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# taz.de -- Corona in Russland: Mit der Klinik kommt Gas
> Vor den Toren Moskaus wird im Eiltempo ein Krankenhaus gebaut, für 600
> Patienten. Das kleine Dorf Golochwastowo bekommt dafür einen Gasanschluss
Bild: Vor der Baustelle zur neuen Corona-Klinik in Golochwastowo
Golochwastowo taz | Mit dem Auto geht es nur noch im Schritttempo voran.
Fünf Minuten, 20 Minuten, 40 Minuten. Im Kreisel schließlich ein Schild:
„Die Kaluga-Chaussee ist gesperrt, nutzen Sie unterschiedliche
Umfahrungen“, blinkt es gelb auf schwarz.
Die Vorläufer der Schnelltrasse hatten bereits im 14. Jahrhundert die
russische Hauptstadt Moskau mit dem knapp 200 Kilometer entfernten Kaluga
verbunden. In der Industriestadt am Fluss Oka produziert VW seit 2007
Skodas, Polos und Tiguans für den russischen Markt.
Datschen schmiegen sich an die Straße, Cottages, Mini-Schlösschen in Grau
und immer mehr Hochhaussiedlungen in Bunt, seit Moskau vor bald acht Jahren
19 Ortschaften eingemeindet hatte und mehr als 250.000 Menschen im
Südwesten der Stadt zu Moskauern machte.
Urbanisierung auf Russisch, samt futuristisch anmutenden Metro-Haltestellen
und frisch asphaltierten Straßen, die an Baugruben vorbei zur nächsten
halbfertigen Siedlung führen. Die drei Polizisten am Kreisel fuchteln mit
ihren Verkehrsstäben herum und versuchen das Chaos aus Kipplastern, Autos
und Bussen zu regeln.
## Angler am See
Es geht nach rechts, zwei Kilometer später nach links, vorbei an kleinen
Supermärkten und einer großen Wasserproduktionsfabrik. Die Wege werden
schmaler, die Landschaft wird breiter. An einem See angeln vier Männer,
über dem sumpfigen Boden ziehen sich tiefhängende Wolken in die Weite. Ein
Idyll vor den Toren Moskaus – bis das Dröhnen der Bagger ertönt, das
Quietschen der Kräne, das Scheppern der Lastwagen.
Golochwastowo, ein Dorf, wie es sie zu Tausenden gibt in Russland. Knapp 80
Häuser, offiziell 43 Einwohner. Hier, in diesem Nirgendwo etwa 60 Kilometer
vom Moskauer Zentrum entfernt, entsteht gerade ein Infektionskrankenhaus
für die Behandlung von Patienten mit dem Coronavirus. Im Eiltempo, ganz
[1][nach chinesischem Vorbild in Wuhan].
Anfang März hatte die Moskauer Stadtverwaltung das Gelände festgelegt. Noch
zu der Zeit, als Russlands Präsident Wladimir Putin von „so einem Virus,
das da angeflogen kommt“, höhnte und die russische Regierung davon sprach,
die Gefahr für Russland sei minimal.
Bereits am 13. März war in Golochwastowo nichts mehr wie zuvor. „Die
Baustelle des Jahrhunderts“ nennen so manche russische Medien den Neubau
auf 43 Hektar Fläche. Bis zu 600 Patienten sollen hier versorgt werden.
Über Nacht hatte sich das Dorf in ein Wimmelbuch für einen Riesen
verwandelt. Auf der einen Seite der Straße die Autos der Arbeiter, auf der
anderen die Lastwagen mit dem Baumaterial, kilometerweit. In der Ferne ein
Gewusel aus Arbeitern in Orange, dazwischen viel Sand, Asphalt, Erde. Und
Anatolis Haus mit dem roten Blechzaun und dem petrolfarbenen Lada davor.
## Elektronische Sprechhilfe
Der 69-Jährige will die Absperrung aus Ketten an die Pfosten seiner
Einfahrt schweißen. Er will zeigen, dass hier noch sein Zuhause ist. „An
einem Morgen waren einfach Unmengen von Lastwagen da“, sagt der Mann mit
seiner blechernen Stimme. Anatoli hat Kehlkopfkrebs, braucht eine
elektronische Sprechhilfe, die er an seinen Hals legt. Informiert habe die
Bewohner niemand, sagt er und fügt hinzu, „ja nichts Schlechtes gegen die
Mächtigen sagen“ zu wollen.
Über das Krankenhaus, das 250 Meter weiter vor den letzten Wohnhäusern
entsteht, erfuhren sie aus den Hauptnachrichten im Fernsehen. Gasanschluss
für jeden hatte man ihnen versprochen, auch das hörten sie in den
Nachrichten.
Anatoli könnte einen Anschluss gebrauchen, nur zwei Meter von seinem Haus
entfernt verlaufen die Rohre. Für den Anschluss hatte ihm bislang aber das
Geld gefehlt, die meisten anderen Haushalte im Dorf seien längst
gasifiziert. „Ein schlechter Deal also“, sagt Anatoli und muss seiner
Stimme eine Pause gönnen.
495 Infizierte gibt es offiziell in Russland mit seinen 147 Millionen
Einwohnern. Am vergangenen Donnerstag meldete das Land seine erste
Coronatote. Die Staatsführung spielt die Gefahr herunter. Denn eigentlich
sollen die Russen am 22. April über die von Putin erlassenen [2][Änderungen
der Verfassung] abstimmen, daran hält der Präsident fest, auch wenn die
Staatsgrenze für Ausländer geschlossen ist, alle Schulen zugemacht haben,
Massenveranstaltungen abgesagt sind, die über 65-Jährigen in Quarantäne
gehen sollen und die Menschen Kühlschränke und Buchweizen hamstern.
## Fragwürdiger Schritt
Mit den Änderungen könnte Putin noch bis 2036 Präsident bleiben. Die
Abstimmung ist ein Stück Legitimation für den fragwürdigen Schritt. Für
eine Absage, so der Kreml zunächst, gebe es „keine objektiven Gründe“. Nur
zur Not, so sagte es Putin kürzlich im Gespräch mit der Wahlleiterin, lasse
sich der Termin verschieben.
Politik und Virus liefern sich in Russland einen unsichtbaren Kampf, der
die Menschen, die ohnehin kaum Vertrauen in die Behörden und ihr
Gesundheitssystem haben, weiter verunsichert.
„Ich hätte nie gedacht, dass jeder im Land einmal den Namen unseres Dorfes
kennen wird“, sagt Anatoli. Sein ganzes Leben lebt er hier in Golochwastowo
– „die Wälder, die Seen, die Luft!“ –, hat hier geheiratet, einen Sohn
bekommen, der längst weggezogen ist. Die Frau starb vor einigen Jahren, dem
Bruder, mit dem er sich das Haus teilt, gehe es gesundheitlich auch nicht
besonders. „Wir dachten, wir leben hier in Ruhe unser Leben zu Ende.“
Polizeiwagen mit Sirenen rasen an seinem Haus vorbei, im Minutentakt fahren
Lastwagen die Erde aus der Grube, Walzen asphaltieren neue Wege. Tag und
Nacht. „Die Mächtigen sagen, sie machten all das für die Menschen. Aber
halten sie uns auch für Menschen? Ich wäre gern informiert worden. Meine
Beschwerde hat nichts gebracht, aber Informationen hätte ich mir
gewünscht.“ Anatoli zieht seine Schweißer-Handschuhe an und geht in die
Garage. Ende April soll die Klinik von Golochwastowo ihren Betrieb
aufnehmen.
25 Mar 2020
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## AUTOREN
Inna Hartwich
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