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# taz.de -- Corona in Wuhan: Normal war anders
> Über zwei Monate war Wuhan von der Außenwelt abgeschottet. Nun öffnet
> sich die Stadt wieder – zumindest schrittweise.
Bild: 6. April: Menschen in Wuhan scannen an einem Bahnhof einen QR-Code
Als Timo Balz nach fast zwei Monaten die Straße vor seiner Wohnsiedlung
wieder betritt, zückt der 45-jährige Schwabe sein Smartphone und verschickt
euphorisch Selfies an seine Freunde. Sein erstes Ziel in Freiheit war der
nächstgelegenen Supermarkt, und dort direkt das Süßigkeitenregal: „Ich habe
Unmengen Chips und Schokoriegel geholt“, erzählt der Professor für
Fernerkundung an der Universität Wuhan.
Die letzten Wochen hat die vierköpfige Familie ausschließlich in ihrem
Apartment verbracht; das Nachbarschaftskomitee hat Lebensmittel vor die Tür
geliefert. Für Gemüse, Reis, ja auch Fleisch war gesorgt. Doch die erste
Tüte Paprika-Chips, nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, werden die
zwei Kinder von Balz wohl nicht so schnell wieder vergessen.
Mit offiziell mehr als 2.500 Virustoten fallen rund drei Viertel aller
landesweiten Covid-19-Opfer auf die zentralchinesische Stadt. In Wuhan
wurde das Virus als erstes entdeckt; rigoros wurde die Stadt später
abgeriegelt. Hätte Wuhan eine Stadtmauer, die Stadttore wären am 23. Januar
verschlossen worden. Bis jetzt. Nun aber dürfen einige Bewohner die
Stadtgrenze wieder übertreten.
China probiert sich dieser Tage an einem Experiment, das die internationale
Staatengemeinschaft mit ganz besonderem Interesse verfolgt: Kann das
Virus-Epizentrum, in dem Covid-19 über Monate unkontrolliert gewütet hat,
den Weg zurück in die Normalität schaffen? Wenn man davon ausgeht, dass der
Virusausbruch zeitversetzt an verschiedenen Orten ähnliche
Entwicklungsstufen durchmacht, dann ist Wuhan dem Rest der Welt um einige
Wochen voraus.
Ein Rückblick: Auf der Höhe der Epidemie gelangten tragische Bilder durch
die chinesische Zensur an die Öffentlichkeit. Etwa von hoffnungslos
überfüllten Spitälern, die offensichtlich infizierte Personen abweisen
mussten. Oder von Leichensäcken, die in den Warteräumen der Kliniken
gelagert wurden. Und von Krematorien, deren Schornsteine rund um die Uhr
Rauch ausstießen.
„In diesen wenigen Tagen scheinen die Verstorbenen immer näher zu kommen.
Der Cousin eines Nachbarn ist gestorben, der junge Bruder einer Bekannten
ebenfalls. Der Freund von einem Vater starb, seine Mutter und Ehefrau auch.
Und schließlich starb er selbst“, schrieb die Schriftstellerin Wang Fang
aus Wuhan in einem öffentlichen Tagebuch. Millionen Leser folgten auf ihren
Smartphones den anekdotischen Aufzeichnungen der Chinesin, die auch das
Fehlverhalten der Lokalregierung zu Beginn des Virusausbruchs offen
anprangerte.
Selbst strenge Parteikader wie Xu Xijin, der Chefredakteur der staatlichen
„Global Times“, folgten der kritischen Schriftstellerin. Auf seinem
Wechat-Account verteidigte er sie: Wang Fangs Tagebucheinträge würden „die
offenen Wunden unserer kollektiven Psyche offenlegen“ und seien zu
tolerieren, schrieb er. Dennoch haben die Zensoren die meisten Einträge nur
wenige Stunden nach ihrer Publikation gelöscht.
## Systematischer Hausarrest
Doch abseits der Vertuschungspolitik und Inkompetenz der Lokalbehörden
wurde Wuhan schlussendlich auch zum Symbol für den erfolgreichen Kampf
Chinas gegen das Virus: Mit systematischem Hausarrest, einer
Massenmobilisierung von medizinischem Personal und der strikten Isolierung
aller Infizierten hat die Stadt es geschafft, die außer Kontrolle geratene
Epidemie wieder einzudämmen. Zumindest, wenn man der massiv abgeflachten
Kurve an Neuinfektionen folgt. Im ganzen Land gibt es demnach nur noch
etwas über 1.100 Personen, die das Virus in sich tragen. In der Provinz
Hubei inklusive dessen Hauptstadt Wuhan sollen es derzeit noch rund 350
aktive Fälle sein.
Die offiziellen Zahlen scheinen jedoch nur ein grober Gradmesser zu sein.
Schließlich haben die Behörden ihre Kriterien für die offizielle Zählweise
im Laufe der Epidemie bislang sechsmal geändert. Erst am 1. April hat China
die sogenannten asymptomatischen Fälle inkludiert; stille Virusträger, die
keine Symptome zeigen, aber laut der, von der South China Morning Post
publizierten internen Regierungspapieren rund ein Drittel aller Infizierten
ausmachen.
Seither haben die Behörden Wuhans fast 200 solcher asymptomatischen Fällen
gemeldet, knapp 700 befinden sich zudem unter ärztlicher Beobachtung. Eine
Staatszeitung, die zur Mediengruppe der Parteizeitung „Renmin Ribao“
gehört, hatte zuvor einen Arzt aus Wuhan zitiert, der von bis zu 20.000
asymptomatischen Fällen ausging. Der Artikel wurde jedoch von den Zensoren
gelöscht.
Bisher wird in Wuhan die Freiheit nur schrittweise zurück gegeben: Die
Metallzäune vor den Wohnsiedlungen der Stadt sind weiterhin aufgebaut, die
Bewohner dürfen nur unter den Auflagen des örtlichen Nachbarschaftskomitees
auf die Straße. Gleichzeitig haben die Behörden aus Angst vor „stillen
Virusträgern“ die täglichen Testraten auf 12.000 erhöht, um asymptomatische
Fälle zu erkennen.
Nach dem Prinzip „trial-and-error“ wird derzeit erprobt, ob die neuen
Freiheiten für die Bewohner möglicherweise zu einem erneuten Anstieg an
Virusinfektionen führen. Jede Lockerung kann von den Lokalbehörden umgehend
wieder zurückgenommen werden. Mehrere aktuelle Modellstudien
prognostizieren, dass es bis zum August zu einer zweiten Welle an
Neuinfektionen kommen könnte, wenn die Einschränkungen in Wuhan aufgehoben
werden.
Um den schrittweisen Übergang zur Normalität zu kontrollieren, bekommen die
Bewohner über eine Smartphone-App einen farbigen QR-Code zugewiesen. Wer
nachweislich 14 Tage ohne Symptome ist, bekommt einen grünen Code und darf
sich frei innerhalb der Stadt bewegen. Rasch jedoch ändert sich der QR-Code
auf gelb – etwa, wenn man sich zufällig mit einem Infizierten im selben
Supermarkt aufgehalten hat. Dann muss man zunächst für mehrere Tage in
Heimquarantäne. Smartphone-Nutzer mit rotem Code sind verpflichtet, eine
14-tägige Heimquarantäne unter medizinischer Aufsicht zu absolvieren.
## Überwachung im Alltag
Auch Emmanuel Geebelen, 42 Jahre, muss seinen QR-Code scannen, wenn er
seine Wohnung in Wuhan verlassen will. Ein Mitglied des
Nachbarschaftskomitees, des verlängerten Parteiorgans der Lokalregierung,
unterrichtet der gebürtige Genfer zudem darüber, wohin exakt er geht. „Das
soll einem bewusst machen, dass man sich genau überlegt, rauszugehen oder
nicht“, sagt der Schweizer. Dabei war der gelernte Uhrmacher mit seiner
Familie bereits im Restaurant wie auch in einem Massage-Laden. „Die
Regierung will schließlich die Wirtschaft ankurbeln. Wir bekommen teilweise
Coupons als Anreiz, shoppen zu gehen“, sagt er.
„Teilweise haben wir die Zeit während der Ausgangssperre sogar genossen.
Mit zwei Kindern wird einem niemals langweilig“, sagt Geebelen. Allerdings
habe seine chinesische Frau, ehemals Leiterin eines Kindergartens, aufgrund
der Krise ihre Arbeitsstelle – und damit auch das einzige Einkommen der
Familie – verloren. Per Wechat, dem chinesischen Pendant von Whatsapp, hat
sie allerdings in der Zwischenzeit den Vertrag für eine neue Stelle im
ostchinesischen Hangzhou unterschrieben. Spätestens in einer Woche wird die
Familie dann übersiedeln – in eine Wohnung, für die sie bereits eine
Kaution bezahlt hat.
Auf den sozialen Netzwerken Chinas werden Fotos des neuen Normalzustands in
Wuhan verschickt: Die Einkaufszentren sind mittlerweile geöffnet, jedoch
weitgehend leer. Erste Hobby-Angler haben sich bereits am Ufer des
Jangtse-Fluss eingefunden. Die Straßen füllen sich allmählich mit
Passanten, wenn auch ausschließlich alle Schutzmasken tragen.
Viele Chinesen, das wird dieser Tage deutlich, sorgen sich nach wie vor vor
der Virusbedrohung: „Selbst meine Mutter hat Angst, dass ich zurück in
meine Heimatprovinz reise. Sie denkt, dass ich das Virus in unser
Heimatdorf bringe“, sagt eine 30-jährige Chinesin, die vor acht Jahren in
Wuhan geheiratet hat und seither dort lebt. Ursprünglich hatte sie geplant,
sobald wie möglich ihre Familie im Süden Chinas zu besuchen. „Wenn sich
selbst meine Mutter schon so sorgt, wie werden dann die anderen erst auf
mich reagieren?“ Auch sie glaubt, dass die Gefahr wesentlich höher ist, als
von den offiziellen Medien behauptet wird.
## Sich nach dem Alltag sehnen
Für Timo Balz, dem wohl einzigen Deutschen in der Stadt, der die zwei
Evakuierungsflüge der Bundesrepublik abgelehnt und über die gesamte Zeit in
Wuhan ausgeharrt hatte, fühlt sich das Leben trotz allem schon fast normal
an: Der Lieferdienst kommt wieder zum Pförtnerhäuschen, um das bestellte
Essen abzugeben. Die Gärtner stutzen den Rasen im Vorhof. Und von der
Straße hört man Menschenlärm.
Die Quarantäne habe ihm, meint Balz, persönlich wenig zugesetzt: Sein
Gehalt von der Universität wurde weiter überwiesen, und in der freien Zeit
hat der Wissenschaftler unter anderem eine Studie in einem Fachjournal
publiziert.
Dennoch wünscht sich der Stuttgarter den Alltag von früher zurück; ohne
Ausgangsbeschränkungen und ohne ständig die Körpertemperatur messen zu
müssen. Was er als erstes machen würde, wenn die Krise vorüber ist? „Die
normalen Dinge: spazieren gehen, ins Büro gehen“, sagt er.
Wahrscheinlich wird es noch Monate dauern, bis es soweit ist. Doch am
Freitag haben die parteihörigen Staatsmedien Optimismus verbreitet: Es sei
unwahrscheinlich, dass es in Wuhan zu einer zweiten Infektionswelle komme,
titelt die Global Times. Die Provinzhauptstadt von Hubei sei vielleicht
„die derzeit sicherste Stadt in China“, sagte der Leiter des Shanghaier
Covid-19-Expertenteams. Viele Bewohner hätten laut Zhang Wenhong bereits
Immunität gegen den Erreger entwickelt. Doch dies sei lediglich eine
Vermutung.
10 Apr 2020
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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Kolumne Latin Affairs
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