| # taz.de -- Franz Kafka und die Architektur: Im Labyrinth aus Vorzimmern | |
| > Wie kafkaesk sind diese Räume! Gebäude trügen in Kafkas Erzählungen und | |
| > Romanen. Zugleich kündigen sie etwas Großes, Mächtiges an. | |
| Bild: Kafka sieht dich an: Straßenszene in seiner Geburtsstadt Prag | |
| Von einem Ritt auf den Schultern eines Bekannten schreibt Kafka traumhaft. | |
| Und wie der Reitende „schnell genug in das Innere einer großen, aber noch | |
| unfertigen Gegend“ vordringt. „Unfertige Gegend“, die Worte irritierten | |
| seine Prager Schriftstellerkollegen, zumindest will es so eine Szene in der | |
| derzeit [1][viel beachteten ARD-Serie zu Franz Kafka]. Ob man denn so etwas | |
| schreiben könne, was denn eine „unfertige Gegend“ bedeute. | |
| Man kann sich das Unfertige gut vorstellen, das Kafka in der zwischen 1903 | |
| und 1907 verfassten „Beschreibung eines Kampfes“ nur bei der Andeutung | |
| belässt: Wie die Felder in der Landschaft zur Hälfte abgeerntet sind, am | |
| Horizont eine Straße abrupt endet. Wenn auch offenbar sonst menschenleer, | |
| ist diese Gegend menschengemacht, auf eine Art taucht darin Architektur | |
| auf. | |
| „Keine menschliche Kunst erscheint bei Kafka so tief kompromittiert wie die | |
| Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner macht die Ratlosigkeit | |
| sich vernehmbarer“, schreibt Walter Benjamin 1934 in seinem Essay über | |
| Franz Kafka. | |
| Welche Architektur zeichnet Kafka in seinen Texten nach? Man kann eine | |
| einfache Beobachtung machen. Gilt Kafka als Autor der literarischen | |
| Moderne, so taucht die architektonische Moderne bei ihm eher nicht auf. Die | |
| Entfremdung des Individuums ist bei ihm ein zentrales Thema, aber sie | |
| findet nicht vor der Kulisse [2][einer Architektur statt, die sich in ihren | |
| späten Jahren den Vorwurf jener Entfremdung einbrachte]. Kafkas Räume sind | |
| viel zu rätselhaft für die Klarheit, den Funktionalismus, die sachliche | |
| Formgebung eines Bauens der Moderne. | |
| [3][Orson Welles verortet zwar 1962 in seiner Verfilmung] von „Der Prozess“ | |
| die grotesken Umstände von der Verhaftung des Josef K., Prokurist einer | |
| Bank, in einem kühlen Großraumbüro, die bei ihm zu einer regelrechten | |
| Abfertigungshalle der modernen Dienstleistungsgesellschaft wird. Doch viele | |
| Momente setzt der Filmregisseur in dunkle Treppenaufgänge, in viel zu | |
| kleine Hinterkammern, vor überdimensionierte Türen, in die | |
| surreal-verzogenen, nicht-modernen, kafkaesken Räume. | |
| ## Anklänge ans Mittelalter | |
| Kafkas Beschreibungen von Architektur sind häufig uneingelöste Vermutungen, | |
| als wäre sich der Autor der Orte nicht sicher, die er selbst ersonnenen | |
| hat. In „Das Schloss“ holt Frieda, die Geliebte des K., Speisen aus einem | |
| Hinterraum, doch geht sie dafür „an der Tür vorbei, hinter der K. die | |
| Küche wähnte“. Das Schloss selbst bleibt immer nur eine Ahnung. „Nebel und | |
| Finsternis umgeben den Schlossberg, auch nicht der schwächste Lichtschein | |
| deutete das große Schloss an.“ | |
| Gebäude trügen in Kafkas Texten, zugleich kündigen sie etwas unerreichbar | |
| Großes, Mächtiges an. In der Architekturgeschichte kann man nach solchen | |
| mystischen Räumen weit vor der Moderne suchen. Man findet sie in der | |
| Architektur des Mittelalters, etwa in der einer europäischen Stadt wie | |
| Prag, wo Türme weite Plätze verlautbaren, sich aber die Gassen lieber an | |
| ihnen vorbeikrümmen. Oder im Avignoner Papstpalast, wo die hoch im | |
| Engelsturm gelegenen Privatgemächer des Pontifex Maximus derart von einem | |
| Labyrinth aus Vorzimmern umgeben sind, dass es sich nicht bis zu ihnen | |
| vordringen lässt. | |
| In Kafkas „Der Bau“ räsonniert ein tierisches Subjekt, vielleicht ein | |
| Dachs, vielleicht eine Ratte, über seine künstlerischen Fertigkeiten. Der | |
| Bau „scheint wohlgelungen“, berichtet das Tier. „Von außen ist eigentlich | |
| nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends | |
| hin.“ Das Bauwerk als Blendwerk, ohne Funktion. Solche Absurditäten tauchen | |
| erst wieder in der Architektur der Postmoderne auf. [4][Man kann da etwa an | |
| Aldo Rossis] monumentale Treppe ins Nichts in Perugia denken. Ein | |
| ironisches Bauwerk von 1989. Auch in Kafkas grotesken Räumen steckt eine | |
| gewisse Ironie. | |
| 2 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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