| # taz.de -- Vier Wochen Jamaika: Ende einer Affäre, vor deren Beginn | |
| > Die Sondierunggespräche sind in der Nacht zum Montag geplatzt. Und alle | |
| > zeigen auf Christian Lindner als den Schuldigen. | |
| Bild: Neue beste Freunde? | |
| Berlin taz | Vielleicht sind Christian Lindner über Nacht Zweifel gekommen, | |
| ob das alles wirklich eine gute Idee gewesen ist. Als ein Reporter am | |
| Montag in der FDP-Zentrale eine kritische Frage stellt, blafft ihn der | |
| FDP-Chef an: „Sie können gerne schreiben, es ist gescheitert, weil die FDP | |
| zu unflexibel ist.“ Lindner wirkt angefasst, aber er bemüht sich um einen | |
| staatstragenden Sound. Die FDP, sagt er, habe „das nicht leichtfertig | |
| entschieden“. Sie habe es für ihre „staatspolitische Verantwortung | |
| gehalten, nicht in die Regierung einzuziehen“. | |
| Doch: Lindner hat sich verzockt. Er gilt nun als der Bad Guy, der Bösewicht | |
| in dem Spiel, das nun im politischen Betrieb Berlins beginnt. Er sei vor | |
| der Verantwortung geflohen, heißt es. Sein hasardeurhafter Ausstieg aus dem | |
| sich zaghaft fügenden Jamaika-Bündnis bringe die Republik zum Beben, lautet | |
| der Vorwurf. Bundespräsident Steinmeier erinnert alle Parteien an ihre | |
| Verantwortung zur Regierungsbildung. Kanzlerin Angela Merkel steht vor | |
| einer der größten Krisen ihrer Regentschaft. Und die Deutschen müssen sich | |
| nach zähen, gut vierwöchigen Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen | |
| wohl auf Neuwahlen einstellen. | |
| Lindner kann bei seinem Auftritt in der FDP-Zentrale nicht benennen, woran | |
| Jamaika nun eigentlich gescheitert ist. „Es gab noch 237 nicht geeinte | |
| Klammern“, sagt er. Erst nennt er fehlende Einigungsbereitschaft über den | |
| Abbau des Solidaritätszuschlags als Grund – „Der Kompromissvorschlag der | |
| CDU war ihr eigenes Wahlprogramm“ –, dann die Migration, wo es bei der | |
| Frage des Familiennachzugs bis zum Schluss keine Lösung gegeben habe, | |
| später die Energiepolitik, bei der die Grünen einen Kompromiss abgelehnt | |
| hätten. | |
| Dass der redegewandte Lindner keine schlüssige Story zu bieten hat, ist | |
| ungewöhnlich. Aber muss das etwas heißen, in einer so aufgeladenen, | |
| stressigen Situation? | |
| Grüne und CDU werfen Lindner vor, das Aus des Bündnisses eiskalt geplant zu | |
| haben. „Die FDP hat das von langer Hand vorbereitet“, sagt der | |
| Schleswig-Holsteiner Robert Habeck, der im grünen Sondierungsteam saß. „Ich | |
| nehme ihr persönlich übel, dass sie uns noch einen Tag in Geiselhaft | |
| genommen hat.“ Auch Grünen-Stratege Jürgen Trittin sagt am frühen | |
| Montagmorgen über Lindners Entscheidung: „Ich glaube, dass der Vorsatz sehr | |
| weit entwickelt war.“ | |
| CDU-Generalsekretär Peter Tauber betont, dass zu dem Zeitpunkt des Abbruchs | |
| der FDP der große Streitpunkt noch das Thema Familiennachzug von | |
| Flüchtlingen gewesen sei, und auch da hätten die Grünen sich schon bewegt. | |
| „Aus meiner Sicht gab es zu dem Zeitpunkt keinen Grund, den Raum zu | |
| verlassen.“ | |
| ## Bombe kurz vor Mitternacht | |
| Es ist Sonntagabend kurz vor Mitternacht, als Christian Lindner die Bombe | |
| zündet. In der kalten Nachtluft vor der Landesvertretung Baden-Württemberg | |
| warten frierend die Kamerateams, müde Gesichter im grellen Licht der | |
| Scheinwerfer. Drinnen wird eine Krisensitzung anberaumt. Es soll die letzte | |
| sein bei dem langwierigen Versuch, eine Koalition zu begründen, die es so | |
| noch nie auf Bundesebene gegeben hat. Leute der Grünen, die ganz nah dran | |
| waren, schildern die Szene. | |
| Die Parteivorsitzenden sprechen in intimer Runde, um zu klären, ob man | |
| überhaupt noch weiterreden solle. Lindner erklärt, aus den Sondierungen | |
| aussteigen zu wollen. Zu viele Themen seien strittig, der Gesamteindruck | |
| stimme nicht. Merkel erinnert ihn an die Verantwortung fürs Land. Sie will | |
| den wahren Grund für den Ausstieg wissen. Christian Lindner wiederholt nur | |
| das, was er schon zuvor gesagt hat. Da schaut Merkel auf ihr Handy. Ah, sie | |
| sehe, die Presse melde es schon. | |
| Dann verlässt Lindner den Raum, die Verhandler der Freidemokraten streifen | |
| ihre Mäntel über und treten geordnet den Rückzug an. Lindner baut sich im | |
| Scheinwerferlicht auf, neben ihm sein Vize Wolfgang Kubicki und | |
| Generalsekretärin Nicola Beer und die anderen, alle mit steinernen Mienen. | |
| Lindner spricht oft frei, doch dieses Mal schaut er immer wieder auf einen | |
| eng bedruckten Zettel. Seine Hände zittern etwas, vielleicht nur wegen der | |
| Kälte. | |
| „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, lautet Lindners | |
| Kernsatz. Es sei nicht gelungen, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Das wäre | |
| aber die Voraussetzung für eine stabile Regierung gewesen. „Nach Wochen | |
| liegt aber heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, | |
| offenen Fragen und Zielkonflikten vor.“ Den Geist des Sondierungspapiers | |
| könne und wolle die FDP nicht verantworten. „Viele der diskutierten | |
| Maßnahmen halten wir sogar für schädlich.“ Linder schaut in die Kameras. | |
| „Auf Wiedersehen.“ Bamm. Das Jamaika-Bündnis ist Geschichte. | |
| Die Nachricht rast als Eilmeldung über die Agenturen in die Republik. Der | |
| Deutschlandfunk bringt sie in den Nachrichten um null Uhr, zwischen andere | |
| Meldungen gequetscht. Lindner geht derweil mit schnellen Schritten zu | |
| seiner schwarzen Limousine, die an der Auffahrt wartet. Seine | |
| Generalsekretärin hat keinen Wagen, der wartet. Beer muss am Bürgersteig | |
| lange Sekunden stehen, bis sie ein Taxi gesichtet hat. Ein seltsamer | |
| Moment. Es gibt Tausend Fragen, aber sie will nicht reden, sondern nur weg. | |
| Was machen sie jetzt? „Jetzt machen wir putzmuntere Opposition.“ | |
| ## Prinzipientreue oder Verantwortungslosigkeit? | |
| Dass ein FDP-Chef die Macht wegstößt, wenn sie auf dem Tisch liegt, das ist | |
| neu. Die FDP zeigte sich in der bundesrepublikanischen Geschichte stets | |
| staatstragend, aber auch besonders flexibel – sei es in einer | |
| sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ab 1969, sei es in | |
| liberalkonservativen Bündnissen unter Helmut Kohl oder Angela Merkel. | |
| Christian Lindner agiert anders, renegatenhafter, er hatte während der | |
| Sondierungen mehrfach betont, die FDP brauche Neuwahlen nicht zu fürchten. | |
| Das kann man als neue Prinzipientreue deuten oder als neue | |
| Verantwortungslosigkeit. War der Abbruch eine inhaltliche Entscheidung, | |
| weil die FDP tatsächlich zu große Differenzen sah? Oder inszenierte Lindner | |
| eine mehrwöchige Show – und liebäugelte von Anfang an mit der Opposition? | |
| Der Sprechzettel, den Lindner vor den Kameras nutzt und auch im letzten | |
| Gespräch mit der Kanzlerin dabeihat, ist ausgedruckt. | |
| In Unions-Kreisen wird daraus gefolgert: Der Zettel wurde gezielt | |
| vorbereitet. Schon Minuten nach Lindners Statement vor den Kameras schmückt | |
| eine Kurzfassung des Satzes – „Lieber nicht regieren als falsch“ – als | |
| gestaltete Grafik in den Parteifarben den Twitter-Account der FDP. Auch | |
| wenn so etwas technisch keine Zauberei ist, scheint es wenig | |
| wahrscheinlich, dass das Social-Media-Team der Partei das spontan um zwei | |
| Minuten nach Mitternacht erstellt hat. | |
| Auch dass die FDP bereits am Sonntagabend zu einer Pressekonferenz am | |
| Montag einlädt, bei der Christian Lindner allein auftreten soll – und nicht | |
| etwa mit seinen potenziellen Koalitionspartnern, was im Fall einer Einigung | |
| naheliegend gewesen wäre –, mutet im Nachhinein zumindest seltsam an. Nun | |
| ist es eine Binsenweisheit, dass eine so wichtige Entscheidung nicht | |
| spontan fällt – und der Absprache bedarf. Aber sogar Lindner selbst liefert | |
| zu dieser Frage gleich mehrere Antwort-Varianten. Erst berichtet er, eine | |
| so weitreichende Entscheidung falle „nicht aus der Spontaneität des | |
| Augenblicks heraus“. Dann wieder sagt er, erst nach einem erneuten Treffen | |
| der Parteivorsitzenden am späteren Abend habe die Parteispitze entschieden, | |
| dass weitere Verhandlungen keinen Sinn mehr hätten. | |
| Dass Lindner sich lieber gegen eine Große Koalition profilieren würde, ist | |
| kein abwegiger Gedanke. So kann er die Strategie der nationalliberalen | |
| Attacke weiterfahren, die er im Wahlkampf erfolgreich perfektioniert hat. | |
| Und er hat nicht das Problem, über zu wenig qualifiziertes Personal für | |
| diverse Regierungsposten zu verfügen. Schließlich kann seine gerade erst in | |
| den Bundestag zurückgekehrte Partei jenseits des mühseligen | |
| Regierungsgeschäfts in Ruhe stabilisieren. | |
| ## Geheimer Plan B? | |
| Auf den Gedanken, dass die FDP noch einen geheimen Plan B hat, konnte man | |
| während der Sondierungen immer wieder kommen. Lindner und Kubicki betonten | |
| in Interviews mehrfach, keine Angst vor Neuwahlen zu haben. Dann Lindners | |
| gezielte Provokationen: Mal ließ er im Stern fallen, dass in der CDU nun | |
| eine Diskussion über Merkels Nachfolge beginnen werde. Mal posaunte er | |
| heraus, dass jede Partei das Finanzministerium übernehmen dürfe, nur, bitte | |
| schön, nicht die CDU. Lindner legte eine Gratwanderung hin, mal provozierte | |
| er, mal kooperierte er. Oder schien er nur zu kooperieren? | |
| Der Verdacht, dass Lindner die Notbremse ziehen würde, war bei den | |
| Verhandlern am Sonntag schon tagsüber gewachsen. Morgens regten sich die | |
| FDPler über ein Interview Jürgen Trittins in der Bild am Sonntag auf. Eine | |
| Nachrichtenagentur zitierte Trittin so, als sei der Familiennachzug für | |
| subsidiär geschützte Flüchtlinge nicht verhandelbar. Doch diese Zuspitzung | |
| kam von der Agentur, sie stand nicht im Interview. Dennoch kofferte Kubicki | |
| vor laufenden Kameras zurück: „Ich werde gleich vorschlagen, dass wir | |
| Jürgen Trittin dazuholen, der ja offensichtlich der Entscheider ist bei den | |
| Grünen“, stichelte er gegen die eigentlichen Parteichefs Simone Peter und | |
| Cem Özdemir. Der wiederum interpretiert die Aufregung um das Interview als | |
| Teil einer „Suche nach Exitstrategien“. | |
| Dass CDU und Grüne der FDP am besagten Sonntag inhaltlich noch mal | |
| entgegenkamen, hört man aus beiden Parteien. So habe es bei der | |
| Vorratsdatenspeicherung ein neues Angebot gegeben. Außerdem habe die FDP | |
| ihren Herzenswunsch, eine weitgehende Abschmelzung des | |
| Solidaritätszuschlags, erfüllt bekommen. 75 Prozent der Soli-Zahler wären | |
| durch das Angebot bis 2021 komplett entlastet worden, erzählt der Grüne | |
| Özdemir. Da habe man sogar noch etwas draufgelegt. „Das ist mehr, als die | |
| FDP selbst aufgemacht hat in der Frage. Das taugt nicht als Begründung.“ | |
| Die Chefverhandlerin schlägt sich bereits am Sonntag auf die Seite der | |
| Grünen. Es dauert eine Stunde, bis sich die Gesprächsteilnehmer von Union | |
| und Grünen nach Lindners Paukenschlag so weit sortiert haben, um Statements | |
| abzugeben. Merkel reagiert gegen ein Uhr nachts so, wie man es von ihr | |
| kennt: geschäftsmäßig, nüchtern und ruhig. Die Union habe geglaubt, dass | |
| man gemeinsam auf einem Weg gewesen sei, bei dem man eine Einigung hätte | |
| erreichen können, sagt sie. Auch beim Thema Migration hätte man eine Lösung | |
| mit den Grünen finden können. An der Union und den Grünen, so Merkels | |
| Botschaft, lag es jedenfalls nicht. | |
| ## Seehofer mit schnellem Urteil | |
| Auch CSU-Chef Horst Seehofer lässt niemanden im Unklaren, wen er für den | |
| Schuldigen des Schlamassels hält. Dass die FDP ausgestiegen sei, bedeute | |
| eine Belastung für die Bundesrepublik Deutschland, sagt er. Er sei über | |
| weite Strecken des Tages davon ausgegangen, dass es am Ende | |
| Sondierungsergebnisse geben werde, die man den Parteigremien vorlegen | |
| könne. Eine Einigung sei „zum Greifen nah“ gewesen. | |
| Dann kommt ein interessantes Lob aus dem Munde des Mannes, der die | |
| Obergrenze wie eine Monstranz vor sich hergetragen hatte. Auch bei der | |
| schwierigen Frage der Zuwanderung „wäre eine Einigung möglich gewesen.“ | |
| Auch diese Sätze zielen auf die Grünen. Jene hatten sich zuletzt sogar in | |
| der heiklen Flüchtlingspolitik maximal kompromissbereit gezeigt. Sie boten | |
| etwa an, einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr zu akzeptieren. Am | |
| Ende dankt Seehofer dann noch ausdrücklich der Bundeskanzlerin Angela | |
| Merkel. | |
| Die Unionsleute beginnen daraufhin zu klatschen, aber nicht nur sie. Auch | |
| Jürgen Trittin applaudiert, ebenso Claudia Roth, andere Grüne ebenso. In | |
| diesen Minuten lässt sich gut beobachten, dass da etwas gewachsen ist | |
| zwischen den Schwarzen und Grünen in den vergangenen Wochen. Es spielen | |
| sich Szenen fast herzlicher Vertrautheit ab. | |
| Merkel lächelt der jungen Grünen Agnieszka Brugger zu, sagt zu | |
| Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann: „Das ist auch so eine | |
| Kämpferin.“ Dafür wird sie von Claudia Roth umarmt. Grünen-Fraktionschef | |
| Anton Hofreiter scherzt mit CDU-Finanzminister Peter Altmaier und | |
| CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die Grünen seien „richtige | |
| Profis“, heißt es in der Union über die gescheiterten Sondierungen. Tief im | |
| Stoff, bestens vorbereitet. | |
| Man mag sich, man schätzt sich. Ein Bündnis neuer Bürgerlichkeit feiert | |
| sich da, bei Weißwein und Tannenzäpfle-Pils. Vielleicht, denkt man sich, | |
| könnten die Zeiten der FDP als natürlicher Partnerin der Union bald vorbei | |
| sein. Ob Lindner das bedacht hat? Hinter vorgehaltener Hand formulierten | |
| manche CDU-Politiker, was sie von seinem Hasadeursstück halten. Die FDP sei | |
| immer eine staatstragende Partei gewesen, sagte einer. Er sei gespannt, | |
| wie die FDP-Klientel, etwa die Unternehmerschaft, auf den Ausstieg | |
| reagiere. | |
| Dass Union und Grüne nun plötzlich als natürliche Partner zu gelten | |
| scheinen, gefällt nicht allen. Parteichefin Simone Peter sieht in möglichen | |
| Neuwahlen auch die Chance, eine rot-rot-grüne Mehrheit zu erringen. „Es | |
| bräuchte jetzt eine linke Antwort auf die Rechtstrend im Land“, sagt sie | |
| der taz. | |
| Und FDP-Chef Lindner versucht am Montag, die SPD doch noch in eine Große | |
| Koalition zu drängen und den Schwarzen Peter an sie weiterzugeben. „Wenn es | |
| zu Neuwahlen kommt, sind die Sozialdemokraten schuld.“ | |
| 20 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| Malte Kreutzfeldt | |
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