen schimmern durch. | |
| Einzelne große Muskeln, braun und dunkelrot, sind freigelegt. Auch der Kopf | |
| liegt frei, von der Stirn bis in den Nacken ist die Haut kreuzförmig | |
| eingeschnitten, darunter der Schädelknochen zu erkennen. | |
| Marie Bayer beginnt am rechten Gesäßmuskel. Behutsam, dann immer beherzter | |
| entfernt sie darunterliegendes Fett mit Pinzette und Skalpell. Auch die | |
| Muskeln sind verfettet, Bindegewebe und Muskeln stark verflochten, die Frau | |
| litt also an ALS, einer Nervenkrankheit, so hat es die Gruppe | |
| herausgefunden. | |
| „Wollt ihr unsere Leiche mal sehen, bevor wir sie umdrehen?“, fragt der | |
| Tutor am Nebentisch. Die männliche Leiche dort sieht aufgeräumter aus, hat | |
| kaum mehr Fett, nur Muskeln und Knochen. Alle Gewebearten sind | |
| unterscheidbar. Der Tutor zeigt ein paar Highlights: einen Bypass am linken | |
| Oberschenkel. Das Rückenmark. Marie Bayer tastet. „Krass, das ist die | |
| Niere.“ Ihre KommilitonInnen forschen neben ihr, zusammen wirken sie jetzt | |
| wie Schatzsucher. | |
| Schließlich wird die Leiche umgedreht, zum ersten Mal sieht man ihr | |
| Gesicht. Sein Gesicht. Markante Nase, Stoppelbart, Stoppelhaar. Sofort wird | |
| es still im Saal – als würden die StudentInnen nach Wochen zum ersten Mal | |
| wieder daran erinnert, dass sie an einem toten Menschen arbeiten. | |
| Als eine Woche später Marie Bayers Leiche umgedreht wird, sie zum ersten | |
| Mal ihr Gesicht sieht, wird ihr kurz schummrig. „Überwältigend war das.“ | |
| Sie ist dann kurz raus in den Hof. | |
| ## Abschied | |
| Im Präpkurs sind die StudentInnen einem Zwiespalt ausgesetzt: Sie dürfen | |
| ihre Leichen nicht zum Objekt werden lassen und müssen sich immer wieder | |
| vergegenwärtigen, dass sie es mit einem Menschen zu tun haben. Mit seiner | |
| Geschichte und seinen Angehörigen, einem Leben. Zugleich sollen sie den Tod | |
| nicht zu nah an sich ranlassen, sich nicht für Schicksale interessieren und | |
| eben nicht den Aufbau eines individuellen Körpers lernen, sondern den | |
| allgemeinen Aufbau. | |
| „Der Mensch ist nach dem Tod ambivalent, er ist gleichzeitig ,reine | |
| Materie' und ,soziale Person‘“, so liest es Stefan Exner bei einer | |
| Gedenkfeier Mitte Juni vor. Einer, wie sie stets von StudentInnen zu Ehren | |
| der KörperspenderInnen organisiert wird, als Dankeschön, als Geste an die | |
| Angehörigen, die dazu eingeladen werden. StudentInnen und Angehörige | |
| tauschen sich dort aus, ohne genau zu wissen, wer wessen Körper präpariert | |
| hat. Marie Bayers Kurs steht das in einem Jahr bevor, sie will sich an der | |
| Organisation beteiligen. Jetzt sind die StudentInnen des fünften Semesters | |
| dran – und die Vorbereitungen laufen. | |
| „Hat jemand Klebeband?“ – „Ich brauch noch eine Schere.“ | |
| Der Hörsaal wird mit Blumen und Kerzen geschmückt, in der Mitte steht ein | |
| langer, schwarzer Tisch. Ein Dutzend StudentInnen wirbelt durch den Raum. | |
| Einer übt Klavier, eine Geige. | |
| „Ich brauch noch eine Schere!“ – „Hört man die Geige oben?“ | |
| In dreißig Minuten kommen die Gäste, einige StudentInnen ziehen sich um. | |
| Schnell die weiße Bluse übers schwarze Top, das blaue Hemd übers T-Shirt. | |
| Der Hörsaal füllt sich, die Angehörigen mischen sich in die Reihen. Frau | |
| Herbst, 79, sitzt in Reihe fünf. Ihr Mann ist vor wenigen Wochen gestorben. | |
| Er ist Körperspender – und obwohl seiner hier nicht gedacht wird, ist sie | |
| gekommen, eingeladen worden, weil auch sie als Körperspenderin registriert | |
| ist. „Vor zwölf Jahren haben wir unser Testament gemacht. Wir haben keine | |
| Kinder und überlegt, was bleibt, was wir zurückgeben können“, sagt sie | |
| leise, bevor die Gedenkfeier beginnt. | |
| Der Charité-Chor stimmt „Ave Maria“ an, Frau Herbst faltet die Hände. Üb… | |
| die Leinwand laufen die Namen der KörperspenderInnen, für jede und jeden | |
| wird eine weiße Rose auf den Tisch gelegt, bis sie einen Kreis bilden. | |
| „Ursula H., Eleonore B., Detlef K., Vera L., Inge P.“ 36 Namen. Jeder trägt | |
| Geschichten. | |
| ## Katharsis | |
| „Für die Studenten hat die Gedenkveranstaltung auch eine kathartische | |
| Funktion“, sagt Stefan Exner ein paar Wochen später in einem Café in | |
| Berlin. Er kommt gerade aus der Anatomie von einem Präpkurs, den weißen | |
| Kittel hat er gegen ein hellblaues Hemd getauscht. Exner bestellt eine | |
| Cola, sagt über seinen eigenen Präpkurs vor gut 30 Jahren: „Es wurde | |
| schnell Alltag. Und es hat sich inhaltlich kaum etwas geändert.“ Nur der | |
| Geruch, der sei damals deutlich schlimmer gewesen. Exner kann sich nicht | |
| erinnern, dass sich StudentInnen jemals danebenbenommen haben. | |
| „Der Tod wird bei uns sehr oft ausgelagert“, sagt er. „Leute werden ins | |
| Altersheim gebracht, Kinder bekommen gar nicht mit, dass Opa stirbt. Die | |
| Leichen bekommen sie nicht zu sehen.“ Dabei solle man den Tod nicht als | |
| etwas Exotisches darstellen, findet er. „Ich sage den Studenten anfangs | |
| immer, dass sie sich jetzt nicht nur mit der Anatomie, sondern auch mit dem | |
| Tod beschäftigen sollen.“ | |
| ## Milz und Nieren | |
| Als Marie Bayers Leiche geöffnet wird, um zu ihren Organen vorzudringen, | |
| ist Marie selbst nicht da. Mitte Juni, 8.15 Uhr, die Hitze des Tages | |
| kündigt sich an. Die Leiche liegt mittlerweile auf dem Rücken, die Haut ist | |
| komplett entfernt. Der Körper ist im Umfang geschrumpft. Als hätte er 15 | |
| Kilo abgenommen. | |
| Eine der Studentinnen ist aufgeregt. „Darf ich heute schneiden?“, fragt | |
| sie, den ersten harten Schnitt macht aber der Tutor. Er setzt die gut 30 | |
| Zentimeter lange Knochenschere am Brustbein an, kurz unterhalb des | |
| Kehlkopfes, und muss Kraft aufwenden. Dann knirscht es, einige zucken | |
| zusammen. Der Knochen ist durch, der Brustkorb wird leicht angehoben, | |
| darunter kommen dunkelrote Organe zum Vorschein. Bevor sie ganz freigelegt | |
| werden können, müssen die StudentInnen ran. Jeder und jede darf eine Rippe | |
| an den Körperseiten durchschneiden, wieder knirscht es und knackt, teils | |
| müssen sie zu zweit arbeiten. Jemand verursacht einen kleinen Riss an einem | |
| Organ – nicht schlimm, passiert. | |
| Als Nächstes wird der Brustkorb Richtung Bauch geklappt, das Herz rot, die | |
| Lungenflügel grau, darunter Magen und Darm. „Da, die Milz“, „Oh, die | |
| Nieren.“ Es ist der Moment der bislang größten Faszination. Echtes | |
| Forscherinteresse – suchen, anfassen, suchen, verstehen. | |
| Dann 30 Minuten Pause, bis Marie Bayers Gruppe dran ist. Vor dem | |
| Backsteingebäude der Anatomie stehen StudentInnen und reden über die Partys | |
| vom Wochenende. Über das neue Album von Drake. Kaum jemand raucht. | |
| Als der Tutor zu Beginn der Stunde über den Brustraum und über Nerven | |
| spricht und sagt, dass die andere Gruppe am Morgen schon die Knochen | |
| durchtrennt habe, sind manche enttäuscht. Marie Bayer nicht. Sie beugt | |
| ihren Kopf über ihre Leiche, ganz nah, und guckt sich die Lunge an, als das | |
| grelle Geräusch einer elektrischen Säge ertönt. Am Nachbartisch wird ein | |
| Arm abgetrennt. Einige eilen hin. | |
| Derweil trennt Marie Bayer mit dem Skalpell Gewebe unterhalb der Lunge von | |
| den Organen, eine Kommilitonin hilft ihr dabei. „Ah, die Leber liegt hier | |
| drunter, das Zwerchfell zieht sich da entlang“, sagt sie. Marie versteht | |
| jetzt immer besser, was sie in den Büchern zuvor gelesen hat. | |
| Die Stimmung am Tisch wird von Woche zu Woche gelöster. Während anfangs | |
| Stille, Zurückhaltung und Konzentration herrschten, scheint das Präparieren | |
| jetzt Alltag geworden zu sein. Die Gruppe ist zusammengewachsen, einige | |
| sind befreundet – und während man Blutgefäße freilegt, wird gescherzt, üb… | |
| Polnisch als schwierige Fremdsprache und über neue Verhütungsmethoden für | |
| Männer geredet. | |
| Am Nachbartisch wird gerade anhand der Lunge über die Herkunft des | |
| Körperspenders spekuliert. Deutliche Teerspuren sind zu erkennen. „Ein | |
| Großstädter“, sagt der Tutor. Zu wenig Teer für einen Raucher, zu viel für | |
| einen vom Land. | |
| Das Ende der Stunde naht, die Handschuhe werden in Mülleimer geschnippt, | |
| das Besteck gereinigt, Hände gewaschen, letzte Fettreste vom Tisch | |
| entfernt. Die Leiche wird mit feuchten Tüchern umhüllt und wieder in | |
| Plastikfolie gepackt. Marie Bayer greift die Füße, an der Schulter steht | |
| ein Kommilitone, gemeinsam heben sie ihre Leiche in den Schrank neben dem | |
| Tisch. | |
| Routine. | |
| ## Herz und Lunge | |
| Drei Wochen später, Mitte Juli, wird ein Lungenflügel herausgenommen, der | |
| Länge nach aufgeschnitten und im Kreis herumgereicht. Marie Bayer greift | |
| zu, begutachtet das Lungenstück, außen grau, innen dunkelrot, mit kleinen | |
| Blasen und baumartigen Verästelungen, und gibt es weiter. Müde wirkt sie, | |
| ein wenig gelangweilt. Sie nimmt das Lungenstück noch mal, wird langsam | |
| wach. Das Herz wird aus dem Körper genommen, inspiziert und wieder | |
| eingelegt – ein bisschen wie ein Baukasten. Oder Lego. Organe raus, tasten, | |
| erfassen, wieder rein. „Heute wird nicht viel gepräppt“, sagt Stefan Exner. | |
| „Aber viel verstanden hoffentlich.“ | |
| ## Die Übung | |
| Vorletzter Kurs im Sommersemester, noch zwei Wochen bis zur abschließenden | |
| Prüfung – bevor es im nächsten Semester an derselben Leiche weitergeht. | |
| Heute ist Probelauf für den 3D-Multiple-Choice-Test. Als die Tür aufgeht, | |
| betreten die StudentInnen einzeln den Saal, jede*r bekommt einen Zettel mit | |
| zwanzig Fragen. Im Saal sind alle Leichen aufgedeckt, an ihnen sind zwanzig | |
| Stationen markiert, mit Fähnchen und Nummern. Es gilt: eine Minute pro | |
| Station. | |
| Marie beginnt an ihrer Leiche, Frage 17 und 10. „Welcher Nerv ist hier | |
| markiert?“, „Die markierte Struktur wird vegetativ innerviert durch …?“. | |
| Frage 18: „Was dient zur äußeren Unterscheidung der markierten Strukturen | |
| vom Jejunum?“ Die 18 wird sie richtig beantworten, die 10 und die 17 | |
| falsch. | |
| Im Uhrzeigersinn wechseln die StudentInnen in kleinen Gruppen die Tische, | |
| nach je einer Minute ertönt ein Signal. Am Nachbartisch, Frage 11, ein | |
| rotes Fähnchen steckt im Knie: „Welche Bewegung im Kniegelenk verhindert | |
| das markierte Band?“ Marie tastet am eigenen Knie, beugt es und fühlt. | |
| „Innenrotation in Streckstellung“, antwortet sie – richtig. Zwei Tische | |
| weiter: ein abgetrennter Arm, am oberen ein Fähnchen, Frage 16. Marie | |
| berührt ihre Schulter, bewegt den Arm. 14 von 20 Fragen beantwortet sie | |
| korrekt. Damit hätte sie bestanden. | |
| Einen Tag später kommt Marie Bayer mit dem Rad zur Redaktion der taz, | |
| verschwitzt, zwischen zwei Uniterminen. Davor war der letzte Präpkurs des | |
| Semesters. „Der Test hat gut geklappt“, sagt sie. Und dass der Bauchraum | |
| ihr leichter falle, „ist jedenfalls besser, als jeden Ansatz und Muskel | |
| genau zu erkennen“. | |
| Fast drei Monate ist es her, dass sie gesagt hat, sie käme mit ihrer Rolle | |
| nicht zurecht. Und jetzt? „Ich bin selbst schockiert, aber ich bin | |
| entspannter, mache mir weniger Gedanken über die Tote. Manchmal macht mir | |
| der Präpkurs sogar Spaß.“ Die Grenzen dessen, was sie als schlimm empfinde, | |
| hätten sich verschoben. „Wenn Knochen durchgesägt werden, ist das nochmal | |
| eine Stufe härte, als es am Anfang das Hautabziehen war.“ Manchmal vergesse | |
| sie, dass da ein Mensch liegt, gerade wenn sie sich auf eine Körperregion | |
| konzentriere. | |
| Nur das Gesicht, erzählt sie, sei noch immer ein sensibler Bereich. Sie | |
| fühle sich der Person plötzlich so nah. Am Kopf habe Marie deshalb nie | |
| präpariert. Gezwungen wird auch niemand, jeder kann selbst entscheiden, was | |
| er präparieren will und was lieber nicht. | |
| Und, sagt Marie: Die Realität weiche ihrer Einschätzung nach stark von den | |
| Abbildungen im Fachbuch ab. Lunge und Leber fühlten sich total | |
| unterschiedlich an, das hätte sie nie gedacht. „Man merkt es sich besser, | |
| wenn man es berührt.“ | |
| ## Gehirn und Sinne | |
| Mitte Oktober beginnt das Wintersemester, Marie Bayer war in ihren | |
| Semesterferien in Frankreich und Polen, Rumreisen und auf Festivals. Den | |
| 3D-MC-Test Ende Juli hat sie bestanden, jetzt geht es im Präparationssaal | |
| weiter. Mit neuem Dozent, neuem Tutor, mit derselben Gruppe und derselben | |
| Leiche. | |
| In diesem Semester werden sich die StudentInnen mit dem Gehirn, mit den | |
| Sinnesorganen, mit Nieren und Lunge beschäftigen. Los geht’s mit dem | |
| Gehirn. Die PräparatorInnen haben während der Semesterferien den Schädel | |
| der Leiche kreisförmig aufgebohrt, oberhalb der Augenbrauen. Als der Dozent | |
| die weißen Tücher entfernt, fällt die Schädeldecke fast von selbst auf den | |
| Tisch. | |
| Das Gehirn, das man nun sieht, ist noch von einer weißen Schicht umgeben, | |
| der „Dura Mater“ – der Hirnhaut, durch die Blutgefäße schimmern. Marie | |
| Bayer tritt einen Schritt zurück. An der Stirn liegt ein Stück Gehirn ganz | |
| frei, beige, mit dunklen Stellen in den Vertiefungen. | |
| Der Dozent durchtrennt Blutgefäße, Nerven und Gewebe, schließlich schneidet | |
| er die beiden Gehirnhälften auseinander und entfernt eine, später noch das | |
| halbe Kleinhirn. Es ist deutlich dunkler, der „Arbor Vitae“, der | |
| Lebensbaum, ist zu erkennen: eine weiße Substanz aus Nervenfasern, die sich | |
| verästelt. | |
| Marie Bayer geht immer wieder näher an den Tisch und senkt ihren Blick zum | |
| Gehirn. Sie will sehen, was wo ist.„Ich bin froh, dass der Kopf schon | |
| aufgeschnitten war. Da hätte ich nicht dabei sein wollen“, sagt Marie Bayer | |
| später auf dem Hof der Anatomie und läuft Richtung Mensa. Aber, meint sie: | |
| „Das Gehirn ist schon der spannendste Teil im Kurs.“ Schließlich will sie | |
| Psychiaterin werden. | |
| 3 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Wrusch | |
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