| # taz.de -- Franz Kafka in Berlin: „Er wollte sich abstrampeln“ | |
| > Welche Sehnsucht trieb Kafka nach Berlin? Ein Treffen mit dem Verleger | |
| > Hans-Gerd Koch, der Kafkas Wege durch die Hauptstadt nachgezeichnet hat. | |
| Bild: Franz Kafka sei sich seiner Wirkung auf Frauen sehr bewusst gewesen, sagt… | |
| Berlin taz | Es gibt diese Geschichte von Kafka und dem weinenden Mädchen, | |
| das im Stadtpark Steglitz seine Puppe verloren hatte. Kafka soll dem | |
| aufgelösten Kind beim Spazieren begegnet sein und ihm versichert haben, | |
| dass die Puppe ganz bestimmt nicht verschwunden, sondern nur auf Reisen | |
| sei. Als Beweis, so die Legende, schrieb er dem Mädchen Briefe aus Sicht | |
| der Puppe, die von ihren Abenteuern außerhalb von Steglitz handelten. | |
| Angeblich fanden insgesamt um die 20 solcher Parklesungen statt, die Puppe | |
| wurde von Brief zu Brief erwachsener, lernte einen Mann kennen, heiratete. | |
| Klar, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr bloß Spielzeug sein | |
| konnte, da lag ein ganzes Leben vor ihr. | |
| Kafka-Experte Hans-Gerd Koch, 70 Jahre alt, schmale Statur, gewählte | |
| Ausdrucksweise, schreibt in seinem Buch „Kafka in Berlin“ über die | |
| Anekdote, sie sei entweder „wahr“ oder „genauso schön erfunden“. Was g… | |
| er denn selbst? | |
| Koch nimmt einen Schluck Apfelschorle. Wir sitzen in diesem Stadtpark auf | |
| der Terrasse eines Restaurants, das es damals noch nicht gab, was Kafka | |
| aber vermutlich sowieso gemieden hätte – zu wenige vegetarische Gerichte | |
| auf der Karte. Ansonsten wirkt die Grünanlage so zeitlos, als könnte der | |
| Schriftsteller hier, ohne aufzufallen, gleich um die Ecke kommen: keine | |
| Studenten, die oberkörperfrei Spikeball spielen, keine Bluetoothboxen, | |
| keine Trimm-dich-Areale. | |
| ## Kinderloser Kinderfreund | |
| Ob nun wahr oder erfunden, „die Geschichte mit dem Mädchen passt zu ihm“, | |
| sagt Hans-Gerd Koch. [1][Kafka] habe Kinder sehr gemocht, zeitweilig | |
| bedauert, dass er selbst keine hatte, und sich liebevoll um seine Nichten | |
| und Neffen gekümmert. Im beginnenden Herbst 1923 in Steglitz dürfte dem | |
| schwer kranken 40-Jährigen bereits bewusst gewesen sein, dass es mit einer | |
| Familie in diesem Leben nichts mehr wird. | |
| Als Kafka sich endlich seinen Traum von Berlin erfüllt, kann er mit der | |
| Stadt nicht mehr mithalten. „Über die nächste Umgebung der Wohnung komme | |
| ich kaum heraus“, schreibt er Freunden in Prag, der Bahnhof Zoo mache ihn | |
| ängstlich und kurzatmig, „mein Potsdamer Platz ist der Steglitzer | |
| Rathausplatz“. | |
| Noch Jahre zuvor war Kafka nach der Ankunft am Anhalter Bahnhof nur schnell | |
| ins Hotel Askanischer Hof geeilt, um seine Sachen loszuwerden und gleich | |
| weiterzufahren zum Lessingtheater, den Kammerspielen, dem Deutschen | |
| Theater, dem Metropol. Auf dem Spielplan: Molières „Heirat wider Willen“, | |
| Einakter nach Schnitzler, Shakespeares „Komödie der Irrungen“ oder Max | |
| Reinhardts Inszenierung von „Hamlet“. | |
| Dann Treffen mit der berufstätigen Verlobten Felice Bauer im Café Josty am | |
| Potsdamer Platz („damals wie der Piccadilly Circus“, so Koch) oder bei | |
| ihrer Familie in Charlottenburg. [2][Verknallt hatte sich Kafka in Bauers | |
| Berliner Schnauze], ihren „frechen und spöttischen Ton“, sagt der Experte, | |
| „ihre Weltläufigkeit, ihre Belesenheit, ihre Selbstständigkeit. Und dann | |
| tanzte sie noch Tango.“ Kafka soll das angesichts der Anrüchigkeit nicht so | |
| toll gefunden haben, denn „das grenzte ja für damalige Verhältnisse schon | |
| an Petting“. | |
| ## Suche nach Avantgarde | |
| 1910, mit 27 Jahren, war Kafka zum ersten Mal nach Berlin gereist und hatte | |
| dort gesucht, was Menschen in ihren Zwanzigern heute noch in dieser Stadt | |
| vermuten: ein Leben außerhalb der Komfortzone. Unbequeme Umstände (viel | |
| künstlerische Konkurrenz, Lärm, unfreundliche Leute), die einen zu | |
| kreativen Höchstleistungen anspornten. Gleichzeitig interessierte er sich | |
| für vegetarische Küche, eine achtsame Lebensweise und alternative Medizin. | |
| Mit über 150 vegetarischen Restaurants um 1900, der aufkommenden | |
| Wandervogelbewegung (Frische Luft! Einheit von Natur und Körper!) und einem | |
| Charitéchef, der ganzheitliche Therapien propagierte, war das | |
| avantgardistische Berlin also Kafkas place to be. | |
| „Er wollte sich abstrampeln und gefordert sein, sich aus dem bequemen Schoß | |
| seiner Familie wegbewegen“, sagt Hans-Gerd Koch. Doch etwaigen Umzugsplänen | |
| kommt der Krieg, dann die Krankheit dazwischen. Anfang der zwanziger Jahre | |
| lernt Kafka an der Ostsee die Wahlberlinerin Dora Diamant kennen, | |
| vermutlich ist sie es, die ihn überzeugen kann, es noch mal zu probieren. | |
| Als er sich auf den Weg macht, wiegt Kafka nur noch 54 Kilo. Und auch | |
| Berlin ist malad: leidet an Hyperinflation, Wohnungsnot, | |
| Lebensmittelknappheit. | |
| Dass Kafka sich an diese ruppigen Verhältnisse anpasst, davon zeugen Briefe | |
| an die Familie. Seine kleine Schwester Ottla bittet er immer wieder um | |
| Butterpakete – ein beliebtes Zahlungsmittel auf dem Schwarzmarkt. Frau | |
| Herrmann, Kafkas Vermieterin in der Miquelstraße 8 (heute | |
| Muthesiusstraße), die ihm binnen kürzester Zeit die Miete versechsfacht, | |
| inspiriert ihn zu einer seiner letzten Erzählungen „Eine kleine Frau“. | |
| Und trotz schlechter Verfassung findet Kafka einen Grund, sich hin und | |
| wieder herauszufordern und Steglitz zu verlassen. Zeitweise zweimal die | |
| Woche besucht er die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in | |
| Mitte. „Eine Hinwendung zu den Wurzeln am Ende seines Lebens, denke ich“, | |
| sagt Hans-Gerd Koch. Anfang 1924 verlässt Kafka Berlin, um sich in | |
| Österreich behandeln zu lassen. Wenige Monate später stirbt er, Dora | |
| Diamant an seiner Seite. | |
| ## „Suspense wie bei Hitchcock“ | |
| Das war vor 100 Jahren. Vor 50 Jahren beginnt Hans-Gerd Kochs Beziehung zu | |
| Kafka, und zwar mit einer Enttäuschung. Als Abiturient liest er „Das | |
| Schloss“, ist dabei ganz gebannt, aber „noch nicht ausreichend editorisch | |
| geschult“, um die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen, dass auf dem | |
| Cover „Ein Fragment“ steht. Das Buch bricht ab, Koch ist frustriert. Eine | |
| richtige Faszination für den Schriftsteller habe sich bei ihm erst sehr | |
| viel später im Leben eingestellt, und sowieso sei er vorsichtig mit diesem | |
| Begriff, denn so einige seien über die Beschäftigung mit Kafka „schon ein | |
| bisschen ausgeflippt“. Diese Gefahr habe bei ihm nie bestanden, „ich habe | |
| immer auch eine Distanz zu ihm gehabt und zu seinem Schreiben“. | |
| Aber wenn man Koch dann reden hört über seine Wiederentdeckung des | |
| „Hungerkünstlers“, dessen „Sprache, Flow, Form der Argumentation, | |
| sprachliche Gestaltung, Rhythmus der Sätze“ er „einfach nur hinreißend“ | |
| findet, oder wie er schwärmt über „die filmischen Elemente in ‚Der | |
| Verschollene‘, wie Kafka da mit Suspense arbeitet wie Hitchcock“ – dann | |
| klingt das schon sehr leidenschaftlich. Als 28-Jähriger wurde Koch während | |
| seines Germanistikstudiums in Wuppertal eher zufällig erst Hilfskraft, dann | |
| Redaktionsleiter der Kritischen Ausgabe der Werke Kafkas. | |
| Von ihm stammen beispielsweise die Bearbeitungen der „Tagebücher“, der | |
| „Drucke zu Lebzeiten“ und diverser Briefbände. „Am Anfang waren das noch | |
| befristete Verträge, ich dachte: ‚Vier Jahre, why not?‘ “ Aus den vier | |
| Jahren sind über 40 geworden, Koch ist „mit Kafka um die Welt gekommen“, | |
| hat eine enge Verbindung zur Familie, insbesondere den Nachkommen von | |
| Kafkas im KZ getöteten Schwestern Ottla und Valli. Eine Kafka-Nichte, Věra | |
| Saudková, hat ihm bei einem Besuch in Prag mal Schuhkartons voller Fotos | |
| mitgegeben, niemand aus der Familie interessierte sich dafür. Mittlerweile | |
| hat Koch die Bilder einem ihrer Enkel zurückgegeben. | |
| Neben seiner Beschäftigung mit Kafka leitet Koch den Karl Rauch Verlag in | |
| Düsseldorf, der unter anderem Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ | |
| veröffentlicht. In der Vergangenheit betreute er Autorinnen wie A. L. | |
| Kennedy. Kann er Kafka beim Lektorieren abschütteln? | |
| ## Ein früher George Clooney | |
| „Ich glaube, ich habe durch Kafka eine gewisse Großzügigkeit gelernt, denn | |
| ich rühre seine Texte ja nicht an.“ Den Respekt, den er Kafka gegenüber | |
| aufbringe, habe er auch für seine lebendigen Autor:innen. | |
| Der österreichische Schriftsteller David Schalko, der Regie geführt hat bei | |
| einer [3][Kafka-Miniserie für die ARD], hat mal gesagt, je näher man Kafka | |
| komme, desto geheimnisvoller werde es. Hans-Gerd Koch lehnt sich zurück und | |
| sagt dann langsam und mit Nachdruck: „Neeeee.“ Um dann aber auch gleich | |
| klarzustellen, dass er sich diese Serie nicht ansehen könne, denn viel zu | |
| gut wisse er, wie es wirklich gewesen sei, und viel zu blass finde er den | |
| Hauptdarsteller. | |
| Kafka sei „eher Typ George Clooney“ gewesen, ein ruhiger und gelassener | |
| Mensch, der seiner Wirkung durchaus bewusst war, gut aussehend, charmant, | |
| mit einer unglaublichen Wirkung auf Frauen. 1,80 Meter groß, dunkler Teint, | |
| stahlblaue Augen, schwarzes Haar, später von silbernen Strähnen durchzogen, | |
| toll gekleidet, sportlich (rudern, schwimmen, müllern), dazu ein | |
| fantastischer Sänger (Operetten). Dass so einer auch noch gut zu Kindern | |
| ist, ihnen voller Hingabe 20 Briefe aus Puppenperspektive schreibt, ist nur | |
| die logische Schlussfolgerung. Hätten die Spekulationen über den Steglitzer | |
| Stadtpark nun also auch ein Ende. | |
| 2 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Leonie Gubela | |
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