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# taz.de -- Hochschulzugang für Flüchtlinge: Die Sache mit dem Zeugnis
> Bildung ist der Schlüssel zur Integration, heißt es. Aber was, wenn ein
> Flüchtling aus Syrien in Deutschland sein Wirtschaftsstudium fortsetzen
> will?
Bild: Ein langer Weg in den Hörsaal: Mohammed Deaa al-Ghazawi steht am Tor der…
Mohammed Deaa al-Ghazawi hat schlecht geschlafen. Er ist aufgeregt, was der
kommende Tag bringen wird. Seit sechs Monaten ist der 20 Jahre alte Syrer
in Deutschland. Bevor ihn die Fassbomben des Regimes in die Flucht trieben,
studierte er zwei Semester an der Wirtschaftshochschule in Daraa an der
Grenze zu Jordanien. Nun endlich, an einem sonnigen Oktobertag, will er
seinem Ziel ein großes Stück näher kommen. Er will sein Wirtschaftsstudium
fortführen.
Al-Ghazawi steuert sein blaues Mountainbike auf das Hauptgebäude der
Humboldt-Universität Berlin zu, vorbei an den Statuen von Wilhelm und
dessen Bruder Alexander, vorbei am Bücherflohmarkt, auf dem Touristen und
Studenten nach Antiquitäten wühlen.
Für Denkmäler und Bücher hat al-Ghazawi an diesem Tag keinen Blick. Er ist
gekommen, um sich an der Universität einzuschreiben. Er sperrt sein Rad ab
und sucht auf den Wegweisern in der Eingangshalle des Hauptgebäudes nach
dem Wort, von dem er sich Hilfe verspricht: Studierenden-Servicecenter.
Wie viele Flüchtlinge derzeit an Berliner Hochschulen studieren, wird von
keiner Statistik erfasst. Viele können es aber nicht sein. Bis vor Kurzem
stempelte die Berliner Ausländerbehörde jedem Schutzsuchenden ein „Studium
nicht gestattet“ in den Asylantrag, eine bundesweit einzigartige Regelung.
Jetzt werden anerkannte Flüchtlinge an den Berliner Hochschulen wie jeder
andere ausländische Studierende behandelt – zumindest in der Theorie.
## Viele Menschen aus Syrien
Für Fächer mit Numerus clausus heißt das: fünf bis acht Prozent der
Studienplätze werden für ausländische Studierende freigehalten. Flüchtlinge
müssen sich also nicht gegen deutsche Abiturienten, sondern gegen Bewerber
aus aller Welt durchsetzen. Sie werden behandelt wie Studenten aus
Frankreich und den USA. Deutschen dürfen sie keine Studienplätze wegnehmen.
Rund 9.500 Ausländer haben sich für das Wintersemester an Berliner
Hochschulen beworben, darunter 650 Syrer, doppelt so viele wie im Vorjahr.
Bundesweit stellen sie die drittgrößte Bewerbergruppe dar. Aber bekommen
sie auch einen Studienplatz?
Stuhlkreis im Servicecenter der Humboldt-Universität. Es ist die vierte und
letzte Sonderberatung für Flüchtlinge vor Semesterbeginn. Etwa 30
Geflüchtete, mehr Männer als Frauen, sitzen in bequemen Sesseln zwischen
den Marmorsäulen im ehrwürdigen Hauptgebäude der Hochschule. Fast alle von
ihnen sind aus dem Nahen Osten, aus Ägypten, dem Iran und Irak und aus
Syrien. Sie alle wollen in Deutschland studieren.
Die Tutorin beginnt die Beratungsstunde. Sie spricht deutsch, und sie
spricht schnell. Eine Syrerin, die neben al-Ghazawi sitzt und sich auch für
ein Studium interessiert, übersetzt ins Arabische. Um sich an der
Universität einschreiben zu können, erfahren die Anwesenden, bräuchten sie
eine Aufenthaltsgenehmigung, ausreichende Deutschkenntnisse und ein
Schulzeugnis, das dem Abitur gleichgestellt ist. Doch all das hat
al-Ghazawi nicht.
## Kein Einstufungssystem
Mindestens 800.000 Flüchtlinge werden in diesem Jahr in Deutschland
erwartet. Wie viele davon ein Studium beginnen oder weiterführen wollen,
weiß niemand. Der frühere Berliner Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner,
heute Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung, rechnet mit 50.000: „Das wird
die kommenden Jahre ein quantitatives Problem.“
Im August hat die Friedrich-Ebert-Stiftung die Länderministerien nach den
Hürden für Flüchtlinge gefragt, die studieren wollen. Das Ergebnis:
Prinzipiell stehen die Hochschulen den Flüchtlingen offen. Es fehlten aber
Plätze an Universitäten und an Studienkollegs, ausreichend Sprachkurse und
ein bundesweites System für die Einstufung derer, die ihr Studium in ihrer
Heimat abbrechen mussten.
Doch allmählich öffnen sich die Hochschulen für Flüchtlinge. Fast täglich
stellt eine andere ihren Beitrag zur Integration vor. Ob in [1][Halle],
[2][Frankfurt (Oder)], [3][Potsdam] oder [4][Mainz], Universitäten im
ganzen Land versprechen qualifizierten Geflüchteten einen unbürokratischen
Hochschulzugang. Die politische Debatte der letzten Monate hat auch die
Wissenschaft erfasst.
Der Schlüssel zur Integration ist die Bildung, da sind sich
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, Oppositionsparteien, Länder und
Hochschulen einig. Unklar hingegen ist, wie oft in der föderalen
Bildungsrepublik, wer bezahlt.
## Nur Gasthörerschaft
Im September hat der Bund 2.500 neue Studienkollegplätze versprochen. Ab
Januar sollen anerkannte Flüchtlinge ohne Wartezeit Bafög erhalten.
Geduldete Personen müssen 15 Monate in Deutschland gewohnt haben, zuvor
waren es noch vier Jahre. Alles Weitere müssen die Bundesländer bezahlen –
und regeln.
Von Land zu Land sind die Zulassungshürden jedoch unterschiedlich hoch. Die
meisten bieten bisher nur eine kostenlose Gasthörerschaft an. Gasthörer
dürfen nur wenige Vorlesungen pro Woche besuchen. Sie sind weder als
Studenten immatrikuliert, noch dürfen sie Studienleistungen erbringen.
In der Sprechstunde wird al-Ghazawi klar, dass er sein Wirtschaftsstudium
nicht fortsetzen darf: Sein Zeugnis aus Syrien, Sprachkenntnisse und eine
Aufenthaltsgenehmigung, all das kann er bis zum Semesterbeginn nicht
nachweisen. Für ihn kommt nur eine Gasthörerschaft infrage. Die Tutorin
versucht, das Angebot bei den Flüchtlingen zu bewerben.
„Wer sich bis Ende Oktober einschreibt, für den ist die Gasthörerschaft
kostenlos“, sagt sie. Sie lässt einen Zettel herumgehen, auf dem die
Anwesenden ihre E-Mail-Adresse und den gewünschten Studiengang eintragen
können. Die Tutorin verspricht gezielte Informationen und Ansprechpartner.
## „C1-Niveau“
Auf die Frage, ob Gaststudenten Prüfungen ablegen und Leistungen anerkennen
lassen könnten, für den Fall, dass sie später regulär studieren, reagiert
sie ausweichend: Das hänge vom Dozenten und der entsprechenden
Prüfungsstelle ab. „Für mich ist das besser, als nichts tun“, wird
al-Ghazawi später sagen. Er sieht unglücklich dabei aus.
Nach der schlechten Nachricht können die Flüchtlinge Fragen stellen: Ein
syrischer Augenarzt will wissen, wie er einen deutschen Abschluss nachholen
kann. Ein afghanischer Bauingenieur erkundigt sich in makellosem Deutsch
nach einem richtigen Studium. „C1-Niveau“, murmelt jemand neidisch.
In den Sondersprechstunden für Flüchtlinge haben sich alle Interessierten
nach einem regulären Studium erkundigt, bestätigt eine Pressesprecherin der
Universität. Viele hätten bereits Kurse in ihrem Heimatland besucht, manche
hätten sogar einen Abschluss. Die meisten seien ein bis anderthalb Jahre in
Deutschland, manche hätten sogar ihre Unterlagen mitgenommen:
Schulabschlüsse, Masterdiplome, Deutschzertifikate.
Auch al-Ghazawi will der Universität so bald wie möglich seine
Deutschkenntnisse nachweisen. Doch einen offiziellen Sprachkurs darf er
erst dann belegen, wenn ihn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für
schutzwürdig befunden hat. „Bei anderen Syrern hat das nur zwei Monate
gedauert“, sagt er ratlos.
## Eine Kopie genügt nicht
Anfangs lernte al-Ghazawi täglich in einer öffentlichen Bibliothek Deutsch.
Momentan besucht er einen ehrenamtlichen Deutschkurs an der
Begegnungsstätte der Berliner Volkssolidarität in Mitte. Sein Cousin in
Hannover hatte ihm einen Facebook-Link geschickt.
Was al-Ghazawi unruhig macht, sind die vielen offenen Fragen. Ob sein
syrischer Schulabschluss als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt wird,
weiß er nicht. Das Original hat er in Daraa zurückgelassen. Das Foto auf
seinem Smartphone reicht nicht als Nachweis. Er braucht das Original des
Dokuments, selbst eine Kopie würde nicht genügen.
Derzeit überlegt die Kultusministerkonferenz, wie sie eine Regelung aus dem
Jahr 1985 anpassen kann. Demnach ist ein „indirekter Nachweis der
Hochschulzugangsberechtigung möglich“, wenn Studierende die Unterlagen aus
„politischen Gründen“ nicht erbringen können. Derzeit wird diese Regelung
unterschiedlich ausgelegt.
Manche Hochschulen begnügen sich mit eidesstattlichen Versicherungen oder
prüfen Fachwissen aus einem begonnenen Studium. Die Kultusminister
empfehlen den Hochschulen, bei der Einzelfallprüfung nicht zu strenge
Maßstäbe anzulegen. „Heute haben alle Fotos von Zeugnissen in der Cloud
gespeichert, da müsste es eine Möglichkeit geben“, sagt Lars Fähling, der
bei der Universität Potsdam daran arbeitet, Flüchtlingen den
Hochschulzugang zu erleichtern. Das müsste jedoch gesetzlich geregelt
werden.
## Ein wiederkehrendes Problem
An der Humboldt-Universität ist eine Einstufungsprüfung für Geflüchtete mit
Studiumserfahrung bisher nicht möglich. Al-Ghazawi darf seine Kenntnisse in
Betriebswirtschaft und VWL also nicht in einem Test nachweisen. Die
Hochschule rechtfertigt sich: „Eine Wissensabfrage wäre sehr aufwendig. Man
müsste für jedes Fachsemester eine eigene Prüfung erstellen“, sagt Steffan
Baron, Leiter der Studienabteilung.
Einen solchen Fall habe es an der Hochschule noch nicht gegeben. Doch mit
jedem Flüchtling, der sein Studium fortsetzen will, stellt sich das Problem
wieder.
In allen Bundesländern scheint der Wille vorhanden zu sein, sich für
Flüchtlinge zu öffnen. Doch die Bürokratie setzt enge Grenzen. Und der
Umfang des Problems ist noch nicht erkannt: Der Berliner Senat hat zwar
angekündigt, dass er die Zugangshürden für Flüchtlinge abbauen und die
Kosten für Gasthörerschaften und die Aufstockung von Studienkollegplätzen
und Sprachkursen übernehmen will.
## Kompliziertes Verfahren
Zudem lobt das Berliner Studentenwerk 50 Starthilfestipendien über 1.000
Euro aus, um einmalige Kosten wie die Anerkennung von Studienleistungen
oder Verwaltungsbeiträge zu decken. Doch den Universitäten fehlt jede
Vorgabe der Politik, für wie viele Studenten sie planen sollen.
Auch nach einer Woche hat Deaa al-Ghazawi die versprochene E-Mail mit
Studieninformationen von der Tutorin nicht bekommen. Bei einem Freund
versucht er, den Gasthörerantrag auszufüllen. „Es ist sehr kompliziert“,
sagt er. In Syrien habe er sich für das Studium einfach eingeschrieben.
Jetzt muss er herausfinden, welche der vielen Vorlesungen und Seminare
einen guten Überblick verschaffen.
Er ist sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch Wirtschaft studieren
will. Als er das Formular ausgefüllt hat, hat er auch ein Angebot auf
Arabisch gewählt: einen Kurs zu Integrations- und Migrationsforschung.
Neben al-Ghazawi haben sich noch 35 weitere Geflüchtete an der
Humboldt-Universität für eine Gasthörerschaft beworben. An der Technischen
Universität waren es 45. Es werden vermutlich mehr werden.
## Viele Hürden zum Studium
Ein Teil der Asylsuchenden wird dauerhaft in Deutschland bleiben. Für diese
Menschen sei es bedeutsam, so heißt es aus dem Senat, „dass möglichst
frühzeitig die erforderlichen Schritte für eine gelingende Integration in
die hiesige Gesellschaft eingeleitet werden“. Al-Ghazawis Erfahrungen
zeigen, dass dieser Einsicht noch Taten folgen müssen.
Al-Ghazawi muss sich im Wintersemester damit begnügen, nur zu Gast zu sein.
Bevor er richtig studieren kann, muss sein Asylantrag bewilligt werden, er
muss die nötigen Zeugnisse beschaffen und einen der wenigen Studienplätze
für Ausländer bekommen. Und wovon soll er sein Studium bezahlen?
Arbeiten darf er in Deutschland erst nach 15 Monaten. Trotzdem will er
wiederkommen, im nächsten Semester, vielleicht in einem Jahr. Dann werden
al-Ghazawi und viele andere Flüchtlinge die nötigen Unterlagen, eine
Aufenthaltsgenehmigung und die nötigen Sprachkenntnisse haben.
Das wissen auch die Universitäten. Christian Thomsen, Präsident der
Technischen Universität Berlin, rechnet mit zehnmal so vielen Bewerbern:
„Der Run startet kommenden Herbst.“
19 Oct 2015
## LINKS
[1] http://www.fluechtlinge.uni-halle.de/?lang=de
[2] http://www.europa-uni.de/de/struktur/zse/pressestelle/medieninformation/184…
[3] http://www.uni-potsdam.de/en/pressreleases/detail-latest/article/2015-09-23…
[4] http://www.magazin.uni-mainz.de/3878_DEU_HTML.php
## AUTOREN
Ralf Pauli
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