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# taz.de -- Warum Berlin überhaupt nicht over ist: Das ödeste aller Rituale
> Jetzt hat es auch das Feuilleton geschnallt: Berlin geht gar nicht! Dabei
> erfindet sich die einzige deutsche Metropole gerade wieder einmal neu.
Bild: War mal wild und sexy: Der Watergate Club an der Oberbaumbrücke in Berli…
Der Beginn eines jeden neuen Jahres folgt alten Gewohnheiten: Die
Fitnessstudios sind überlaufen, Bekannten angebotener Alkohol wird mit
„[1][Danke, Dryjanuary“] zurückgewiesen und „abnehmen, schnell, ohne
Anstrengung und ohne weniger zu essen“ wird bei Google wesentlich häufiger
abgefragt als „Wer ist denn diese interessante Autorin, die diesen super
Text da neulich geschrieben hat“.
Ausgerechnet da, wo reset propagiert wird, laufen altbekannte Rituale ab.
Es braucht wenig Geistesreichtum, das festzustellen. Genauso wenig wie es
geistreich ist, Berlin für tot zu erklären. Auch das aber inzwischen ein
Ritual wie jeder unoriginelle Neujahrsvorsatz.
Irgendein Aufhänger findet sich immer und dann heißt es: dreckig,
verwahrlost, verfilzt, verpeilt, dysfunktional, hässlich, abstoßend,
kriminell, Sonnenalleearaber, langweilig, unfreundlich, na gut: abgezogene
Dielen – aber das von unseren Steuern.
Seit in der Hauptstadt verkündet wurde, dass im Kulturbereich drastisch
gespart wird, ist sich jetzt aber auch das Kulturmilieu, darunter
[2][Frankfurter Feuilletonisten], und [3][Berliner Kolumnistinnen]
[4][sicher]: Berlin is over. Jetzt aber wirklich.
## Und das Watergate?
Wahnsinnig originell und neu ist die Diagnose freilich nicht, zumal das
Gegenteil der Fall sein könnte: Berlin könnte möglicherweise auf dem besten
Wege dahin sein, wieder Berlin zu werden.
Neu ist, dass die Komische Oper wegen der Etatkürzungen ihre
Musicalinszenierung [5][„Mein Freund Bunbury“] (der Nachfolger des
Publikumserfolgs „Messeschlager Gisela“) absagen musste. Für die
Beteiligten doof, für die Liebhaber auch.
An DDR-Musicals denken jene, die Berlin jetzt den Totenschein ausstellen,
aber eher weniger. Dabei gehört die Komische Oper länger zu Berlin als
irgendein angesagter Schuppen.
Das Berlin, dem jetzt der Totenschein ausgestellt wird, ist das
vermeintlich wilde Berlin, das mit dem Stichwort Club verbunden ist.
## Alle haben profitiert
Als Berlin noch vermeintlich wild war, waren alle, die nach dem Mauerfall
in diese Stadt zogen, an einem Prozess beteiligt, der Gentrifizierung
genannt wurde: Es war das Abgefuckte, was die Leute nach Berlin wie zuvor
nach New York oder London zog. Von dem Abgefuckten haben erst alle
profitiert, die Stadt wurde dank der neu Zuziehenden etwas weniger
abgefuckt.
Damit wurde es für die Leute attraktiv, die es lieber noch ein bisschen
weniger abfuckt haben. Und heute betrauern alle gemeinsam in ihren
Altbauwohnungen das früher so schön abgefuckte Berlin.
Jetzt aber scheint Berlin die Chance für ein echtes Comeback zu haben. Der
Club Watergate hat nicht geschlossen, weil die Miete plötzlich zu stark
gestiegen wäre. Er hat geschlossen, weil keiner mehr kam. Bei „Berliner
Club“ gähnt mittlerweile sogar der Billigtourist und gibt sein kleines Geld
lieber für was Aufregenderes aus.
Nicht nur Berlin, die ganze Welt ist nach allem, was man so hört, in eine
instabile Seitenlage geraten. Die sozialen Medien sind kaputt, der
politische Zeitgeist auf der einen wie der anderen Seite sowieso. Warum
sollte es ausgerechnet Berlin anders gehen, wo das Kaputte zu Hause ist?
Berlin genießt den Vorteil, dass es erst im Untergang (Achtung Anspielung)
zu wahrer Größe findet. Die Stadt muss immer erst in Schutt und Asche
gelegt oder so gut wie leer gewohnt werden, damit sich wieder was
Attraktives entwickeln kann.
Für eine rosige Zukunft der Stadt braucht es also mehr Leute, die es so
machen wie jene Menschen, die zur Zeit auf Facebook ihren gewichtigen
Protest gegen die Zustände dort folgendermaßen zu Protokoll geben: „Das
war’s Leute. Von mir hier ab sofort kein Content mehr!“
12 Jan 2025
## LINKS
[1] /Sober-November-versus-Dry-January/!6048228
[2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/warum-deutschland-berlin-ha…
[3] https://www.theguardian.com/commentisfree/2024/dec/31/people-like-me-flocke…
[4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/berlins-zukunft-was-stimmt-…
[5] https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2025/01/komische-oper-berlin-budget-kue…
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
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