# taz.de -- Semesterstart an den Universitäten: Der Kampf um die Plätze | |
> Zu viele Studenten für zu wenige Plätze. Die Folge: Immer mehr Studenten | |
> klagen ihren Studienplatz per Gericht ein. Aber auch die Universitäten | |
> rüsten juristisch auf. | |
Bild: Die Universitäten sind auf den Ansturm der Bewerber nicht vorbereitet | |
POTSDAM/BERLIN taz | Für einen Freitagnachmittag, zumal in den Ferien, ist | |
es im Hörsaalgebäude der Universität Potsdam ungewöhnlich belebt. 70 | |
Personen stehen und sitzen im überfüllten Raum, ungewöhnlich ist auch das | |
Thema: „Einklagen in Bachelor- und Masterstudiengänge“. Die meisten Zuhör… | |
sind um die zwanzig. Sie lauschen dem Vortrag eines Anwalts, der sich auf | |
Studienplatzklagen spezialisiert hat. Eingeladen hat der Allgemeine | |
Studierendenausschuss (AStA). Zum ersten Mal biete er eine solche | |
Veranstaltung an. „Wir haben selbst nicht mit so viel Leuten gerechnet“, | |
sagt Sebastian Geschonke vom AStA. | |
Nie zuvor wollten so viele junge Leute studieren wie heute, die Hochschulen | |
rechnen mit einer halben Million Bewerber. Das liegt daran, dass zehn | |
Bundesländer die Abiturzeit verkürzt haben und daher zwei Jahrgänge | |
anfangen wollen zu studieren. Zum Juni setzte die Bundesregierung zudem die | |
Wehrpflicht aus und so rücken noch einmal bis zu 60.000 junge Männer direkt | |
nach der Schule in die Hochschulen statt in die Kasernen ein. | |
## Kein Platz in Potsdam | |
Marlene aus Berlin hat im Sommer ihr Abitur bestanden. Ab Oktober will sie | |
Erziehungswissenschaften in Potsdam studieren, aber sie hat im | |
Bachelor-Studiengang keinen Platz bekommen. Nun setzt sie auf den Klageweg | |
und ist in Potsdam, um zu erfahren, wie sie vorgehen muss. Beruhigt stellt | |
sie fest, dass sie bisher alles richtig gemacht hat. Und sie ist | |
erleichtert: „Ich sehe endlich, dass ich nicht allein mit meinem Problem | |
bin.“ Eltern sind auch anwesend. Ein Vater macht Notizen für seinen Sohn, | |
der hier studieren will. „Wenn der Junge dat studieren will, dann studiert | |
er dat“, brummt er. | |
Zwar haben Bund und Länder im Jahr 2007 den Hochschulpakt geschlossen und | |
wollen so bis 2015 mehr als 500.000 weitere Studienplätze schaffen. | |
Unterschätzt haben sie aber den wachsenden Willen der jungen Leute zu | |
studieren – aktuell wollen es 46 Prozent eines Jahrgangs, ein Plus von 10 | |
Prozentpunkten in fünf Jahren. | |
Um des Andrangs Herr zu werden, haben gerade die Hochschulen im Westen der | |
Republik ihre Zulassungskriterien verschärft. Für die Hälfte der über 9.000 | |
Bachelor-Studiengänge gilt nach Auskunft der Hochschulrektorenkonferenz | |
(HRK) ein Numerus clausus (NC). Die Universität Bremen hat den NC aber für | |
dieses Semester über fast alle Fächer verhängt. „Schon in der Vergangenheit | |
waren viele Fächer zulassungsbeschränkt, in diesem Jahr haben wir das | |
ausgeweitet“, bestätigt ihr Sprecher Eberhard Scholz. | |
An der Freien Universität Berlin ist die Lage ähnlich. „Nahezu alle | |
Studienfächer haben einen NC“, sagt Sprecher Goran Krstin. Auf 4.000 | |
Studienplätze in den grundständigen Studiengängen seien über 30.500 | |
Bewerbungen eingegangen. Besonders begehrt sind die Fächer Psychologie, BWL | |
und Jura. Wer in Berlin Psychologie studieren will, braucht eine Abiturnote | |
von 1,1. | |
## Schlupflöcher in den NC-Studiengängen | |
Wer abgelehnt wurde, muss warten oder kann juristische Mittel ergreifen. | |
Mit einer Studienplatzklage versuchen die Abgelehnten der Hochschule | |
gerichtlich nachzuweisen, dass sie nicht alle Plätze besetzt hat. Das | |
Bundesverfassungsgericht hat den Universitäten 1972 in einem Urteil | |
Zulassungsbeschränkungen erlaubt, sie aber dazu verpflichtet, ihre | |
Kapazitäten voll auszuschöpfen. Diese werden nach einer komplizierten | |
Formel bundeseinheitlich auf Basis aller Stellen eines Fachbereichs – vom | |
Professor bis zum Assistenten – berechnet. | |
„Dabei muss man höllisch aufpassen“, berichtet Michael Meyer, Studiendekan | |
für Medizin an der Universität München. Denn kleinste Veränderungen im | |
Stundenplan und bei den Stellen ziehen eine oft widersinnige Veränderung | |
der Berechnung nach sich und führen zu einer erhöhten Anzahl von | |
Studienplätzen. | |
Anwaltskanzleien haben sich darauf spezialisiert, in den NC-Studiengängen | |
nach Schlupflöchern zu suchen. Der Hamburger Anwalt Dirk Naumann zu | |
Grünberg ist seit 2004 ausschließlich damit beschäftigt, den Hochschulen | |
nachzuweisen, dass sie weniger Plätze anbieten als sie laut | |
Kapazitätsverordnung müssten. „Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel“, schildert | |
er seinen Job. Alle Hochschulen seien nämlich bestrebt, Ressourcen von der | |
Lehre unauffällig in den Bereich der prestigeträchtigen Forschung zu | |
verschieben. Als Anwalt versuche er, sie dabei zu erwischen, indem er wie | |
ein Revisor die Fachbereiche nach Stellen durchforstet und diese auf | |
Studienplätze umrechnet. | |
Das Geschäft floriert. „Seitdem die doppelten Abiturjahrgänge kommen und | |
fast jedes Bachelor-Fach mit einem NC belegt ist, wird viel mehr geklagt“, | |
stellt Naumann zu Grünberg fest. Bis zu 1.500 Euro kostet eine Klage – | |
zahlen müssen die Kläger aber nur, falls es mit dem Studienplatz nicht | |
klappt. Der Anwalt hat bisher 8.000 Mandanten im ganzen Land vertreten, | |
allein hundert, die gegen die Universität München klagten. | |
## Der Münchner Medizin-NC liegt bei 1,0 | |
In Bayern haben in diesem Sommer zwei Jahrgänge die Abiturprüfungen | |
bestanden. Mit dem Geld aus dem Hochschulpakt bietet die | |
Ludwig-Maximilians-Universität für 2011 zwar 860 zusätzliche Plätze für | |
Erstsemestler an, doch die Zahl der Interessenten wuchs um ein Vielfaches. | |
Nach Auskunft einer Sprecherin gingen zum Wintersemester über 30.000 | |
Bewerbungen für die 30 Studiengänge mit lokalem NC ein – damit doppelt so | |
viele wie 2010. | |
Heiß umkämpft sind traditionell die Medizinstudiengänge, die zentral von | |
der Stiftung für Hochschulzulassung verwaltet werden. Selbst für | |
Einser-Abiturienten ist es schwer, einen Platz zu bekommen. Der NC für die | |
Plätze, die allein über die Note vergeben werden, liegt in diesem Jahr bei | |
1,0. Die Universität München vergibt zwar 60 Prozent ihrer Plätze nach | |
eigenen Kriterien, doch wer keine 1 vor dem Komma hat, bleibt draußen. | |
Also versuchen in München auch in diesem Jahr 800 Bewerber über Eilanträge | |
und damit auf gerichtlichem Weg in die Hörsäle zu gelangen. „Ich hoffe, sie | |
kommen damit nicht durch“, sagt Studiendekan Meyer. „Es ist einfach nicht | |
fair gegenüber Leuten, die einen besseren Notendurchschnitt haben.“ Denn | |
beim Einklagen gilt, wer die Lücke entdeckt, darf den Platz besetzen – | |
unabhängig von der Note. | |
## Hilfe aus dem Internet | |
Doch warum Anwälte mit Geld füttern, fragten sich Berliner und Potsdamer | |
Studentenvertreter. Im August haben die Studentenvertretungen der größten | |
Berliner Hochschulen und der ebenfalls stark frequentierten Potsdamer | |
Universität die Seite [1][www.einklage.de] freigeschaltet, um künftige | |
KommilitonInnen darüber zu informieren, welche Chancen sie haben. Erik | |
Marquardt von der Hochschul- und Prüfungsberatung der Technischen | |
Universität (TU) Berlin berät Klagewillige an zwei Tagen in der Woche. „Wir | |
wurden an manchen Tagen fast überrannt.“ Bemerkenswert sei, dass | |
mittlerweile auch,Sehr gut'-Abiturienten kommen. „Das liegt daran, dass die | |
NCs in vielen Fächern stark gestiegen sind. | |
Viele Hochschulen rüsten mittlerweile juristisch auf und lassen sich | |
ihrerseits von Anwälten vertreten. „Wer meint, er muss uns verklagen, kann | |
ziemlich sicher sein, dass er verliert“, sagt Patrick Thurian, der für die | |
Kapazitätsberechnung an der TU Berlin zuständig ist. Er habe persönlich | |
nichts gegen Bewerber, die sich einklagen: „Aber wir müssen auch den | |
Lehrbetrieb aufrechterhalten und die Qualität sichern.“ | |
Für viele ist eine Klage der letzte Strohhalm. Sven hat einen | |
Abidurchschnitt von 3,3. Der NC für sein Wunschstudium liegt deutlich | |
höher. Er bekam vor zwei Jahren zwar einen Platz an der TU Berlin in einem | |
nicht zulassungsbeschränkten Studiengang, doch er droht jetzt an den | |
Mathekursen zu scheitern. „Ich bin bereits zweimal durchgefallen. Wenn ich | |
das dritte Mal durchfalle, werde ich zwangsexmatrikuliert und kann nie | |
wieder studieren. Ich brauche also unbedingt einen Ausweg“, sagt er. Er hat | |
daher im September einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht eingereicht und | |
will so doch noch sein Wunschfach studieren. Die Klagefrist endet am | |
Freitag. | |
TU-Kapazitätsberechner Thurian rechnet damit, dass die Zahl der Eilanträge | |
noch steigt, wenn im Jahr 2012 in Berlin die doppelten Abiturjahrgänge vor | |
den Türen stehen. „Das wird für uns das heißeste und spannendste Jahr. Aber | |
juristisch sind wir gut aufgestellt.“ | |
29 Sep 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.einklage.de | |
## AUTOREN | |
A. Lehmann | |
F. Nestler | |
## TAGS | |
Medizin | |
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