| # taz.de -- Belorussischer Musiker über Folter: „Ich bin ein Rock ’n’ Ro… | |
| > Der belorussische Musiker Igor Bancer berichtet über die Protestbewegung | |
| > in seinem Land. Im Gefängnis wurde er von der Polizei gefoltert. | |
| Bild: Der Musiker Igor Bancer in Rosa und mit eindeutiger Geste | |
| Igor Bancer ist Teil der belorussischen Protestbewegung. Und Teil der | |
| belorussischen Punkband Mister X aus Grodno. Er wurde schon öfter bei | |
| Demonstrationen festgenommen und kündigt an, dass er beim nächsten | |
| Gerichtsprozess Rosa tragen und eine rosa Flagge schwenken wird. Beim | |
| letzten Mal ließ ihn der stellvertretende Vorsitzende des Gerichts deshalb | |
| nicht eintreten. „Aufgrund seines Aussehens“ wurde er wieder festgenommen. | |
| Dann aber doch nach einem „vorbeugenden Gespräch über Verbot und Begehung | |
| von illegalen Handlungen“ entlassen: Seither hat die Polizei Bancer | |
| mehrmals angerufen. In naher Zukunft stehen ihm drei Gerichtsverfahren | |
| wegen Teilnahme an Protesten bevor, aber er lässt sich nicht einschüchtern. | |
| taz: Herr Bancer, Sie sind seit 1986 in Grodno politisch aktiv. Sind Sie es | |
| manchmal leid, über eine lange Zeit hinweg gegen Missstände auf die Straßen | |
| zu gehen? | |
| Igor Bancer: Es ist schwer, in der Realität der belorussischen Diktatur zu | |
| leben, ohne Unterstützung von Familie und Freunden geht das gar nicht. | |
| Selbst mit Unterstützung komme ich immer wieder ins Grübeln. Es ist ein | |
| permanenter Ausnahmezustand, aufgrund meiner radikalen Einstellung wurde | |
| ich oft von verschiedensten, selbst von mir bekannten Menschen bezichtigt. | |
| Das schlägt mir aufs Gemüt. Früher habe ich einen Psychiater aufgesucht, | |
| seit fast einem Jahr besuche ich regelmäßig psychologische Sitzungen. Die | |
| Antwort auf Ihre Frage sollte also so lauten: Es ist so schwer, nach all | |
| der Zeit noch linken Ideologien anzuhängen und sich zu behaupten. | |
| Aber vermutlich ist es gerade jetzt sehr wichtig, oder? | |
| Ja, jede größere demokratische Kampagne in Belarus bekommt den Zorn des | |
| Systems zu spüren, die Repressionen sind massiv. Was seit Beginn der | |
| Proteste im August in Belarus passiert ist, ist aber doch einzigartig, die | |
| Brutalität der Polizei ist krasser denn je. Es wurden unzählige BürgerInnen | |
| festgenommen. Solch ein Schreckensregime sollte es im 21. Jahrhundert nicht | |
| in der Mitte Europas geben! | |
| Sie selbst wurden zweimal wegen „illegalen Demonstrierens“ festgenommen. | |
| Wie haben Sie die Situation im Gefängnis erlebt? | |
| Zum ersten Mal wurde ich am 10. August in Grodno verhaftet, in der | |
| Folgenacht wurde ich verhört. Aus Protest gegen die Behandlung bin ich in | |
| den Hungerstreik getreten, war völlig übermüdet. Es waren drei Polizisten | |
| in Zivil. Anders als erwartet, haben sie mich sogleich mit der Frage | |
| konfrontiert, ob ich die Massenproteste am 9. August in Grodno organisiert | |
| habe. Als ich ihnen sagte, dass ich kein Anführer sei, haben sie mir in die | |
| Leiste getreten und ich pisste mir in die Hosen. Auf diese Folter war ich | |
| nicht vorbereitet, es war nicht nur schmerzhaft, sondern auch demütigend. | |
| Mir ist der Urin am Bein heruntergerlaufen. Danach wurde ich gefragt, ob | |
| ich weiterhin auf gewaltsame Weise das Gespräch führen möchte oder ob ich | |
| ihre Fragen „wahrheitsgemäß“ beantworten würde. | |
| Was haben Sie gesagt? | |
| Beim Anblick ihrer hasserfüllten Augen wurde mir klar, dass sie mich bei | |
| einem „Nein“ vermutlich zu Tode prügeln würden. Also bejahte ich und bat … | |
| eine kurze Verschnaufpause. Als der Polizist, der mich geschlagen hatte – | |
| offensichtlich der ranghöchste von den Dreien – den Raum verließ, sprach | |
| ich die beiden jüngeren an, bat sie, meine Papiere zu überprüfen und meinen | |
| Anwalt einzuschalten. Sie schienen enttäuscht, als sie bemerkten, dass ich | |
| einen Anwalt habe. Einige Zeit später durfte ich ohne ein weiteres Verhör | |
| zurück in meine Zelle. Es war einer der schrecklichsten Momente meines | |
| Lebens. | |
| Was wäre ohne Anwalt passiert? | |
| Im Minsker Gefängnis wurden die Menschen gedemütigt, gefoltert und getötet. | |
| Dann wurde den Streitkräften befohlen, das nicht zu wiederholen, was sie | |
| bis Mitte August getan haben. Darum fühlt sich die Situation jetzt wieder | |
| „normal“ an. Ich meine, zumindest sieht es momentan so aus, aber, man weiß | |
| ja nie … In Belarus gibt es das nichtstaatliche Menschenrechtszentrum | |
| Viasna, es hilft BürgerInnen mit Rechtsberatung und leistet juristischen | |
| Beistand. Diese mutigen Leute sind seit vielen Jahren im Land tätig, einige | |
| von ihnen kenne ich auch persönlich, sie sind furchtlos. Ohne ihre | |
| aufopferungsvolle Arbeit wären einige Gewalttaten der Behörden niemals ans | |
| Licht gekommen. | |
| Sie sind während der Verhaftung in Hungerstreik getreten. Welche | |
| Konsequenzen hatte das für Ihre Gesundheit? | |
| Zuerst muss ich klarstellen, dass ich Vegetarier bin. Selbst wenn ich nicht | |
| aus Protest gegen Ungerechtigkeit in den Hungerstreik getreten wäre, ist es | |
| doch so, dass es keine Option ist, im Gefängnis fleischloses Essen zu | |
| bekommen. Es kümmert dort niemanden, dass ich kein Fleisch esse, also habe | |
| ich die Tage versucht, mich durch Lesen und Briefeschreiben abzulenken. Es | |
| gibt auch anderswo auf der Welt Unrecht, also habe ich es ausgehalten, ein | |
| bis zwei Wochen mich nicht richtig zu ernähren. Anderswo hungern Menschen | |
| auch, deshalb möchte ich mich nicht darüber beklagen, dass ich im Gefängnis | |
| schlechte Bedingungen bekommen habe, weil es kein vegetarisches Essen gab. | |
| Wie erging es Ihrer Familie während Ihrer Zeit im Gefängnis, war sie in | |
| Gefahr? | |
| Jede Familie eines jeden politischen Aktivisten in Belarus wird von den | |
| Behörden bedroht. Ich bin kein Anführer, sondern ein gewöhnlicher Rock ’n�… | |
| Roller – deshalb wird meine Familie nicht vom Geheimdienst belästigt. | |
| Andere Familienangehörige von Leuten aus der Protestbewegung werden Opfer | |
| übler Nachrede, diffamiert oder sogar bedroht, das ist die traurige | |
| Wahrheit in Belarus. | |
| Unter den AktivistInnen sind viele Frauen, deren Ehemänner sogar mit | |
| Scheidung drohen, wenn sie demonstrieren. Inspiriert von [1][Swetlana | |
| Tichanowskaja] und [2][Maria Kolesnikowa], stehen Frauen für Demokratie | |
| ein. Wie finden Sie das Engagement dieser Frauen? | |
| Die Frauen sind großartig! Hätten sie nicht den friedlichen „Weißen | |
| Protest“ Mitte August arrangiert, wer weiß, wie der belorussische Wille | |
| enden würde? Als ich mit einem Peterwagen vom Gefängnis zum Gericht | |
| gebracht wurde, war es wie eine Explosion. In den Straßen demonstrierten | |
| Hunderte Frauen in Weiß mit weißen Blumen. Selbst jetzt, wenn ich daran | |
| denke, bekomme ich Gänsehaut! Ich habe keine Zweifel, dass die | |
| belorussischen Frauen von Maria Kolesnikowas Tapferkeit inspiriert und | |
| unterstützt wurden. Sie retten die Revolution! Andernfalls hätte die | |
| Brutalität der Polizei die Revolution in den ersten Tagen zum Erliegen | |
| gebracht, als sie Tausende von Menschen – hauptsächlich Männer – im ganzen | |
| Land verhaftete und diese auf so grausame Weise quälte. | |
| Trotz der Gewalterfahrung teilte Ihr Label in Deutschland mit, dass Sie | |
| bereit wären, weitere Verhaftungen zu riskieren. Kurz vor seinem Treffen | |
| mit Putin ließ Machthaber Lukaschenko Dutzende Demonstrierende verhaften. | |
| Laut Menschenrechtsorganisation Viasna, um seine Stärke zu demonstrieren. | |
| Haben Sie Angst vor einer russischen Einmischung? | |
| Wir werden nie erfahren, welche Themen bei Putins und Lukaschenkos | |
| „persönlichem“ Treffen in Sotschi angesprochen wurden, aber alle hier in | |
| Belarus sind darauf vorbereitet, dass Russland unser Land bald annektieren | |
| wird. | |
| Wie sieht die bis dahin Realität aus? | |
| Nach dem gewalttätigsten Teil der belorussischen Revolution, wenige Tage | |
| nach den Präsidentschaftswahlen Anfang August, scheint das Leben in Belarus | |
| zur sogenannten Normalität zurückzukehren. Politische Aktivisten werden wie | |
| üblich ins Gefängnis gesteckt, Menschen protestieren jeden Sonntag | |
| friedlich. Diejenigen, die Angst haben, verhaftet zu werden, bleiben zu | |
| Hause in ihren Wohnungen. Auf den Straßen gibt es keine Armee außer an den | |
| Protest-Sonntagen – [3][besonders in Minsk]. Es ist eine seltsame | |
| Erfahrung, die ich vorher so noch nicht kannte, deshalb nenne ich sie die | |
| „sogenannte Realität“. Manchmal wirkt es so, als ob die Revolution bereits | |
| zusammengebrochen ist, aber wenn nach einer harten Arbeitswoche die | |
| Aktivisten freitagabends und sonntags auf die Straße gehen und dann Polizei | |
| und Streitkräfte auftauchen, denke ich mir: Eines Tages werde ich die | |
| Panzer auf den Straßen sehen und dann wird es wie Prag 1968 sein. Das ist | |
| das wirklich seltsame Gefühl einer kognitiven Dissonanz. | |
| Bleibt Ihnen in dieser „sogenannten Realität“ noch Raum für Musik? | |
| Seit dem Tag nach den Präsidentschaftswahlen konzentrieren wir uns alle auf | |
| die aktuelle Situation. Wir kämpfen gerade für eine bessere Zukunft, und | |
| alle anderen Aktivitäten sind im Moment nicht so wichtig. Wie gesagt, ich | |
| bin und bleibe Rock ’n’ Roller, und politischer Aktivismus ist | |
| selbstverständlicher Teil meines Lebens. Weil wir in einem Land wie Belarus | |
| leben und ich seit über zwei Jahrzehnten gegen das Regime kämpfe, möchte | |
| ich im normalen Leben ein bescheidener Rockstar sein und meine simplen | |
| Lieder den Leuten singen, die wie ich Rock ’n’ Roll lieben. | |
| 23 Sep 2020 | |
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