| # taz.de -- Björn Kuhligks Buch über Berlin: Er kennt und liebt die Stadt | |
| > Björn Kuhligks „Berlin-Beschimpfung“ fehlt jegliche Aggression. Es ist | |
| > ein Fließtext, der schnell dahinströmt – poetisch, kenntnisreich und | |
| > politisch. | |
| Bild: Kuhligk kotzt ab über Gentrifizierung – zum Beispiel am Landwehrkanal | |
| Um es gleich vorwegzunehmen – der Titel „Berlin-Beschimpfung“ ist | |
| irreführend. In diesem Buch findet sich auch nach zweimaligem Durchlesen | |
| keine einzige Beschimpfung dieser der Bundeshauptstadt. Was der Rezensent | |
| der Süddeutschen Zeitung als „Anti-Berlin-Buch aller Anti-Berlin-Bücher“ | |
| ausmacht, ist ebendas nicht. | |
| Autor [1][Björn Kuhligk] ist in Berlin geboren. Er kennt die Stadt, er | |
| liebt sie, woanders will er nicht sein. Er schimpft, mosert, meckert und | |
| lästert ab, und zwar nach Herzenslust. Doch be-schimpft er nicht, schreibt | |
| nicht, Berlin sei scheiße. Oder eine dumme Sau. Oder deine Mutter. Das | |
| wären Beschimpfungen, ziemlich blöde zwar, aber immerhin. | |
| Zu schreiben, Berlin sei hässlich, Berlin sei arm, [2][Berlin stinke] – das | |
| sind keine Beschimpfungen, sondern Zustandsbeschreibungen: „Berlin ist der | |
| Olymp der miesen Laune, ein Kessel Hässliches. Wir kriegen alles klein, | |
| auch das Kleine.“ Hart- und Zartheit verschränken sich in Kuhligks | |
| Beschreibungen auf das Lakonischste. | |
| Kuhligks Text fehlt also jegliche Aggression. Stattdessen macht er gute | |
| Laune. Die Dynamik ist hoch, es gibt keine Kapitel, keine Abschnitte. So | |
| sind die Zwischenüberschriften einfach Textzeilen, die hervorgehoben sind. | |
| Eine rein optische Maßnahme. Die „Berlin-Beschimpfung“ ist im besten | |
| Wortsinn ein Fließtext, der schnell dahinströmt, wohlformuliert ist, | |
| zuweilen poetisch, oft sarkastisch, immer kenntnisreich in der Sache, | |
| scharfsinnig in der Analyse und unbedingt subjektiv – und der sich gut | |
| weglesen lässt. | |
| Viele Gründe zu schimpfen | |
| Kuhligk schöpft aus dem Vollen. Gründe, über die Stadt zu schimpfen, gibt | |
| es mehr als gebürtige Berliner. Dabei entsteht ihm kein ahnungsloses | |
| Berlin-Bashing wie das irgendwelcher Provinzler oder sogenannter Expats, | |
| die nach einem halben Jahr des Aufenthalts in der Stadt meinen zu wissen, | |
| wie das hier läuft. | |
| Kuhligk lässt nichts aus: Da ist der ewig lange Winter, der gewöhnliche | |
| Menschen in die Depression treibt, echten BerlinerInnen allerdings nur ein | |
| desinteressiertes Achselzucken abnötigte, spräche man einen oder eine | |
| darauf an. Is’ Wetter, wat soll’s. Da ist [3][der öffentliche Nahverkehr], | |
| chaotisch und dysfunktional (von den Busfahrern wird noch die Rede sein). | |
| Da sind die weder in der Zeit noch im Raum je enden wollenden Staus: | |
| „Überall Autos, nichts als Autos, ein stetes Rauschen, völlig irre.“ Die | |
| Baustellen, die im Weg sind. Die Touristen, die im Weg sind: „Das ganze | |
| Jahr ist Hauptsaison.“ Die schreckliche, neue Architektur (Hochhäuser am | |
| Alex, das [4][Humboldt Forum]). Die schreckliche, nicht mehr ganz so neue | |
| Architektur (Potsdamer Platz). Die Malls. | |
| Die überall manifeste Kaputtheit: Junkies, Obdachlose, Menschen, die in | |
| Crocs rumlaufen (zugegeben, das mit den Crocs ist ausgedacht und steht | |
| nicht Buch). Hundescheiße. Kopfsteinpflaster. Die Politik. Die | |
| Döner-Preise. Und waren Sie schon mal auf dem Amt? Es ist ein Grauen. | |
| Verschwundene Kiez-Idyllen | |
| Kuhligk kotzt ab über Gentrifizierung, die nicht nur das Stadtbild | |
| verändert, sondern die Lebensrealität der Eingeborenen. Wobei es nicht um | |
| irgendwelche verschwundenen Kiez-Idyllen geht, sondern um das Recht auf ein | |
| anständiges Auskommen, zumutbaren Wohnraum und generell auf eine Existenz, | |
| die nicht permanent einer ökonomischen Vernutzung unterworfen und von | |
| Verdrängung bedroht sein will. | |
| Kuhligk steigt tief hinein in die sozialen, historischen und kulturellen | |
| Dynamiken Berlins. „Der Name ist slawischen Ursprungs. Brl bedeutet so viel | |
| wie Sumpf oder Morast, die Endsilbe -in nichts anderes als Stadt. Berlin | |
| ist demnach die Stadt im Morast oder die Stadt im Sumpf. Ach ja, das ist | |
| schon nett. Doch ist so vieles nett, dass es auch schon wieder ein bisschen | |
| egal ist.“ | |
| Kuhligks Betrachtungen und seine präzis beschreibende Kritik sind zugleich | |
| supersimpel und hochkomplex. Die Zuneigung des Autors zu seiner Stadt ist | |
| in jeder Zeile evident: „Berlin gibt es weltweit 118-mal und natürlich | |
| leben wir im Original, auf der Höhe der Richtigkeit.“ | |
| Der mit knapp 60 Seiten recht schmale Band ist illustriert mit comicartigen | |
| Grafiken von Jakob Hinrichs, der ein gelernter Berliner ist. Seine Bilder | |
| illustrieren nicht passiv, sondern funktionieren als Zwischenspiele, die | |
| wie kleine, aus Papier gefaltete Schiffchen auf dem Textfluss treiben und | |
| jeweils eigene Geschichten erzählen. | |
| Die Ausstattung des Buches unterstreicht, dass „Berlin-Beschimpfung“ bei | |
| allem Lament über Widersprüche, Ambivalenzen und Gegensätze der Metropole | |
| ein fröhlich machendes Buch ist, das der Berlinerin oder dem Berliner | |
| Freude bereitet und zugleich jene in ihrer Abneigung gegenüber Berlin | |
| bestätigt, die nicht hier leben, sondern ganz woanders. Irgendwo, wo eben | |
| nicht Berlin ist. | |
| 21 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Heinrich Dubel | |
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