# taz.de -- Buch von Steinmeier über Vorkämpfer: Brauchen wir Helden? | |
> Steinmeier will Bewusstsein für Demokratiegeschichte wecken. Klingt gut. | |
> Aber Demokratie braucht Selbstreflexion statt gemütlicher Feiern. | |
Bild: Bezeichnet Karl Marx und Rosa Luxemburg als „antiliberale Denker“: St… | |
Um 11 Uhr am Dienstagvormittag betritt ein schwarz gekleideter Bediensteter | |
den großen Saal im Schloss Bellevue in Berlin und ruft mit durchdringender | |
Stimme: „Meine Damen und Herren, der Herr Bundespräsident!“ Die Anwesenden | |
springen auf, stehen, bis Frank-Walter Steinmeier sagt, man soll sich | |
wieder setzen. Das geht schnell. | |
Kollektives Aufstehen ist eine Geste der Ehrerbietung gegenüber | |
Autoritäten, sie ist verwandt mit militärischem Strammstehen. Man steht | |
zwangsweise im Gericht auf, in Schulen seltener. Dass sich das Publikum vor | |
dem Bundespräsidenten zu erheben hat, verweist auf die feudale DNA des | |
Amtes. Demokratische Staatsoberhäupter sind die institutionellen Nachfahren | |
von Monarchen. | |
[1][Steinmeier hat Demokratie] zum rahmenden Thema seiner Präsidentschaft | |
gemacht. Heute lässt er ein von ihm herausgegebenes Buch „Wegbereiter der | |
deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918“ präsentieren. | |
Das Spektrum reicht von Robert Blum, dem in Wien 1848 hingerichteten | |
Revolutionär, über Louise Aston, eine der ersten radikalen | |
Frauenrechtlerinnen, bis zu eher braven Parlamentariern im Kaiserreich. Das | |
Buch ist ein bunter Mix, stilistisch mal professoral, mal | |
feuilletonistisch. All diese Figuren sind, sagt Steinmeier, „viel zu lange | |
vergessen worden“. | |
Diese Lücke im demokratischen Traditionsbewusstsein soll geschlossen | |
werden. Deshalb heißt der Nebenraum im Bellevue neuerdings nach Robert | |
Blum, [2][deshalb wird die Paulskirche restauriert]. In Frankreich und den | |
USA haben revolutionäre Heldenfiguren im nationalen Gedächtnis ihren Platz | |
(allerdings berufen sich auch die Rechtspopulisten auf sie). In Deutschland | |
herrscht mangels erfolgreicher demokratischer Revolutionen eine gewisse | |
Leerstelle. | |
## Skepsis gegenüber Helden | |
Der Große Saal ist wegen Corona nur spärlich besetzt, der Empfang danach | |
abgesagt. „Wir haben die Helden abgeschafft“, sagt Wolfgang Schäuble, als | |
Laudator geladen und seit 49 Jahren Parlamentarier. Die Bundesrepublik sei | |
als Reaktion auf den tödlichen Heroismus des Nationalsozialismus skeptisch | |
gegenüber Helden geworden. Dies sei ein verständlicher, aber angesichts der | |
Gefahren für die Demokratie kurzatmiger Reflex. Es gelte nun, „den Staat | |
und die soziale Marktwirtschaft krisenfest zu machen“. Dafür müsse die | |
Republik ihre postheroische Phase überwinden. | |
Schäuble, einer der wenigen konservativen Intellektuellen in der Politik, | |
will den Helden nicht wieder auf seinen Sockel setzen. Das wäre reaktionär. | |
Für Orientierung soll eine Art demokratisch gefiltertes Modell sorgen: „die | |
positive Identifikationsfigur“ (Schäuble). Diese pädagogisch | |
heruntergedimmte Figur ist dem Helden mindestens so nah wie der Präsident | |
dem Monarchen. | |
Es ist einleuchtend, die in Vergessenheit Geratenen und die nie Erinnerten, | |
die Erfolgreichen und die ins Exil Getriebenen des 19. Jahrhunderts ins | |
Bewusstsein zu rücken. Man findet dort Erstaunliches. [3][Louise Aston | |
dichtete 1846] nicht nur „Freiem Leben, freiem Lieben / Bin ich immer treu | |
geblieben!“, sie lebte auch so. Es ist schade, dass die Popkultur bislang | |
kein Interesse an ihr gefunden hat. Heute könnten wir uns Aston (die | |
Barbara Sichtermann in dem Buch elegant würdigt) als radikalfeministische | |
Bloggerin vorstellen, die eher nicht beim Bundespräsidenten eingeladen | |
würde. Wenn, dann würde sie vielleicht sitzen bleiben. | |
## Karl Marx und Rosa Luxemburg fehlen | |
Welchen Nutzen, welchen Nachteil hat die Demokratiegeschichte für unser | |
Leben? Folgen wir Steinmeier, so ist sie eine Sinnressource. Die Demokratie | |
steht unter Druck. Innen wächst der Rechtspopulismus, außen die autoritäre | |
Gefahr. So sehen es Schäuble und Steinmeier. Und so ist es ja auch. | |
Angesichts dieser Bedrohungen soll Demokratiegeschichte der Kitt sein, der | |
dafür sorgt, dass die Fenster nicht aus dem Rahmen fliegen. „Jedes Volk | |
sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für | |
uns Deutsche nicht gelten?“, so Steinmeier. Diese Demokratiegeschichte von | |
oben soll eine Art defensive Absicherung eines mannigfach gefährdeten | |
Status quo sein. Steinmeier bezeichnet Karl Marx und Rosa Luxemburg im | |
Vorwort als „antiliberale Denker“ – und damit als unbrauchbar für die | |
demokratische Ahnengalerie. Das wirkt engherzig: Geschichte, verkürzt auf | |
politisch nützliche Traditionslinien. | |
Die Debatte im Bellevue kommt nur mühsam in Schwung. Die prägnante, | |
kritische Nachfrage ist dem Moderator Sven Felix Kellerhof heute nicht | |
gegeben. So ist man sich auf eine gemütliche Weise einig. Müsste | |
Demokratiegeschichte aber nicht mehr als Selbstvergewisserung sein? Müsste | |
sie nicht etwas Widerspenstiges haben? Sichtbar machen, was auf der Strecke | |
blieb? Das blitzt hier nur zufällig auf, und als Negation. Schäuble hält | |
den Versuch, 1990 eine neue Verfassung auszuhandeln, anstatt das | |
Grundgesetz zu übernehmen, für zu Recht gescheitert. | |
## Schurz vor dem Schloss | |
Nur der Historiker Dietmar Süß fragt, wo die Sprengkraft | |
radikaldemokratischer Ideen bleibt. So unerhört früher die Forderung klang, | |
dass Frauen wählen dürfen, so unerhört sei es heute, mehr Mitbestimmung in | |
Betrieben zu fordern, sagt er. Es gehe „um die Demokratisierung der | |
Demokratie“. Schäuble schaut skeptisch. Bei zu viel Demokratie sind | |
Konservative immer sehr zurückhaltend. Jetzt könnte die Debatte beginnen. | |
In dem Moment ist sie zu Ende. | |
Carl Schurz war 1848 deutscher Revolutionär, er emigrierte in die USA, | |
wurde Generalmajor im US-Bürgerkrieg, später Minister in Washington. Ein | |
Leben wie ein Film. In seinem Geburtsort im Rheinischen gibt es eine fast | |
hundert Jahre alte Büste aus Metall von ihm: der Blick ernst, der Bart | |
beeindruckend. | |
Steinmeier kündigt am Ende an, dass bald eine Kopie der Büste samt | |
Granitsockel vor Schloss Bellevue stehen wird. Ein Symbol: Die Republik | |
2021 schätzt ihre Wegbereiter. Diese präsidiale Geste ist gut gemeint, aber | |
irritierend. Beschädigt Demokratiegeschichte sich nicht selbst, wenn sie | |
eine Herrschaftsästhetik kopiert, die Männer in Büsten verewigt? | |
24 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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