# taz.de -- SPD-Abgeordneter unter Betrugsverdacht: Ein System der Ausbeutung | |
> Der Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses | |
> belastet den Bremer Bürgerschaftabgeordneten Patrick Öztürk schwer. | |
Bild: Bis heute ausgesessen: Patrick Öztürk bei einer Stellungnahme zu den Vo… | |
BREMEN taz | In einem waren sich die Mitglieder des parlamentarischen | |
Untersuchungsausschusses einig: Der Hauptschuldige ist ein Kollege. | |
Patrick Öztürk, fraktionsloser Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft und | |
Noch-SPD-Mitglied, organisierte zusammen mit seinem Vater Selim Öztürk mit | |
hoher krimineller Energie ein Betrugssystem, an dem die beiden sich | |
maßgeblich bereicherten. Zu diesem Ergebnis kommt der am Mittwoch in Bremen | |
vorgestellte [1][Abschlussbericht des parlamentarischen | |
Untersuchungsausschusses „Sozialbetrugsverdacht“]. Eine erhebliche | |
Mitschuld sieht der Ausschuss dabei in der Untätigkeit und Trägheit der | |
Bremerhavener Behörden. | |
Anfang 2016 war der Fall erstmals bekannt geworden. Der | |
Bürgerschaftsabgeordnete Öztürk stritt eine Verwicklung ab und weigert sich | |
seitdem, von seinem Mandat zurückzutreten. Zur Aufklärung trug er nichts | |
bei, vor dem Untersuchungsausschuss schwieg er. Bei der Veröffentlichung | |
ihres Abschlussberichtes forderten die Mitglieder des Ausschusses erneut, | |
dass Öztürk endlich zurücktreten müsse. | |
Mittels zweier von ihnen gegründeter Vereine statteten der SPD-Politiker | |
und sein Vater über 1.000 Zugewanderte mit gefälschten Arbeitsverträgen | |
aus, damit diese Sozialleistungen kassieren konnten. Die Betroffenen waren | |
überwiegend Angehörige einer türkischsprachigen Minderheit aus Bulgarien, | |
die meisten von ihnen aus Varna am Schwarzen Meer. Einen großen Teil der | |
Gelder forderten die Vereine sofort wieder zurück – für in Anspruch | |
genommene „Leistungen“ wie Übersetzungen, Papierkram sowie | |
Nachhilfestunden, die nie stattgefunden haben. | |
Drei Jahre lang, von 2013 bis 2016, hielten die Öztürks dieses System | |
aufrecht. Den so entstandenen Schaden bezifferten die Abgeordneten auf rund | |
sieben Millionen Euro. Auch weil der massenhafte Betrug erst so spät | |
aufgeflogen war und die Bremerhavener Verwaltung weitgehend ohnmächtig | |
wirkte und spät bis gar nicht reagierte, setzte die Bürgerschaft den | |
Untersuchungsausschuss ein. | |
Die Geschädigten sind den Parlamentariern zufolge nicht nur die | |
SteuerzahlerInnen, sondern auch die betroffenen Zugewanderten aus | |
Bulgarien. Sie hätten zwar im strafrechtlichen Sinne Sozialbetrug gegenüber | |
dem Jobcenter begangen, seien allerdings gleichzeitig gefangen gewesen in | |
einem „profitorientierten Netzwerk aus Abhängigkeiten und Ausbeutung“, das | |
systematisch um sie herum aufgebaut worden sei und so „die Notlage dieser | |
Menschen ausgenutzt hat.“ | |
In der Praxis sah das so aus: Durch die fingierten Arbeitsverträge und | |
Rechnungen wurde dem Jobcenter eine Erwerbstätigkeit oder Selbstständigkeit | |
in geringem Umfang vorgetäuscht, sodass die zugewanderten BulgarInnen, die | |
als EU-AusländerInnen normalerweise nicht zu Sozialhilfe berechtigt wären, | |
einen Anspruch auf aufstockende Leistungen erhielten. | |
Einen Teil der erhaltenen Gelder mussten die Betroffenen für ihre | |
unverhältnismäßig hohe Miete entrichten. Viele waren in de facto | |
unbewohnbare Schrottimmobilien vermittelt worden. | |
„Oftmals blieb den Familien zum Leben nur noch das Kindergeld“, so der | |
Vorsitzende des Ausschusses Nelson Janßen von der Linkspartei. Sie seien | |
gleichzeitig Täter und Opfer eines ausbeuterischen Systems gewesen, dem sie | |
in vielen Fällen hilflos gegenüber standen. Viele stammten aus den ärmsten | |
Regionen Europas, seien Analphabeten und kennen sich nicht mit dem | |
deutschen Rechtssystem, geschweige denn Behördendeutsch aus. | |
Eine erhebliche Mitschuld trifft bei dem Skandal die Bremerhavener | |
Behörden. Seit 2013 seien Beschäftigten im Jobcenter „Besonderheiten“ bei | |
den Anträgen aufgefallen – unter anderem seien immer dieselben Dolmetscher | |
ein- und ausgegangen, die auch den MitarbeiterInnen des Jobcenters | |
gegenüber aggressiv auftraten. Die vorgelegten Arbeitsverträge und | |
Rechnungen glichen sich auffällig. | |
## Niemand fühlte sich zuständig | |
Das Jobcenter meldete die Unregelmäßigkeiten 2014 dem Zoll. Dort lag der | |
Vorgang eineinhalb Jahre herum – mit dem Ergebnis, dass sich das | |
Hauptzollamt als „nicht zuständig“ erklärte, weil es sich ja nicht um | |
Schwarzarbeit handele. Der Magistrat und die Bremerhavener Sozialbehörde | |
fühlten sich auch nicht verantwortlich, obwohl die humanitären Missstände, | |
unter denen die Zugewanderten lebten, hinlänglich bekannt waren. Erst im | |
August 2015 stellte der Chef des Jobcenter Strafanzeige bei der Polizei | |
wegen Betrugs. | |
„Wenn die Informationen weitergegeben worden wären, wäre die Schadenssumme | |
erheblich reduzierbar gewesen“, sagte Janßen. Mangelndes | |
Verantwortungsgefühl und fehlende Kommunikation hätten den Betrug erst | |
ermöglicht. Insbesondere der ehemalige Sozialdezernent Klaus Rosche (SPD), | |
die Sozialamtsleiterin, Astrid Henriksen, und der Leiter des Jobcenters, | |
Friedrich Wilhelm Gruhl, seien dafür verantwortlich. | |
Die juristischen Ermittlungen dauern weiter an. Die Staatsanwaltschaft | |
ermittelt gegen Öztürk, dessen Vater und zwei weitere Personen wegen | |
Beihilfe zum Betrug, ebenso wegen Betrugs gegen 530 Leistungsempfänger. Mit | |
einem Abschluss der Ermittlungen sei frühestens im Sommer 2018 zu rechnen. | |
1 Feb 2018 | |
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[1] http://www.bremische-buergerschaft.de/uploads/media/PUA-Bericht_2018-01-31_… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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