| # taz.de -- Corona-Epidemie in Deutschland: Der Disput der Virologen | |
| > Der eine hat tolle News aus der Forschung im besonders vom Virus | |
| > betroffenen Kreis Heinsberg. Der andere zerreißt diese Neuigkeiten in der | |
| > Luft. | |
| Bild: Forschungsobjekt: die Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg | |
| Berlin taz | Es war der Gründonnerstag der Naturwissenschaftler. Virologen, | |
| Infektiologen, Hygieniker, Pharmakologen, Epidemiologen – bald keine der | |
| zahlreichen digitalen Pressekonferenzen am letzten regulären Arbeitstag vor | |
| dem Osterwochenende kam ohne sie, ihre neuesten Forschungsdaten, | |
| Einschätzungen und Prognosen zur Verbreitung des Coronavirus in der | |
| Bevölkerung, seiner Gefährlichkeit, aber auch seiner möglichen | |
| Beherrschbarkeit durch das Gesundheitswesen aus. | |
| Aus gutem Grund: Nach Ostern will die Bundesregierung bekannt geben, ob und | |
| in welchem Umfang die seit bald drei Wochen andauernden, drastischen | |
| Einschränkungen des öffentlichen Lebens gelockert werden. Diese politische | |
| Entscheidung wird – auch – von den Daten der Wissenschaftler beeinflusst | |
| werden. Doch diese Daten sind, dies vorweg, noch unvollständig und vor | |
| allem: unterschiedlich interpretierbar. | |
| Klingt unbefriedigend? Nicht unbedingt. Der Reihe nach. | |
| Zunächst das Neue: Am Donnerstagmorgen trat in Düsseldorf der | |
| Virologie-Professor Hendrik Streeck vor die Presse und stellte, wie er | |
| betonte, „Zwischenergebnisse, deren Verallgemeinerung sehr schwierig ist“ | |
| zu dem Forschungsprojekt „Covid-19 Case-Cluster-Study“ vor. Diese Studie | |
| hatten Streeck und ein interdisziplinäres Team des Universitätsklinikums | |
| Bonn in den vergangenen Wochen durchgeführt in der Gemeinde Gangelt im | |
| Kreis Heinsberg. | |
| [1][Heinsberg gilt als so genannter Corona-Hotspot] und ist einer der am | |
| frühesten und stärksten von der Pandemie erfassten Gebiete in Deutschland. | |
| Streeck und seine Kollegen untersuchen dort zurzeit rund 1.000 Einwohner in | |
| 400 Haushalten; sie testen diese Menschen per Rachenabstrich einerseits auf | |
| akute Infektionen, mittels Blutuntersuchungen aber auch darauf, ob die | |
| Personen bereits eine Infektion durchgemacht haben und folglich immun sind. | |
| Der Zwischenstand, den Streeck nun am Donnerstag präsentierte, und den die | |
| Politik bei ihren anstehenden Entscheidungen zumindest im Hinterkopf haben | |
| dürfte, beruht auf den Auswertungen der Ergebnisse von 509 untersuchten | |
| Personen, also etwa der Hälfte aller Probanden. | |
| ## Eine super Botschaft, könnte man meinen | |
| Für die Gemeinde Gangelt seien die Daten „repräsentativ“, so Streeck; | |
| bundesweit allerdings besäßen sie wenig Aussagekraft, jede Region sei zu | |
| verschieden. In Gangelt aber, so viel sei klar, hätten 15 Prozent aller | |
| Einwohner eine Infektion mit dem Virus – bemerkt oder unbemerkt – bereits | |
| durchlaufen und seien nun für mindestens 6 bis 18 Monate immun. Sie seien | |
| damit weder ansteckend, noch könnten sie angesteckt werden. Eine super | |
| Botschaft, konnte man meinen, zumindest auf den ersten Blick. | |
| Dann aber erklärte Streeck: Die so genannte Herdenimmunität, also die Rate | |
| durchgemachter Infektionen in der Bevölkerung, ab der Virologen davon | |
| ausgehen, dass die Epidemie verschwindet, weil Ansteckungen kaum noch | |
| möglich sind, liege mit 60 bis 70 Prozent natürlich und weitaus höher als | |
| die für Gangelt festgestellten 15 Prozent. Also keine Entwarnung. | |
| Doch immerhin: die Zuwachsraten der Neuinfektionen wiesen eine fallende | |
| Kurve aus, was zusätzlichen Mut mache und auf eine verlangsamte Verbreitung | |
| des Virus schließen lasse. Auch habe man herausgefunden, dass Kinder kaum | |
| ernsthaft erkrankten. Noch eine gute Nachricht also. Und bei Erwachsenen | |
| habe die Zahl der übertragenen Erreger offenbar einen Einfluss auf den | |
| Schweregrad der Erkrankung, sagte Streeck. Heißt so viel wie: Wer | |
| konsequent Abstand hält und, sollte er dennoch angehustet werden, | |
| entsprechend nur wenige Erreger aufnimmt, kann auf einen milderen Verlauf | |
| hoffen. | |
| Dazu komme: Wer einmal eine Infektion durchgemacht habe, dessen Körper sei | |
| – anders als etwa bei dem Aids-Erreger HIV – das Virus ein für allemal los. | |
| Auch das fanden die Wissenschaftler heraus. Lediglich etwa 0,37 Prozent der | |
| Infizierten in Gangelt starben ihrer Studie zufolge; die | |
| Johns-Hopkins-Universität geht dagegen für Deutschland von einer fünffach | |
| höheren Quote aus (1,98 Prozent). | |
| Spätestens da konnte man zaghafte Hoffnung schöpfen, dass Licht am Ende des | |
| Coronatunnels zu sehen sei. | |
| ## Noch mehr gute Nachrichten | |
| Aber es kam noch besser: Streeck, der Wissenschaftler, ging sogar so weit, | |
| anzudeuten, dass angesichts der nun vorliegenden Daten aus seiner Sicht und | |
| möglicherweise mit einer Rücknahme der ersten strengen Auflagen begonnen | |
| werden könne, sofern, ja sofern die Bürgerinnen und Bürger weiterhin | |
| konsequent die Hygieneregeln (Hände waschen, Husten-Etikette, | |
| Zwei-Meter-Abstand) einhielten. | |
| Aber dazu, dachte man, wäre man ja sowieso, gern und immer bereit, wenn, ja | |
| wenn denn damit verbunden eine Lockerung in Aussicht sei. Und ganz gewiss | |
| würden die Worte des Wissenschaftlers ja von der Politik gehört werden. | |
| Die zaghafte Euphorie hielt sich aber nur exakt eine Stunde. | |
| ## Die Gegenmeinung des Professor Drosten | |
| Da nämlich wandte sich, in einer anderen digitalen Pressekonferenz, | |
| organisiert vom Kölner Science Media Center, Christian Drosten, der | |
| Chefvirologe der Berliner Charité und daneben Berater der Bundesregierung, | |
| an die Öffentlichkeit. Und er zerstörte nun mit wenigen kleinen, | |
| vernichtenden Sätzen, vorgetragen mit der ihm eigenen, charmanten | |
| Unaufgeregtheit, das kleine Fünkchen Hoffnung, das sein Kollege Streeck von | |
| der Uni Bonn (dort übrigens Drostens Nachfolger) zuvor verbreitet hatte. | |
| Satz eins ging so: „Man kann aus dieser Pressekonferenz (gemeint war die | |
| von Streeck) gar nichts ableiten.“ Satz zwei lautete: „Man braucht erstmal | |
| ein Papier.“ (Diese Kritik bezog sich auf den Umstand, dass Streeck seine | |
| Zwischenergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt hatte, ohne | |
| zuvor offenbar der Scientific Community einen Bericht vorgelegt zu haben.) | |
| Die weiteren Sätze säten sodann Zweifel an der Seriosität der Untersuchung | |
| bezogen auf das Sample, die Testung und die Interpretation der Daten. | |
| Immerhin bei einer Aussage stimmte Drosten Streeck zu: Wer die Infektion | |
| überstanden habe, von dem gehe kein Erkrankungsrisiko und keine | |
| Ansteckungsgefahr mehr aus. „Da wäre ich schon so mutig zu sagen, ab jetzt | |
| kriegt diese Person den grünen Armreif“, sagte Drosten und lachte. Wer | |
| immun sei, könne beispielsweise „ohne Vermummung“ an der Rezeption einer | |
| Klinik arbeiten. | |
| Was Forschung leisten muss, die Drosten befürwortet (und an der er sich | |
| beteiligt), konnte man, wiederum eine Stunde später, aus der beim | |
| Nachrichtensender Phoenix übertragenen Bundespressekonferenz aus Berlin | |
| erfahren. | |
| Dort verlas Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) | |
| zunächst wie bald jeden Tag öffentlich die „schnöden Zahlen“ (Wieler üb… | |
| die Forschungsdaten seiner Behörde) zu Gesamt-Infizierten (108.202), | |
| Neu-Infizierten (4974) und Todesfällen (2107). Dann aber konnte er | |
| vermelden: Das RKI wird ab der kommenden Woche in Zusammenarbeit mit der | |
| Berliner Charité und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung aus | |
| Braunschweig mit groß angelegten, bundesweiten repräsentativen | |
| Untersuchungen beginnen. | |
| Diese sollen, so Wieler, Antworten auf drei drängende Fragen geben. | |
| Erstens: Wie viele Menschen in Deutschland haben die Infektion mit dem | |
| Coronavirus, bemerkt oder unbemerkt, bereits durchgemacht – und sind | |
| insofern immun? Zweitens: Wie hoch ist der Anteil so genannter | |
| asymptomatischer Fälle, also Erkrankungen, die unbemerkt verlaufen? Und | |
| drittens: Wie viele Menschen sind tatsächlich an der Infektion gestorben – | |
| und nicht etwa an einer anderen, parallelen Erkrankung? | |
| ## Suche nach lebensrettenden Informationen | |
| Mit den Antworten, so Wieler, werde sich nicht bloß der Verlauf und die | |
| Schwere der Epidemie besser beschreiben lassen. Auch die Effektivität der | |
| getroffenen, strikten Maßnahmen wie social distancing oder | |
| Schulschließungen könne so besser bewertet werden. Nicht zuletzt wäre dann | |
| klar, wer – weil er selbst andere nicht mehr anstecken könne, aber auch | |
| nicht mehr von anderen angesteckt werden kann – problemlos Kontakt haben | |
| dürfe zu besonders gefährdeten Menschen mit hohem Erkrankungsrisiko, etwa | |
| in Kliniken oder Pflegeheimen. Letztendlich, das machte Wieler klar, kann | |
| die Information über eine vorhandene Immunität also lebensrettend sein. | |
| Ob eine Person immun sei, erklärte der RKI-Präsident, könne mit so | |
| genannten Antikörpertests gezeigt werden. Dabei wird im Blut untersucht, ob | |
| der Körper als Reaktion auf das Virus Antikörper gebildet hat. Als | |
| Faustformel gilt: Bei neun von zehn Patienten, die sich mit dem Virus | |
| angesteckt haben, bilden sich spätestens im Laufe der zweiten Woche nach | |
| der Infektion Antikörper. | |
| Entsprechende Labortests seien erst seit kurzem verfügbar. Die | |
| Antikörpertests seien überdies nicht zu verwechseln mit den so genannten | |
| PCR-Tests, die seit Monaten in Deutschland in großem Stil eingesetzt | |
| werden, aber nur darüber Auskunft geben können, ob eine Person zum | |
| Zeitpunkt des Tests akut infiziert ist. | |
| Wieler und die kooperierenden Universitätskliniken planen nun gleich drei | |
| große Antikörper-Studien. Die erste, die in der kommenden Woche startet, | |
| wird alle 14 Tage rund 5.000 Blutproben von Blutspendern untersuchen; erste | |
| Ergebnisse sollen im Mai vorliegen. | |
| Die zweite, mit Beginn Mitte April, soll in vier verschiedenen Orten, die | |
| in besonders schwer betroffenen Ausbruchsgebieten liegen, die Blutproben | |
| von jeweils 2.000 Menschen mehrfach untersuchen und daneben Daten zu | |
| klinischen Symptomen, Vorerkrankungen, Gesundheitsverhalten, | |
| Lebensumständen und psychischer Gesundheit erfassen. Auch bei dieser Studie | |
| werden erste Ergebnisse im Mai erwartet. | |
| Die dritte Antikörperstudie schließlich will 15.000 Menschen in 150 | |
| Regionen untersuchen und soll repräsentative Daten für die Bevölkerung | |
| Deutschlands liefern. Diese Studie wird im Mai starten und könnte im Juni | |
| erste Resultate liefern. Frühestens. | |
| ## Die vagen Schlüsse der Politik | |
| Und so ging der Gründonnerstag, der doch eigentlich den | |
| Naturwissenschaftlern gehört hatte, mit vagen Aussagen der Politiker zu | |
| Ende, die nicht wirklich auf umfangreiche Lockerungen, geschweige denn ein | |
| absehbares Ende der strengen Maßnahmen schließen lassen. | |
| Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mahnte: „Wir dürfen jetzt | |
| nicht nachlässig werden.“ Die Bundesfamilienministerin Fanziska Giffey | |
| (SPD) warnte: „Wir dürfen jetzt nicht alles aufs Spiel setzen.“ | |
| Und die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Physikerin ist und | |
| deswegen in diesem Text das letzte Wort haben darf, sagte (vermutlich zum | |
| Jubel vieler Kinder und zum Verdruss vieler Eltern) auf die Frage nach der | |
| Wiederaufnahme des Schulbetriebs nach den Osterferien: „Ich halte die | |
| Schulen natürlich nicht für die Orte, an den man mit den einfachsten | |
| Maßnahmen den Abstand sicherstellen kann, den man braucht.“ | |
| 9 Apr 2020 | |
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| Heike Haarhoff | |
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