# taz.de -- 100. Todestag Franz Kafka: Wer hat Angst vor Kafka? | |
> Einspruch gegen die Welt erheben, ohne direkten Einspruch zu erheben, | |
> geht das denn? Über Franz Kafkas Werk wurde viel gestritten. | |
Bild: 1963 in Liblice: Kafka-Konferenz mit Folgen | |
Viel wurde gestritten über den Aspekt der Entfremdung bei [1][Kafka]. | |
Angesichts des stets wiederkehrenden, undurchdringlichen Systems der Macht | |
und der Nichtmöglichkeit von Kommunikation in Kafkas Werk drängte sich den | |
Interpreten die [2][Kategorie Entfremdung] förmlich auf. Jedoch waren es, | |
wie man wohl annehmen würde, nicht unbedingt die marxistischen | |
Literaturkritiker und -theoretiker, die Kafka verehrten. | |
Im Gegenteil. Wie auch den späteren Existenzialisten warfen ihm viele | |
übersteigerten Subjektivismus, Nihilismus und gar Ästhetizismus vor. | |
Klar, Kafkas Protagonisten werden nicht im kapitalistischen | |
Produktionsprozess mit Entfremdung geschlagen, und um die Erkenntnis einer | |
objektiven Wirklichkeit geht es bei ihm schon gar nicht. Mit dem | |
klassischen Realismus in der Literatur hatte dieser Autor der literarischen | |
Moderne ganz offenbar gebrochen. Die Kafka’sche Avantgarde galt vielen als | |
dekadent, was heute fast vergessen ist. | |
Gleich ob bürgerliche oder materialistische Literaturtheorie, suspekt war | |
ihnen gleichermaßen die affizierende, gar ätzende Wirkung von Kafkas | |
Allegorien mit ihren hermetischen Welten, die kein Raum-Zeit-Kontinuum mehr | |
kennen. | |
## Einspruch gegen Instrumentalisierung | |
Anders Theodor W. Adorno. Er verehrte Kafka, gerade weil er bei Kafka keine | |
„Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus | |
ihren Bruchstücken“ vorfand. „In ihren Monologen hallt die Stunde, die der | |
Welt geschlagen hat: darum erregen sie so viel mehr, als was mitteilsam die | |
Welt schildert“, schrieb Adorno über Kafka, Joyce und Beckett. | |
„Aber die Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre | |
Funktionslosigkeit; purer Aberglaube, sie vermöchte direkt einzugreifen | |
oder zum Eingriff zu veranlassen“, heißt es in Adornos „Ästhetischer | |
Theorie“ gegen jede Form der engagierten oder realistischen Kunst | |
gerichtet, weil: „Instrumentalisierung von Kunst sabotiert ihren Einspruch | |
gegen Instrumentalisierung.“ Für Adorno war auch das eine Lehre, die aus | |
der Katastrophe, der Schoah, gezogen werden musste. | |
Von Kafkas Einspruch gegen die verwaltete Welt, der eben genau kein | |
direkter Einspruch im Sinne eines Abbilds jener schlechten wahren Welt ist | |
und dem schon gar nicht an Bewusstmachung gelegen ist, konnten sich auch | |
die Realsozialisten gemeint fühlen. Was sie auch taten. | |
Das Verdikt der Realsozialisten gegen Kafka ging vor allem auf den | |
Marxisten Georg Lukács und seinen programmatischen Aufsatz „Franz Kafka | |
oder Thomas Mann“ zurück. Lukács wähnte sich vor die Alternative | |
„interessante Dekadenz oder lebenswahrer kritischer Realismus?“ gestellt | |
und plädierte dogmatisch für Zweiteres. | |
Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Kafka der Autor ist, der am Anfang | |
einer Öffnung der Ostblockstaaten steht: 1963, auf der Kafka-Konferenz in | |
Liblice bei Prag, diskutierte man, so die Überlieferung, erstmals | |
öffentlich Entfremdung in Bezug auf den realen Sozialismus. Vielen gilt | |
diese Konferenz als Initiator des Prager Frühlings 1968. | |
1 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Franz-Kafka/!t5012755 | |
[2] /Debatte-Entfremdung-bei-Marx/!5501103 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
## TAGS | |
Franz Kafka | |
Karl Marx | |
Entfremdung | |
Literatur | |
Theorie | |
Theodor W. Adorno | |
Marxismus | |
Franz Kafka | |
Franz Kafka | |
Schauspiel Hannover | |
Kapitalismuskritik | |
Karl Marx | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Videospiel über Literatur: Zocken mit Kafka | |
Franz Kafka erlebt anlässlich seines 100. Todestages einen regelrechten | |
Hype. Dazu gehört nun auch das Videospiel „Playing Kafka“. | |
Franz Kafka in Berlin: „Er wollte sich abstrampeln“ | |
Welche Sehnsucht trieb Kafka nach Berlin? Ein Treffen mit dem Verleger | |
Hans-Gerd Koch, der Kafkas Wege durch die Hauptstadt nachgezeichnet hat. | |
Kafka am Schauspielhaus Hannover: Diese Schabe gehört in ein Museum | |
Clara Weyde inszeniert „Die Verwandlung“ nach Franz Kafka am Schauspielhaus | |
Hannover. Inklusive erotischem Begehren der Schwester und herzlosen Eltern. | |
Aufregung wegen blasphemischer Kunst: Rabiat sein ist so einfach | |
In Israel protestieren arabische Christen gegen eine Skulptur. Die Frage, | |
was Kunst darf, steht im Raum – ist aber vielleicht die falsche. | |
Debatte Entfremdung bei Marx: Im Unbewussten verewigt | |
Entfremdung ist der Soundtrack der coolen Jugend. Aber auch | |
Erlösungsprediger quatschen von Entfremdung. Und was sagt Marx? |