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# taz.de -- Integration in Bremerhaven in der Kritik: Ankunft im Ungewissen
> Fast ein Jahr lang war in Bremerhaven niemand zuständig für Integration.
> Das Sozialdezernat flog im Blindflug – sehr zum Ärger von Ehrenamtlichen.
Bild: Blieb in Bremerhaven gerade auf der Strecke: Integration.
Bremen taz | Das Prinzip Chaos bestimmt Bremerhavens Integrationspolitik.
Das jedenfalls bemängelt das demokratische Migrantenforum in einem offenen
Brief an Stadt und Öffentlichkeit. In dem heißt es: „Derzeit tut sich gar
nichts mehr in diesem Bereich.“ Seit März 2017 sei die einzige und wichtige
Koordinierungsstelle für Integration gesundheitsbedingt gänzlich unbesetzt.
Seitdem herrsche in dem „komplexen Themenbereich“ nur noch „Zufall und
Spontaneität“ ohne Planung und Strukturierung. Auf Nachfrage der taz räumt
der Magistrat tatsächlich ein, dass es seit einiger Zeit „Stillstand“
gegeben habe – aber immerhin sei die Stelle nun seit dem 1. Dezember
kurzfristig wieder besetzt worden.
An dieser einen Person hing die Koordination der gesamter
Integrationsarbeit Bremerhavens. Die vergangenen Monate hieß es gegenüber
den EhrenamtlerInnen des demokratischen Migrantenforums immer nur: „Aus
gesundheitlichen Gründen können keine weiteren Aktivitäten folgen.“
In Folge sei ein im städtischen Integrationskonzept vorgesehener Beirat
nicht arbeits- und handlungsfähig gewesen. Normalerweise soll es zwei
Sitzungen pro Jahr geben – 2017 gab es gar keine. Ebenso sei niemand
zuständig für die informellen Treffen beim „Netzwerk für Einwanderer“ –
derzeit drohe die Auflösung, weil die „Stadt sich hier anscheinend nicht in
der Verantwortung sieht“. In diesem Gesprächsforum kommen verschiedene
Vertreter und Stellen aus dem Bereich Integration zusammen, um über
Probleme, Ziele und Handlungsbedarf zu reden: Anbieter von Ausbildungshilfe
und Willkommenskursen, verschiedene Gesprächstreffen, die Kirche und
Wohlfahrtsverbände sowie weitere.
## Sechs Millionen Euro erschlichen
In einem ähnlichen informellen Gesprächskreis wurde 2014 einem breiteren
Kreis von Personen erstmals Ungereimtheiten um den Fall Patrick Öztürk
bekannt. Der Bürgerschaftsabgeordnete, ehemals SPD-Fraktionsmitglied, hatte
mit weiteren Familienmitgliedern mutmaßlich vorgegeben,
Integrationsangebote für größtenteils bulgarische ZuwanderInnen anzubieten
und etwa Nachhilfestunden für Kinder mit Migrationshintergrund falsch über
das Jobcenter abgerechnet. Durch ein Ausbeutungs- und Abhängigkeitssystem
haben die Öztürks mutmaßlich sechs Millionen Euro öffentlicher Gelder
erschlichen, die Staatsanwaltschaft ermittelt, ein parlamentarischer
Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft arbeitet derzeit an dem
Abschlussbericht.
Die damals falsch abgerechneten vermeintlichen Integrationsangebote sind
der Verwaltung und den Jobcenter über Jahre hinweg wenigstens
durchgerutscht, sodass der erhebliche Schaden erst entstehen konnte – die
damalige Erwähnung in dem Gesprächskreis hatte leider keine wirklichen
Handlungen zur Folge. Die Bremerhavener Verwaltung hatte Besserung gelobt.
Dass es nun faktisch fast ein Jahr lang keine Treffen des Beirats für
Integration gab, ist vor diesem Hintergrund delikat.
Denn die fehlende Koordinierungsstelle für Integrationsarbeit wurde
geschaffen, um das Wirken verschiedener Einrichtungen sowie die gesamte
Organisationsarbeit aufeinander abzustimmen, zu evaluieren und auszuweiten.
In einem Organigramm der Stadtverwaltung zur Integrationsarbeit ist die
Stelle der Punkt in der Mitte, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Seit März
war da jedoch nur noch ein schwarzes Loch.
Die Stelle berief halbjährliche Fachsitzungen ein und organisierte jährlich
eine Integrationskonferenz – alles ausgefallen. Solange die Stelle besetzt
war, habe man gute Integrationsarbeit leisten können, so das Migrantenforum
in dem Brief. Ali Can, der seit 35 Jahren in Bremerhaven wohnt und als
Schweißer und Schlosser in Bremen-Blumenthal arbeitet, hat den Brief mit
aufgesetzt.
Seiner Meinung nach ist es vor allem wichtig, ehrenamtliches Engagement zu
bündeln und zu lenken. Er sagt: „Wir haben unser Bündnis gegründet, um
zusammen mit Menschen mit und ohne Migrationshintergrund Anregungen für
Integrationsprozesse zu geben.“ Zweimal jährlich gibt Can eine migrantische
Zeitung heraus, er arbeitete mit bei der Erstellung des
Integrationskonzeptes und war Mitglied im Beirat für Integration – alles
ehrenamtlich.
## Niemand hat den Durchblick
„Seit Anfang dieses Jahres passiert gar nichts“, sagt er, „wir haben
einfach keinen Durchblick. Nicht einmal ein Ansprechpartner vom
Sozialdezernat hat es gegeben.“ Es sei alles im Dunkeln, Transparenz gebe
es überhaupt keine. Es sei ja schon schön gewesen zu wissen, dass man das
Problem erkannt habe, oder zu erfahren, woran es läge, dass die Stelle
nicht neu besetzt werde.
Volker Heigenmooser, Sprecher des Magistrats, sagt: „Es ist nicht so, wie
es aussieht.“ Er kenne die Vorwürfe des migrantischen Demokratieforums und
es sei richtig, „dass in letzter Zeit zu wenig passiert ist“. Auch stimme
es, dass die zuständige Person nicht da gewesen sei. Aber die Frau sei
nicht krank, sondern in Elternzeit gewesen. Und überhaupt, sei es ja „kein
bösartiges Vorgehen“ des Magistrats und des Sozialdezernats. „Wir legen
großen Wert auf Integrationspolitik“, sagt Heigenmooser.
Am Tag nach der taz-Anfrage kann die Stadt immerhin, schlappe neun Monate
nach Beginn der Elternzeit, eine Vertretung aus dem Hut zaubern. Die Stelle
sei seit Monatsanfang wieder besetzt. „Das ist ein Signal“, sagt
Heigenmooser. Zwar gebe es jetzt „erstmal eine Einarbeitungszeit“. Aber
zumindest sei der Stillstand nun erstmal wieder aufgehoben. Außerdem sei
Claudia Schilling (SPD), die genau seit März die Leiterin des Sozialamtes
ist, „durchaus unglücklich“ über den zwischenzeitlichen Stillstand.
## Die Stadt hat gute Vorsätze
Es sei aber falsch, dass man überhaupt keinen Plan habe. Es gebe ja das
44-seitige Integrationskonzept. Das stimmt. An dessen Erstellung arbeitete
auch das demokratische Migrantenforum mit. 2013 war es endlich beschlossen.
Darin steht auch: „Das vorliegende partizipativ erarbeitete Bremerhavener
Integrationskonzept bedarf einer Steuerungsstruktur“ und diese müsse in der
Lage sein, „unterschiedliche Verwaltungsstellen und sonstige Behörden,
Akteure aus Wirtschaft, von freien Trägern, aus Vereinen und Gruppen sowie
aus der Politik in einem kontinuierlichen Kommunikationsprozess
einzubinden“.
Das Papier beschreibt das genaue Gegenteil von der städtischen
Koordinierungsfunktion in der Integrationspolitik in den vergangenen
Monaten: „Integration wird in Bremerhaven als beteiligungsorientierte
Querschnittsaufgabe verstanden.“ Erfolgreich könne Integration nur sein,
wenn „klare und verbindliche Verabredungen über Zuständigkeiten und
Verantwortlichkeiten vorliegen“.
Das hat es jedenfalls seit fast einem Jahr in Bremerhaven nicht mehr
gegeben. Can sagt: „Das heißt nicht, das nichts passiert. Wir wissen, dass
viel geschieht. Viele Deutsche und Migranten engagieren sich ehrenamtlich
in Bremerhaven – es gibt viel zivile Solidaritätsbereitschaft. Das macht
Mut und hat mich auch überrascht, aber das Amt kümmert sich nicht darum.“
Es sei Aufgabe der Stadt, das Engagement zu kanalisieren. Denn sonst hätten
„Integrationshändler“ wie Öztürk neue Spielwiesen zum Austoben, sagt Can.
Integrationskurse seien inzwischen ein regelrechter Wirtschaftszweig, sagt
der Ehrenamtler, „man braucht ein Forum, um darüber zu reden“.
Ali Can hofft, dass es nun wieder besser wird. Das sei besonders wichtig in
Zeiten wie diesen, in denen „rassistische und nationalistische
Einstellungen wieder salonfähig gemacht werden und sich bis in den
Bundestag verbreiten“. Integration dürfe nicht als Thema ohne
Handlungsbedarf vernachlässigt werden.
4 Dec 2017
## AUTOREN
Gareth Joswig
## TAGS
Integration
Bremerhaven
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