# taz.de -- Architektur von Gerichtsgebäuden: Die Behausung von Riesen | |
> Dass wir Urteile akzeptieren, hängt auch mit der Architektur der Gerichte | |
> zusammen. Eine ästhetische Betrachtung des EuGH. | |
Bild: Blick in den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg | |
Die [1][Frustration über Polen] wächst in der Europäischen Union. Wieder | |
einmal scheinen die europäischen Institutionen nicht in der Lage zu sein, | |
einen Umgang mit einem ihrer rebellischsten Mitgliedsstaaten zu finden. | |
Seitdem die polnische Regierung und die von ihr ausgewählte Justiz erklärt | |
haben, sie seien nicht an das EU-Recht gebunden, [2][wurde wenig getan], um | |
die widerspenstige Nation zu disziplinieren. | |
Dabei ist Polen nicht allein. In Deutschland hat sich das | |
Bundesverfassungsgericht im Mai 2020 über ein Urteil des EuGH zu den | |
Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank hinweggesetzt. 2019 kündigte | |
Schweden an, dass es nicht akzeptieren werde, dass sich der Europäische | |
Gerichtshof in seine Justiz einmischt. Es ist also nicht so selten, dass | |
die Mitgliedstaaten zunächst erklären, die Anweisungen aus Luxemburg nicht | |
zu befolgen, um sich dann nach einigen Monaten den Entscheidungen des | |
Gerichtshofs anzupassen. | |
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird oft als Entscheidungsgremium | |
verstanden, das den nationalen Regierungen das Recht auf freie Gesetzgebung | |
streitig macht. Aber er ist auch ein Gebäudekomplex auf einem kleinen Hügel | |
direkt außerhalb der Stadt Luxemburg. Im Gegensatz zu anderen Obersten | |
Gerichtshöfen in Europa, die ihre Entscheidungen auf der Grundlage eines | |
schriftlichen Verfahrens treffen, fordert der EuGH die Parteien auf, nach | |
Luxemburg zu kommen und ihre Argumente vor Gericht darzulegen. | |
Aber wie ist es für einen Anwalt, wenn er nach Luxemburg geschickt wird, um | |
vor dem höchsten Gericht Europas zu plädieren? Auf einem Hügel außerhalb | |
der Stadt, dem Kirchberg, steht das Hauptgebäude, ein weitläufiger Bau aus | |
Glas und dunklem Stahl, an den sich ein großer, ziegelfarbener Komplex | |
anschließt, der wiederum zu drei goldenen Türmen führt. Die Türme gehören | |
zu den höchsten Gebäuden Luxemburgs und sind von überall in der Stadt gut | |
zu sehen. | |
## Drei goldene Türme und ein goldener Altar | |
Die Anhörungen beginnen früh am Morgen, und der Anwalt – dessen Reise wir | |
uns jetzt vorstellen – wird sich beeilen, um die Sicherheitskontrolle zu | |
passieren, wo er einen Ausweis erhält, mit dem er das Hauptgebäude betreten | |
darf. Auf dem Weg dorthin muss eine Galerie überquert werden, auf der die | |
Mitarbeiter des Gerichts in alle Richtungen eilen. Es folgt eine steile | |
Treppe aus weißem Marmor, die zu einer Halle führt, um die sich die | |
Gerichtssäle gruppieren. | |
Bevor er die für ihn zuständige Kammer betritt, muss er die Garderobe | |
aufsuchen und die passende Robe anziehen. Er öffnet die schweren Türen zur | |
Großen Kammer und wird von einem gewaltigen goldenen Ornament empfangen, | |
das über einem Podium auf der anderen Seite des Raumes hängt. Vor dem | |
Podium befinden sich rechts und links Reihen von Holzstühlen, die einen | |
Mittelgang bilden. | |
Diese ästhetischen Details, die Türme, die sich in der Ferne abzeichnen, | |
der goldene Altar, das Eilen durch eine belebte Straße und die Sorge um die | |
richtige Kleidung: All das wirkt so, als käme man zu spät zu einem | |
Gottesdienst. | |
Die in rote Roben gekleideten Richter treten durch eine goldene Tür hinter | |
dem Podium ein. Der erste Teil der Verhandlung besteht darin, dass einer | |
der Richter die Urteilstexte in einer anderen Sprache als der, die an | |
diesem Tag gesprochen werden soll, vorliest. Diese Texte werden weder | |
übersetzt noch in irgendeiner Weise erläutert und sorgen so für Verwirrung. | |
Als neuer Anwalt fragt man sich, ob man am richtigen Ort gelandet ist. Dann | |
gehen die Richter wieder hinaus, werden noch einmal angekündigt, kommen | |
durch dieselbe Tür wieder in den Saal und nehmen ihre Plätze ein. Die | |
eigentliche Verhandlung beginnt. | |
Der EuGH ist eine der mächtigsten Institutionen in Europa. Seine | |
Entscheidungen sind endgültig. Sie gelten nicht nur für die | |
Mitgliedstaaten. Sondern sie haben auch Einfluss auf alle, die mit Europa | |
als wirtschaftlicher und politischer Einheit Handel treiben oder in | |
irgendeiner Weise mit ihm zu tun haben. Er ist die letzte Instanz, es gibt | |
keine formale Möglichkeit, die Entscheidungen der Richter neu zu verhandeln | |
oder abzuschwächen. | |
Für einen Juristen mag das selbstverständlich erscheinen. Auch, dass die | |
Entscheidungen des Gerichtshofs Teil der Rechtsvorschriften der | |
Europäischen Union werden. Aber für andere Beobachter stellen sich Fragen. | |
Warum sollte ein souveräner Staat sich dem Urteil in einer fernen Stadt | |
beugen? | |
Um das zu verstehen, ist es hilfreich, die Funktion der Gerichte in unserem | |
täglichen Leben zu betrachten. Wenn ein Straf- oder Zivilgericht gegen uns | |
entscheidet, warum befolgen wir dann seine Entscheidungen? Wenn wir mit | |
anderen Behörden des Staates zu tun haben, ist die Beziehung | |
offensichtlich. Wir befolgen die Anordnungen der Polizei, weil sie die | |
Befugnis hat, uns mit Gewalt zu drohen, wenn wir nicht gehorchen. Wenn eine | |
Ärztin uns sagt, dass wir unsere Lebensweise ändern sollen, passen wir uns | |
für gewöhnlich an, weil wir akzeptieren, dass sie als Medizinerin mehr über | |
ein gutes Leben weiß als wir. | |
Doch woher kommt die Autorität der Gerichte? Durch ihre Gerechtigkeit? | |
Gerechtigkeit ist ein schwieriger Begriff. Es ist leichter zu sagen, was | |
nicht gerecht ist, als was es ist. Unw widerstrebt inzwischen der Brauch | |
von alttestamentarischen Strafen: Auge um Auge, oder das Ritual, einen | |
Sündenbock zu opfern, wie es ebenfalls in der Bibel beschrieben wird. Wir | |
wollen auch nicht von unseren Mitbürgern in einem öffentlichen Prozess | |
verurteilt werden, da wir wissen, dass unsere Nachbarn genauso | |
voreingenommen sind wie wir selbst. | |
Sie sitzen bisweilen zwar als Schöffen oder Geschworene im Gerichtssaal, | |
aber dort nimmt immer auch noch ein Richter Platz. Schon Platons Politea, | |
das einflussreichste Werk in der abendländischen politischen Philosophie, | |
begreift den Staat als fragiles Gleichgewicht, in dem jeder Einzelne die | |
Aufgaben erfüllt, für die er am besten geeignet ist. | |
Der Begriff Gerichtshof weist auf eine Verbindung zwischen der Justiz und | |
dem königlichen Hof hin. Der Grundstein für Ästhetik von Gerichtsgebäuden | |
wurde von Napoleon gelegt, der den Conseil d'État, eines der obersten | |
Gerichte Frankreichs, in der Residenz von Kardinal Richelieu, dem Palais | |
Royal, einrichtete. | |
Zu Revolutionszeiten war die Justiz von Revolutionstribunalen ausgeübt | |
worden, Todesurteile und öffentliche Hinrichtungen waren an der | |
Tagesordnung. Es war die Zeit des „Großen Terrors“. Damit machte der neue | |
Herrscher Schluss. Napoleon holte die Justiz von der Straße und brachte sie | |
in ein kontrollierbares Umfeld. Das untergegangene Ancien Régime erwies | |
sich dabei als idealer Rahmen. | |
Das revolutionäre Frankreich erhob – wie moderne Staaten heute – den | |
Anspruch, dem Willen des Volkes zu folgen. Unsere Verfassungen berufen sich | |
nicht mehr auf göttliche Vernunft, sondern allein auf den Willen des | |
Volkes. | |
In einem modernen Gerichtssaal sitzt der Richter immer noch über den | |
anderen; die Aufteilung von Zeit und Raum ist starr, die Sprache archaisch | |
und für die meisten unverständlich. Das alles erinnert an eine Audienz vor | |
einem exzentrischen Monarchen. Indem wir den Akt des Richtens außerhalb der | |
üblichen ästhetischen Normen der demokratischen Gesellschaft ansiedeln, | |
verbergen wir theatralisch das Problem, wie ein Volk über sich selbst | |
richten kann. „Der Prozess“ von Franz Kafka zeigt eindrucksvoll das Gefühl | |
der Entfremdung, zu dem dieses System führen kann. | |
In dem Maße, in dem sich das von Montesquieu entwickelte Prinzip der | |
Gewaltenteilung in Europa durchsetzte, setzte sich auch diese Form der | |
Ästhetik der Gerichte durch. Am deutlichsten lässt sich das an den riesigen | |
Justizpalästen in den Hauptstädten der europäischen konstitutionellen | |
Monarchien des 19. Jahrhunderts zeigen. In dem Maße, in dem die Monarchen | |
selbst aufgeklärt wurden und sich aus der Rechtsdurchsetzung zurückzogen, | |
nahm die Architektur der Gerichtsgebäude wie auch der Parlamente | |
gigantische Ausmaße an. | |
## Mystifizierung der Gerechtigkeit | |
Justizgebäude gehören in Madrid, in Brüssel, in Rom, Wien und Budapest zu | |
den zu den größten Gebäuden – und sind völlig unproportional. Die Türen | |
sind zu groß für Menschen, die Fenster sind zu hoch, als dass ein Mensch | |
hindurchschauen könnte, die Verzierungen sehen aus wie die eines antiken | |
Tempels oder einer Kathedrale, die Grundrisse sind unmöglich kompliziert | |
mit schwindelnden Treppen und unterirdischen Tunneln, in denen sich jeder | |
Besucher leicht verirren kann. Einmal drinnen, hat man das Gefühl, die | |
Behausung eines Riesen betreten zu haben. | |
Diese Mystifizierung der Gerechtigkeit entspricht unserer europäischen | |
Psyche. Wir wollen nicht in Tribunalen von unseren Mitmenschen verurteilt | |
werden. Wir ziehen den Richter vor, eine unparteiische Autorität, die vom | |
allgemeinen Verständnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit abstrahieren | |
kann. Unsere Vorstellung von Gerechtigkeit entspricht nicht dem | |
gesichtslosen bürokratischen System, das Kafka sich vorstellt. Stattdessen | |
spielen die Richter in unseren Gerichtssälen immer noch die Rolle von | |
Ludwig XIV. in Molières Stück „La Tartuffe“: die eines allmächtigen deus… | |
machina, der die Bühne betritt, um Recht zu sprechen. | |
Unter diesem Gesichtspunkt bricht das Gerichtsgebäude in Luxemburg mit der | |
juristischen Ästhetik des modernen Europa. Die Vertreter, die mit der | |
vollen Rückendeckung eines Landes wie Deutschland oder Polen vor das | |
Gericht treten, werden sich nämlich nicht allein durch Bilder einschüchtern | |
lassen. Die sakrale Ästhetik bereitet die dort Anwesenden auf eine Umkehr | |
vor, die auf Reflexion beruht. | |
Indem das Interieur des Gerichtssaals den Blick von den Richtern selbst auf | |
den glänzenden goldenen Kronleuchter über ihnen lenkt, mildert es den | |
kontradiktorischen Aspekt der Verhandlung und deutet etwas an, das darüber | |
hinausgeht. Es geht nicht darum, die Unterwerfung unter die Richter zu | |
inszenieren. Jede Verhandlung in diesen Sälen läuft auf die Frage hinaus, | |
ob ein Staat akzeptieren kann, dass andere Staaten ähnlich handeln wie er | |
selbst. Und sich der Mehrheit beugt. Der Gerichtshof der Europäischen Union | |
verlangt, dass die Staaten, über die er urteilt, seine Entscheidungen | |
freiwillig umsetzen. Dies erfordert Zeit, und der EuGH ist berüchtigt | |
dafür, für jeden Fall viel Zeit in Anspruch zu nehmen. | |
Die ästhetische Umgebung einer abgeschiedenen Dorfkirche auf einem Hügel | |
regt den Geist zum Wandern an. In der Gegenwart einer Kraft, die nicht nur | |
stärker ist als wir selbst, sondern die auch der Grund dafür ist, warum wir | |
dort sind, neigen wir dazu, Argumente über Recht und Unrecht zu vergessen, | |
und fragen uns, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. | |
Vielleicht sollte diese Ästhetik zu einem Modell für die Justizreform in | |
ganz Europa werden, als Zeichen dafür, dass die Gerichte an unser | |
historisches Zusammengehörigkeitsgefühl appellieren und uns nicht als | |
widerspenstige Untertanen behandeln. Auf jeden Fall können wir aus den | |
Tiraden gegen den EuGH, die von politischen Führern in ganz Europa | |
angestimmt werden, etwas Grundlegendes darüber lernen, wie die Justiz im | |
modernen Zeitalter funktioniert: Die Gerichte sind die Sündenböcke. | |
Aus dem Englischen von Felix Zimmermann | |
16 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /EuGH-verhaengt-Zwangsgelder-gegen-Polen/!5808659 | |
[2] /Rechtsstreit-zwischen-Polen-und-EU/!5806243 | |
## AUTOREN | |
Johan Arnborg | |
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