| # taz.de -- Schüler und ihre Familiengeschichte: „Wir bringen Kindern das Fa… | |
| > In fast allen Familien gibt es Migrationserfahrungen. Der Forscher | |
| > Christoph Rass verleiht Schüler*innen in Workshops einen neuen Blick auf | |
| > ihre Familiengeschichte. | |
| Bild: Was macht eigentlich der nach Amerika ausgewanderte Onkel? Bremerhaven 19… | |
| taz: Herr Rass, Sie sind Migrationsforscher und machen seit zwei Jahren | |
| Workshops mit SchülerInnen zu ihrer Familiengeschichte. Wie viele Kinder | |
| haben einen Migrationshintergrund? | |
| Christoph Rass: Eigentlich alle, das ist ja der Ansatzpunkt. In fast jeder | |
| Familiengeschichte gibt es Migration und Mobilität. Schulbücher behandeln | |
| Migration sehr oft als problembehaftetes Thema. Das verfestigt in | |
| heterogenen Schulklassen, die wir heute haben, einen fatalen Diskurs – auf | |
| der einen Seite gibt diejenigen mit „Migrationshintergrund“ und auf der | |
| anderen diejenigen, die scheinbar nichts mit Migration zu tun haben. Und | |
| die mit „Migrationshintergrund“ – in einer durchschnittlichen | |
| Grundschulklasse 14 bis 50 Prozent – sind dann das „Problem“. | |
| Hilft die Auseinandersetzung der Kinder mit ihrer Familiengeschichte | |
| dagegen? | |
| Indem wir mit der Mobilität der Familien arbeiten, Lebensläufe betrachten | |
| und Lebenswege kartieren, wählen wir einen Zugang, bei dem Migration nicht | |
| von vornherein als nur eine Minderheit betreffend wahrgenommen wird. Die | |
| Kinder sprechen über Mobilität nicht mehr in starren Kategorien von | |
| Migration und Sesshaftigkeit oder „Ausländern“ und „Einheimischen“. Sie | |
| können Mobilitätserfahrungen in ihren Familien so als etwas Verbindendes | |
| erkennen. | |
| Wie laufen die Workshops ab? | |
| Wir betrachten gemeinsam die Lebensorte von vier Generationen der Familien | |
| der Kinder. Das sind ungefähr 100 Jahre – die Urgroßeltern der SchülerInnen | |
| waren also am Ende des Ersten Weltkriegs Kinder. Unsere 90-minütigen | |
| Workshops etwa haben einen langen Vorlauf: Es gibt Vorbereitungstreffen und | |
| einen Fragebogen für die Recherchen. | |
| Was machen Sie mit den Daten? | |
| Wir digitalisieren sie und visualisieren die Familienwege auf Landkarten. | |
| So sind Wege zwischen den Orten sichtbar. Es gibt immer kleinere oder auch | |
| größere Bewegungen, welche die Kinder dann entdecken, diskutieren, | |
| vergleichen und dazu Geschichten erzählen. Selbst die kurzen Workshops | |
| lösen schon ganz viel aus und die LehrerInnen arbeiten mit dieser Dynamik | |
| weiter. | |
| Warum haben Sie einen Zeitraum von 100 Jahren gewählt? | |
| Hundert Jahre sind noch im kommunikativen Familiengedächtnis vorhanden und | |
| die Lebenswege bis zu den Urgroßeltern lassen sich in den meisten Fällen | |
| noch zurückverfolgen. In den Familiengeschichten zeichnet sich aber auch | |
| die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ab. In diesem Zeitraum finden | |
| wir alle Facetten von Mobilität und Migration der Moderne, Deportation, | |
| Vertreibung und Flucht ebenso wie Arbeits- und Bildungsmigration oder | |
| Armutswanderung. | |
| Wie unterscheidet sich Migration zwischen damals und heute? | |
| Über ein Jahrhundert werden viele Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar: | |
| Wer vor hundert Jahren vom Land in die Stadt zog, vielleicht über | |
| konfessionelle Grenze hinweg in ein Gebiet mit einem anderen Dialekt, hatte | |
| möglicherweise ein ausgeprägtes Gefühl von Fremdheit am neuen Lebensort – | |
| auch wenn die Wanderung nicht über eine Staatsgrenze ging. Die | |
| Integrationsleistung, die man heute erbringen muss, wenn man als EU-Bürger | |
| innerhalb der Europäischen Union umzieht, wird vielleicht als viel weniger | |
| dramatisch empfunden. | |
| Wie alt sind die Kinder, mit denen Sie die Bewegungsmuster in den Familien | |
| rekonstruieren? | |
| Meist führen wir die Workshops in vierten bis sechsten Klassen durch, haben | |
| sie aber auch schon mit siebten und achten Klassen gemacht. Am spannendsten | |
| und produktivsten ist es aber mit relativ jungen SchülerInnen, da hier die | |
| kategorialen Vorstellungen von Migration und Zugehörigkeit sich noch nicht | |
| verfestigt haben. Bei älteren Kindern ist das anders – die haben häufig | |
| schon viel über gesellschaftliche Hierarchien gelernt, vieles muss also | |
| erst wieder dekonstruiert werden. Man sieht, zwischen den Altersgruppen | |
| passiert etwas, wir bringen ihnen möglicherweise das Falsche bei. | |
| Was für Erkenntnisse ziehen die SchülerInnen denn aus ihrer | |
| Familiengeschichte? | |
| Es kommen viele fast vergessene Geschichten zur Sprache. Selbst bei über | |
| Generationen scheinbar sesshaften Familien, etwa aus der Landwirtschaft, | |
| finden sich dann Vorfahren, die zugewandert sind und eingeheiratet haben. | |
| Vielleicht kommt die Oma aus Breslau und musste nach dem Zweiten Weltkrieg | |
| von dort fliehen. Oder man fragt sich: Was ist eigentlich mit dem Onkel, | |
| der nach Amerika ausgewandert ist? | |
| Was macht es mit den Kindern, darüber nachzudenken? | |
| Es zeigt sich, dass Mobilität und Migration im absolut überwiegenden Teil | |
| der Familien über vier Generationen eine Rolle gespielt hat. Wenn wir an | |
| dem Punkt angekommen sind, werden diejenigen SchülerInnen mit | |
| „Migrationshintergrund“ ein Stück weit anders wahrgenommen. | |
| Haben Sie Beispiele? | |
| Bei einem Mädchen etwa war die Familie in den 1980er Jahren aus Vietnam | |
| geflohen, sie gehörten zu den sogenannten Boat People. Die Kinder stellten | |
| dann fest, dass Fluchterfahrungen auch in anderen Familien zu finden sind, | |
| auch wenn die Kontexte anders sind. Solche Gemeinsamkeiten oder | |
| Ähnlichkeiten stellen die Kinder auch bei Arbeits- oder Bildungsmigration | |
| fest. | |
| Hat das Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Kindern? | |
| In einem anderen Fall erzählte ein Junge stolz von seinem Opa, der nach | |
| Indien gegangen sei, um dort etwas zu bauen. Ein Mitschüler merkte | |
| daraufhin an, dass sein Opa aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, | |
| um hier etwas zu bauen. Diese kleinen Geschichten werden zu verbindenden | |
| Elementen, denn zuvor hätte niemand von ihnen eine Parallele zwischen der | |
| Zuwanderung der „Gastarbeiter“ und den Deutschen, die im Ausland arbeiten, | |
| gezogen. | |
| Hat unsere Gesellschaft eine verzerrte Sichtweise auf Migration? | |
| Mit „Migration“ meinen wir heute die Verlagerung des Lebensortes über eine | |
| internationale Grenze – das ist letztlich eine politische Definition. Davon | |
| wollen wir in den Workshops zunächst Abstand nehmen und erst einmal darüber | |
| sprechen, warum Menschen ihre Lebensorte verlassen. Damit beginnt ein | |
| Hinterfragen von Kategorien. Wer in den 1960er Jahren als Arbeitsmigrant | |
| nach Deutschland kam und schließlich sesshaft wurde – einwanderte – gilt | |
| bis heute als „Gastarbeiter“. Wenn ich als Wissenschaftler ins Ausland gehe | |
| – um dort zu arbeiten – kann ich mich als „Expat“ bezeichnen. | |
| Was für einen Unterschied macht das? | |
| Die einen werden, über Generationen, eine negativ konnotierte Zuschreibung | |
| nicht los, die anderen können sich in privilegierten Kategorien verorten. | |
| Menschen befinden sich in ständigem Wechsel zwischen Verweilen und | |
| Bewegung. Mobilität und Migration prägen die meisten Gesellschaften seit | |
| langem. Das sollte als Normalität akzeptiert werden. Dafür ist es aber eben | |
| wichtig zu verstehen, dass Mobilität stets politischen | |
| Regulierungsversuchen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegt, | |
| die sie gewissermaßen in Migration übersetzen. | |
| Wiederholen sich die Beweggründe für Migration? | |
| Menschen bewegen sich immer dann, wenn sie das Bedürfnis haben, ihr Leben | |
| dadurch zu verbessern. Das kann positiv erfolgen, also etwa zum Arbeiten, | |
| Lernen oder auch zum Heiraten. Bewegung kann aber auch dem Versuch dienen, | |
| Negatives zu vermeiden, so etwa bei einer Flucht. | |
| Nehmen Sie als Migrationsforscher selbst etwas aus den Workshops mit? | |
| Die von uns erhobenen Daten werden nicht weiter ausgewertet. Wir nehmen | |
| aber natürlich viele anregende Beobachtungen mit, darüber etwa, wie weit | |
| das Familiengedächtnis zurückreicht und welche Rolle dabei Migration und | |
| Mobilität spielen, wie sie erzählt und erinnert werden. Bislang sind wir | |
| beispielsweise davon ausgegangen, dass die Erfahrungen von Angehörigen, die | |
| im Zweiten Weltkrieg fliehen mussten, für die Familiengeschichte sehr lange | |
| konstitutiv bleiben. Für die Urenkel spielt diese Geschichte aber kaum mehr | |
| keine Rolle. Außerdem zeigen die Workshops, wie wichtig es ist, reflexiv zu | |
| arbeiten. Die eigentlich politischen Kategorien, mit denen wir auch in der | |
| Forschung arbeiten, zu hinterfragen. Auch das ist eine Idee hinter dem | |
| Projekt – politische Prämissen darüber, was Migration und wer ein Migrant | |
| ist, zu diskutieren. | |
| 6 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jördis Früchtenicht | |
| ## TAGS | |
| Bremerhaven | |
| Jugendliche | |
| Migration | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| DDR | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Integration | |
| Polizei Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Musiker über deutsche Gastarbeiterkultur: Immer die Drecksarbeit gemacht | |
| Ozan Ata Canani ist wohl der erste Gastarbeitersohn, der auf Deutsch sang. | |
| Seine Texte über deutsche Politik und Rassismus sind heute noch aktuell. | |
| Vertragsarbeiter in der DDR: Die Spuren der Madgermanes | |
| 15.000 Mosambikaner arbeiteten als Vertragsarbeiter in der DDR, viele in | |
| Leipzig. Einige gründeten Familien. Nach der Wende mussten sie zurück. | |
| Der Numerus clausus muss weg: Auslese der Besten? Selten so gelacht | |
| Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland ist sehr hoch. Das fängt in den | |
| Schulen an – und zieht sich dank NC bis in die Universitäten. | |
| Integration in Bremerhaven in der Kritik: Ankunft im Ungewissen | |
| Fast ein Jahr lang war in Bremerhaven niemand zuständig für Integration. | |
| Das Sozialdezernat flog im Blindflug – sehr zum Ärger von Ehrenamtlichen. | |
| Probleme an Berliner Polizeiakademie: „Basecap schief auf dem Kopf“ | |
| Azubis mit Migrationshintergrund seien nicht das Problem, sagt Vizechef | |
| Boris Meckelburg. Vielen älteren Kollegen sei diese Veränderung aber fremd. |