| # taz.de -- Debatte Jamaika-Aus: Berlin ist nicht Weimar | |
| > Deutschland holt auf in Sachen politischer Unberechenbarkeit. Noch ist | |
| > aber unklar, wie disruptiv Lindners Populismus auf die Politik wirkt. | |
| Bild: Ob es zu einer Neuwahl kommt, wird die Zukunft zeigen | |
| Nach dem spektakulären [1][Abbruch der Sondierungsverhandlungen] in der | |
| Nacht auf Montag drängt eine sehr deutsche Frage wieder an die Oberfläche: | |
| Drohen Weimarer Verhältnisse? | |
| Aber ist das überhaupt die richtige Frage? | |
| Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik musste [2][der Ausweg aus | |
| gescheiterten Koalitionsoptionen] mit Neuwahlen begangen werden. | |
| Regierungswechsel wurden relativ geordnet entweder durch Wahlen oder | |
| mittels Misstrauensvoten vollzogen, konstruktiven wie nicht konstruktiven. | |
| Regierungsfähigkeit war stets gegeben. Und nun drohen nach vierwöchigem | |
| Theater um die Sondierungsverhandlungen eine Neuwahl im Frühjahr, Ausgang | |
| ungewiss. | |
| Ungewissheit bringen diese Verhältnisse nicht nur für die parteipolitischen | |
| Pokerspieler/innen, die Wahlkampfmanager/innen und all ihre medialen | |
| Begleiter/innen. Es sind auch reale politische Entscheidungen, die vertagt, | |
| Investitionen, die aufgeschoben werden. Die deutsch-französischen Pläne für | |
| die Veränderung der Europäischen Union liegen auf Eis, genauso wie zentrale | |
| Klimabeschlüsse – etwa der dringend notwendige Beschluss zum Ausstieg aus | |
| der Braunkohle – nicht vorangetrieben werden können. Die hegemoniale Kraft | |
| der Bundesregierung ist geschwächt. Das Vertrauen in die etablierten | |
| Parteien könnte in diesem Prozess gefährlich erodieren. | |
| Die FAZ hat im Frühjahr [3][in einer Expert/innen-Serie] die Weimar-Frage | |
| gestellt. Allesamt attestierten die Autor/innen Deutschland gerade seiner | |
| Geschichte wegen ein stabiles politisches System. „Wie schnell sich ein | |
| politisches Klima wandeln kann“, warnte dennoch der Politikwissenschaftler | |
| Jürgen Falter, „zeigen die Erfolge der Populisten in Frankreich, Holland, | |
| Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder Österreich. Die Anzeichen | |
| einer allmählichen Erosion der Grundfesten des demokratischen Systems im | |
| Westen sind unübersehbar – und Deutschland ist keine Insel.“ | |
| ## Die Unruhe, die den freien Westen schüttelt | |
| Dennoch gilt der Satz, den der Schweizer Publizist Fritz René Allemann in | |
| der frühen Bundesrepublik geprägt hat und der in turbulenten Zeiten wie | |
| etwa nach der Wiedervereinigung immer wieder zitiert wurde: „Bonn ist nicht | |
| Weimar.“ Die deutsche Wirtschaft 2017 floriert, der Staatshaushalt hat | |
| Verteilungsspielraum. Und trotz wachsender Ungleichverteilung von Vermögen | |
| protestieren auf den Straßen keine Menschen, denen durch die Inflation das | |
| tägliche Brot fehlt. | |
| Berlin ist nicht Weimar. Auch weil Deutschland aktuell keinen Sonderweg | |
| geht. Vielmehr kommt nun auch nachholend in Deutschland jene Unruhe an, die | |
| den freien Westen seit einigen Jahren schüttelt. Genau darin liegt das | |
| Problem. Und das ist größer als die Weimar-Frage. | |
| Im November 2016, Donald Trump war gerade zum 45. US-Präsidenten gewählt | |
| worden, besuchte Barack Obama Berlin. Der Noch-Präsident führte lange | |
| Gespräche mit der deutschen Bundeskanzlerin. Im Wissen um die aufgeladene | |
| Stimmung nach der sogenannten Flüchtlingskrise forderte er die Deutschen | |
| auf, sie sollten Angela Merkel wertschätzen. Mitgebracht hatte er noch ein | |
| Gastgeschenk der besonderen Dimension: den Staffelstab für die Führung der | |
| freien westlichen Welt. | |
| Angela Merkel wehrte sich schnell gegen diese Zumutung. Die | |
| Hoffnungsträgerin Europas und gleich der Demokratie an sich zu sein schien | |
| ihr vermessen. Ihrem Ansehen, insbesondere in der angelsächsischen Welt, | |
| die erst durch den Brexit, dann durch die Wahl Donald Trumps erschüttert | |
| wurde, schadete das nicht. Ihr Verweis auf die geteilte europäische | |
| Verantwortung qualifizierte sie umso mehr. | |
| Die Worthülse vom „leader of the free world“ begleite sonst den Präsident… | |
| der Vereinigten Staaten von Amerika, „manchmal auch ohne ironische | |
| Konnotation“, schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash im | |
| Guardian. Nun sei er verleitet, Angela Merkel diese Rolle zuzuschreiben. | |
| Die New York Times titelte: „Nach Donald Trumps Wahl bleibt Angela Merkel | |
| die letzte Verteidigerin des freien Westens.“ | |
| ## Die Kraft des Populismus | |
| Populismus und Wirtschaftskrisen machen aus der Europäischen Union eine | |
| bedrohte Art, Donald Trump wütet in den Vereinigten Staaten, Recep Tayyip | |
| Erdoğan entfernt die Türkei immer weiter von den Werten des Westens: | |
| Inmitten dieser Verschiebungen der politischen Koordinaten erschien bislang | |
| das politisch wie wirtschaftlich stabile Deutschland als Insel der Seligen. | |
| „Bleibt Merkel Kanzlerin?“, fragten zuletzt deshalb besorgte Kollegen aus | |
| Frankreich. Schließlich hängt an einer stabilen Merkel-Regierung auch die | |
| Zukunft des gemeinsamen Europa-Projekts. „Schafft es Angela Merkel, diese | |
| Verhandlungen jetzt mal zu ordnen?“, erkundigten sich US-Amerikaner, die | |
| trotz oder gerade wegen der Verhältnisse im eigenen Land auf den freien | |
| Westen hoffen. In der Nacht zu Montag hat nun auch Deutschland das Phänomen | |
| der Unberechenbarkeit politischer Prozesse erreicht. | |
| Es ist kein Zufall, dass es ein Jungpolitiker wie Christian Lindner ist, | |
| der auf die disruptive Kraft des Populismus setzt. Der FDP-Chef ist noch | |
| nicht fest in das alte System der bundesrepublikanischen Politik | |
| eingebunden. Es fällt ihm leicht, sich den Spielregeln der Altparteien zu | |
| verweigern. Lindners Kalkulation war offensichtlich recht schlicht: Zur | |
| Wahl standen einerseits ein warmer Sessel in einem Ministerium innerhalb | |
| einer unerfreulich komplizierten Koalition und andererseits das Experiment, | |
| noch einmal auszuloten, welches Potenzial rechts der Union und links der | |
| AfD liegen geblieben ist. | |
| Bislang waren es nur die völkischen Gestalten von der AfD, die den Impetus | |
| eines Donald Trump (USA) oder eines Viktor Orbán (Ungarn) ins politische | |
| Geschäft der Bundesrepublik getragen haben. Lindners Entscheidung geht nun | |
| wie eine zweite Schockwelle durch das Land. | |
| Noch ist nicht klar, welche Folgen [4][sein Spiel] haben wird. Man muss | |
| aber Angela Merkel recht geben, die von einem „fast historischen Tag“ für | |
| Deutschland spricht. Welche zerstörerische Kraft die FDP in dieser Nacht | |
| der gescheiterten Sondierungen entfaltet hat, wird erst im Nachhinein | |
| bewertet werden können. | |
| 21 Nov 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sondierungen-gescheitert/!5465454 | |
| [2] /Optionen-fuer-die-Regierungsbildung/!5465486 | |
| [3] http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/weimarer-verhaeltnisse-app… | |
| [4] /Kommentar-Jamaika-Abbruch-durch-FDP/!5465474 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Junge | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Sondierung | |
| Jamaika-Koalition | |
| FDP | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Populismus | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Jamaika-Koalition | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Jamaika-Koalition | |
| Jamaika-Koalition | |
| Kanzlerkandidatur | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Jamaika-Koalition | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Jamaika-Koalition | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Was wir Christian Lindner verdanken: Chaos für die deutsche Streberseele | |
| Deutschland hat das Image, immer korrekt zu sein. Mit dem Ende von Jamaika | |
| ist das Zeitalter der Planbarkeit vorbei. Das ist gut so. | |
| Lindner und die Zukunft der FDP: Der Gegen-Merkel | |
| Was treibt den Mann an, der Jamaika platzen ließ? Christian Lindner glaubt | |
| tatsächlich, seine FDP so weiter zu stärken. Eine Analyse. | |
| Politiker auf Kuschelkurs: FDP-Mann glaubt an die AfD | |
| Der Bremer FDP-Mann war bisher ziemlich unauffällig. Jetzt wirbt er für | |
| eine sogenannte Bahamas-Koalition. Also CDU, FDP, AfD | |
| Deutschland ist führerlos: Wir werden alle sterben! | |
| Die Polizei schießt auf Plünderer und in der Ferne brennt mal wieder der | |
| Reichstag – gähn! Woche eins im Failed State Deutschland. | |
| Debatte gescheiterte Regierungsbildung: Wie wär's mit Casting statt Wahlen? | |
| Bei „Deutschland sucht die Superregierung“ würden FDP und AfD gewinnen. Das | |
| wäre das Ende der Sozialromantik, Verlierer würden recycelt. | |
| SPD nach dem Aus für Jamaika: Risse in der Mauer | |
| In der SPD-Fraktion stößt der Neuwahl-Kurs von Martin Schulz auf Skepsis. | |
| Auch Bundespräsident Steinmeier macht Druck. | |
| Kommentar Minderheitsregierung: Kein Grund für eine Neuwahl | |
| Ohne das starre Korsett einer Koalition würde deutlicher, wo die Parteien | |
| thematische Schnittmengen haben. Es wäre auch gelebte Demokratie. | |
| Kommentar SPD nach dem Jamaika-Aus: Wer putscht gegen Schulz? | |
| Das Personaltableau der SPD ist dünn – und dennoch scheint alles besser als | |
| eine erneute Kandidatur von Schulz. | |
| SPD nach dem Scheitern von Jamaika: Ohne Plan B | |
| Das Aus für Jamaika hat die SPD auf dem falschen Fuß erwischt. Sie will | |
| Neuwahlen – und muss sich in vielen Fragen entscheiden. | |
| Vier Wochen Jamaika: Ende einer Affäre, vor deren Beginn | |
| Die Sondierunggespräche sind in der Nacht zum Montag geplatzt. Und alle | |
| zeigen auf Christian Lindner als den Schuldigen. | |
| Merkels Macht in der Union: Angeschlagen, aber ohne Konkurrenz | |
| Was bedeutet die geplatzte Jamaika-Regierung für die Bundeskanzlerin? | |
| Merkels Kritiker sehen ihr Ende gekommen – doch dafür spricht nicht viel. | |
| Steinmeier zu Regierungsbildung: Neuwahl eher ungern | |
| Die Auflösung des Bundestags führt nur über den Bundespräsidenten. | |
| Frank-Walter Steinmeier hat aber gute Gründe, zu zögern. | |
| Linke Grüne zu Jamaika-Aus: „Die Zerreißprobe bleibt uns erspart“ | |
| Die Berliner Abgeordnete Canan Bayram war nicht überrascht vom | |
| Jamaika-Ende. Sie kündigt eine Debatte über die Zugeständnisse der grünen | |
| Verhandler an. | |
| Ökonomie und Jamaika: Erstmals allgemeine Verunsicherung | |
| Das Scheitern von Jamaika steckt die Wirtschaft weg. Doch unklare Zeiten | |
| sind für die stabilitätsverwöhnten Exportweltmeister neu. |