| # taz.de -- Buch zur deutschen Demokratiegeschichte: Männer haben keine Körper | |
| > Hedwig Richter fusioniert in „Demokratie: Eine deutsche Affäre“ weibliche | |
| > mit konservativen Deutungsmustern. Der Ideenmix ist dabei fraglos | |
| > originell. | |
| Bild: Als Frauen noch körperlos waren: Der Reichstag in Berlin nach dem 2. Wel… | |
| Mit der Aufklärung wurde vor rund 200 Jahren die Idee populär, dass Körper | |
| eine Würde haben. Folter und Todesstrafe, die bis ins 18. Jahrhundert als | |
| öffentliche, voyeuristische Spektakel inszeniert wurden, gerieten in | |
| Verruf. Die Leibeigenschaft wurde nach und nach abgeschafft. | |
| Es war, folgt man [1][der Historikerin Hedwig Richter,] kein Zufall, dass | |
| in Deutschland 1871 das allgemeine Wahlrecht eingeführt und die | |
| Prügelstrafe abgeschafft wurde. Die Geschichte der Demokratie spiegelt sich | |
| in Befreiung und Unterdrückung der Körper wider. Dass Frauen lange keine | |
| bürgerlichen Rechte und kein Körper, über den sie verfügen durften, | |
| zugestanden wurde, ist untrennbar miteinander verknüpft. | |
| „Demokratiegeschichte ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner | |
| Misshandlung, seiner Pflege, seines Darben“, so Richter. Die Entwicklung | |
| zum Besseren, die hier in kühnen Bögen skizziert wird, reicht vom Code | |
| Napoleon 1804, in dem das männliche Recht auf Frauenkörper verbrieft wurde, | |
| bis zu metoo. | |
| Richters Bild der deutschen Demokratiegeschichte ist vital und nah an | |
| Alltagserfahrungen, oft in sprudelnden Formulierungen gefasst, in der auch | |
| mal buzzwords wie Gefühle und Herzen vorkommen. „Demokratie“ orientiert | |
| sich eher an dem erzählerischen, essayistischen Stil der angelsächsischen | |
| als dem nüchternen der deutschen historischen Publizistik. | |
| ## Geschlechter-, Mentalitäts- und Institutionengeschichte | |
| Es rückt die in den Meistererzählungen von [2][Heinrich August Winkler] | |
| oder [3][Ulrich Herbert] unterbelichteten weiblichen Anteile mit Verve nach | |
| vorn, zitiert vor allem die Stimmen bürgerlicher und konservativer | |
| Sozialpolitikerinnen, ohne sich um die so unvermeidlichen Verzerrungen im | |
| Gesamtbild zu scheren. Geschlechter-, Mentalitäts- und | |
| Institutionengeschichte purzeln mitunter recht assoziativ durcheinander. | |
| Umrankt von der handelsüblichen rhetorischen Einschränkung, dass Demokratie | |
| immer eine fragile Sache ist, entwirft Richter entschlossen eine | |
| Fortschrittsgeschichte. | |
| Der Bogen spannt sich von den Hardenberg’schen Reformen in Preußen über die | |
| Paulskirche 1848, von der lange unterschätzten bürgerlichen Modernität im | |
| Kaiserreich bis zur Weimarer Verfassung, vom Grundgesetz bis zur EU, deren | |
| weitere vorsichtige Demokratisierung noch ansteht. It’s getting better. Nur | |
| der Nationalsozialismus, auf ein paar Seiten ratlos skizziert, liegt wie | |
| ein Granitfels auf diesem Weg. | |
| Weibliche Körperpolitik wird ausgiebig beleuchtet – Männer fehlen | |
| weitgehend. Die gedrillten Körper in den tayloristischen Fabriken und den | |
| Kasernen bleiben unsichtbar, wohl weil proletarische Männerkörper weder als | |
| Stützrad der Fortschrittserzählung noch des feministischen Narrativs | |
| brauchbar scheinen. | |
| ## Reformen statt Revolutionen für eine Demokratie | |
| Das ist, angesichts des vollmundig angekündigten Anspruchs, Körper- und | |
| Demokratiegeschichte zu verzahnen, eine erstaunliche Lücke. Auch die zweite | |
| Kernthese weckt Zweifel. Die Demokratie brauchte keine Revolutionen, Reform | |
| war von Beginn an ihr Modus. | |
| So treten hier wohlmeinende preußische Reformer im 19. Jahrhundert auf, die | |
| den apathischen Bürgern Freiheitsideen und Wahlen nahebringen wollen. 1848 | |
| sei kein gescheiterter bürgerlicher Aufstand, sondern ein nachhaltiger | |
| Anschub für das mühsame Geschäft der Demokratisierung von oben gewesen. | |
| Richter bleibt, wie Konservative oft, blind für die Dialektik von Reform | |
| und Revolution. | |
| 1789, die erschütternde Erfahrung, dass der Aufstand der Massen möglich | |
| war, war in den halb feudalen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts eine | |
| reformtreibende Drohung – das fehlt hier. [4][Auch die Novemberrevolution | |
| 1918 erscheint eher als überflüssiges Schauspiel] – die Demokratisierung | |
| des Wahlrechts hatten SPD, Zentrum und Liberale ja schon im Oktober | |
| durchgesetzt. | |
| Gewiss sind Revolutionen in unseren hochkomplexen, funktionalen | |
| ausdifferenzierten Demokratien keine brauchbaren Mittel – dass sie dies in | |
| den letzten 200 Jahren nie gewesen sein sollen, ist eine | |
| ideologiegetriebene Rückprojektion. | |
| ## Revolution ist machogetriebene Zerstörung | |
| Das Bestehende war immer schon nicht so schlecht, Reformen machten es | |
| besser, Revolution war machogetriebene, unvernünftige Zerstörung – so kann | |
| man die Grunderzählung ohne viel Übertreibung zusammenfassen. Manches | |
| klingt fast kurios. [5][Dass im Kaiserreich um 1900 „mehr oder weniger alle | |
| tun und lesen] und lassen konnten, was sie wollten“, ist maßlose, aber | |
| sprechende Übertreibung. | |
| Der Erste Weltkrieg war in dieser ideologisch ausgehärteten konservativen | |
| Lesart das trübe Ergebnis des Drucks der Massen, der in den nationalen | |
| Demokratien entfesselt wurde – und kein Produkt des Versagens der | |
| politischen Eliten imperialer Mächte. Die Liste ist noch länger. Wie in | |
| jeder monochromen Modernisierungsgeschichte werden die Kosten verkleinert. | |
| So lobt Richter euphorisch die im 19. Jahrhundert „aufblühende Bewegung des | |
| Natur- und Tierschutzes“ als Ausdruck bürgerlicher Empfindsamkeit und | |
| demokratischer Empathiefähigkeit. Diese Bewegungen entstanden indes nicht | |
| zufällig in dem Moment, in dem Tiere aus dem städtischen Alltag | |
| verschwanden und in den Vororten Schlachthöfe entstanden, die ersten extrem | |
| arbeitsteiligen Fabriken. Die schwärmerische Naturbegeisterung war die | |
| andere Seite der industriellen Fleischproduktion. Da nur wachsende | |
| Sensibilität zu sehen, ist nah am Kitsch. | |
| ## Melange aus Feminismus, konservativen Geschichtsbildern und | |
| Fortschrittserzählung | |
| „Nimmt man die Geschichte ernst, dann sieht es gut aus mit der Demokratie“, | |
| so die Botschaft, die angesichts von Le Pen und Trump erfreulich klingt. | |
| Die deutsche Demokratiegeschichte sei eben nicht defizitär, weil ohne | |
| gelungene Revolution, und auch kein langer Weg nach Westen gewesen. | |
| Die Demokratie entstand hierzulande vielmehr eigenständig, solide aus dem | |
| Geist vorsichtiger Reform und unter der Führung weitblickender Eliten. | |
| Damit liefert Richter scheinbar ein historisches Passepartout, das erklärt, | |
| warum die Demokratie in Deutschland derzeit stabiler scheint als in | |
| Frankreich, England und den USA. | |
| „Demokratie“ präsentiert, zweifellos originell, etwas Neues: eine Melange | |
| aus Feminismus, konservativen Geschichtsbildern und munterer | |
| Fortschrittserzählung. Dieses Narrativ spiegelt die Selbstzufriedenheit der | |
| späten Merkel-Ära, in der es sich daheim recht gemütlich anfühlt, während | |
| draußen Unwetter aufziehen. Der Preis ist, wie immer in Apologien, in der | |
| Geschichte letztlich nur die gelungene Gegenwart zu feiern. | |
| Anmerkung der Redaktion: In der ersten Fassung dieses Testes stand, dass in | |
| Deutschland nach 1871 das Dreiklassenwahlrecht galt. Das ist falsch. Das | |
| Dreiklassenwahlrecht galt für die Wahlen zum preußischen Landtag von 1850 | |
| bis 1918. | |
| 28 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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