# taz.de -- Corona in Russland: Im Kampfmodus | |
> Eine Ärztin, die Zahlen hinterfragte und Schutzkleidung organisierte, | |
> wird kurzzeitig festgenommen. Der Vorwurf: Widerstand gegen die | |
> Staatsgewalt. | |
Bild: Kurzzeitige Festnahme und Geldstrafe: die Ärztin Anastasia Wassiljewa | |
MOSKAU taz | „Was sollten sie mit mir schon anstellen?“, meint Anastasia | |
Wassiljewa. Sie scheint sich selbst etwas Mut zuzusprechen. Die 36jährige | |
Ärztin und zweifache Mutter muss stark sein. | |
Seit dem Aufkommen des [1][Corona-Virus] steht die russische Augenärztin | |
und Gründerin der unabhängigen Gewerkschaft „Ärzteallianz“ als lautstarke | |
Kritikerin der russischen Gesundheitspolitik im Rampenlicht. In den | |
sozialen Medien zumindest. Die Staatssender ignorieren die Ärztin, die als | |
eine der ersten im Land davor warnte, die Pandemie nicht auf die leichte | |
Schulter zu nehmen. | |
Anfangs kritisierte Wassiljewa den schwerfälligen und langsamen Verlauf der | |
Corona-Tests. Damals äußerte sie bereits den Verdacht, positiv getestete | |
Fälle würden bei der russischen Zählung nicht umfassend wahrgenommen. Dies | |
geschah zu einem Zeitpunkt, als [2][Präsident Wladimir Putin] das Land noch | |
beruhigte: mit dem Virus sei alles „unter Kontrolle“. | |
Virologen und Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin bewerteten die Lage | |
unterdessen ernster. Der Stadtvorsteher sprach bereits von wesentlich | |
höheren Dunkelziffern in den Regionen. | |
## Wünsche oder Beschwerden | |
In der vergangenen Woche wurde die Leiterin der „Ärzteallianz“ von der | |
Polizei in der Nähe von Nischnij Nowgorod festgenommen. Sie hatte mit | |
anderen Gewerkschaftsmitgliedern Schutzkleidung in die Stadt nordöstlich | |
von Moskau gebracht. Handschuhe, Masken und Schutzkittel, die das | |
medizinische Personal dringend benötigt. Durch Fundraising waren | |
umgerechnet 40.000 Euro zusammengekommen. | |
Ständig melden sich Angestellte aus dem Gesundheitsbereich bei der | |
Gewerkschafterin entweder mit Wünschen oder Beschwerden. „Ich kann nicht | |
mehr jedem antworten“, sagt sie. Meist drehe es sich um Schutzkleidung und | |
Apparate, die in den Regionen fehlten. | |
Auf dem Weg nach Nischnij Nowgorod wurden die Helfer der Allianz mit dem | |
Hilfsmaterial gar nicht mehr zu den Ärzten in den Krankenhäusern | |
vorgelassen. Polizei und Sicherheitsdienste verhinderten die Übergabe. Sie | |
musste an anderen Orten stattfinden. | |
Der Kreml ist aufgebracht, seitdem die Ärztin Lieferungen in die USA und | |
nach Italien öffentlich kritisierte: „Wir erbitten Geld für Schutzkleidung | |
für unsere Ärzte, doch unsere Verantwortlichen schicken diese Güter in die | |
USA“, meinten die Helfer. Offiziell sind die Lieferungen als Geste des | |
guten Willens und als Hilfe in der Not gemeint. | |
## Überlegenheit Russlands | |
Tatsächlich dürfte dahinter aber auch die Absicht stehen, die Überlegenheit | |
Russlands und die Schwäche des Westens herauszustellen, mutmaßen | |
Beobachter. | |
Der TV-Sender NTV brachte schon einen längeren Beitrag über die Gruppe, die | |
angeblich Fakenews über die „Situation in russischen Krankenhäusern | |
verbreite“. Vor allem wollten die Aufklärer herausfinden, wer wohl hinter | |
den Aktivisten stecken könnte. NTV diente schon im Ukraine-Krieg als | |
Propagandainstrument an der medialen Front. | |
Der Angriff auf die Gewerkschafter wird jedoch mehrgleisig gefahren. Auch | |
das Ermittlungskomitee bestellte Wassiljewa wegen „Verbreitung von | |
Fakenews“ ein. Die Streuung „unwahrer Nachrichten“ kann seit vergangener | |
Woche mit Haftstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden. | |
Inzwischen gewinnt die „Ärzteallianz“ jedoch weiter an Boden. Sie wurde vor | |
einem Jahr gegründet und verfügt mittlerweile über 2000 Mitglieder und | |
freiwillige Helfer. Die Kommunistische Partei und die demokratische Partei | |
„Jabloko“ arbeiten mit den Ärzten zusammen, die bereits in 40 Regionen | |
vertreten sind. | |
## Ätzende Flüssigkeit | |
Am Anfang hätte der Oppositionelle und Putin-Herausforderer, Alexej | |
Nawalny, geholfen, erzählt Wassiljewa. Sie kannte ihn. Ein Angreifer hatte | |
ihm eine ätzende Flüssigkeit in die Augen geschüttet, Wassiljewa behandelte | |
ihn. | |
Damals wurde der Mutter, auch eine Augenärztin, gekündigt. Auch andere | |
Mediziner erhielten wegen Reformmaßnahmen im Gesundheitsbereich | |
Kündigungen. Nawalny sei der einzige gewesen, der auf ihren Hilferuf | |
reagiert und einen Anwalt aus dem Antikorruptionsfond zur Verfügung | |
gestellt habe, sagt sie. Der Rechtsbeistand klagte die Mutter wieder in den | |
alten Job ein. | |
Die entlassenen Mediziner hätten sich, so lautete das Ersatzangebot auch | |
als Hilfs- und Reinigungskräfte für wenig Geld verpflichten können. | |
Fast einen Tag verbrachte die Gewerkschafterin vergangene Woche in einer | |
Gefängniszelle im Polizeigewahrsam. Auf dem Rückweg nach Moskau war sie | |
festgenommen worden. Danach wurde sie in einem Schnellverfahren vor Gericht | |
zu einer Strafe von 1600 Rubel (19 Euro) verurteilt. Widerstand gegen die | |
Staatsgewalt lautet ein Anklagepunkt. Sie will auf jeden Fall weitermachen. | |
10 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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