| # taz.de -- Die EU im Osten Europas: Neues im Osten | |
| > Demokraturen und andere demokratiefeindliche Formationen: Claus Leggewie | |
| > und Ireneusz Paweł Karolewski sezieren die brenzlige Lage in den | |
| > V4-Staaten. | |
| Bild: Viktor Orban(l), Angela Merkel und Peter Pellegrini, Ministerpräsident d… | |
| Manche Bücher kommen zur richtigen Zeit. Während in Polen gerade | |
| Hunderttausende gegen den EU-feindlichen Kurs der PiS-Regierung auf die | |
| Straße gegangen sind, gibt es keine bessere Lektüre als die | |
| „Visegrád-Connection“ der Politologen Claus Leggewie und Ireneusz Paweł | |
| Karolewski. Die vier [1][Visegrád-Staaten (V4)] sind Ungarn, Polen, | |
| Tschechien und Slowakei, die 1991 im ungarischen Visegrád eine | |
| postsowjetische Zusammenarbeit beschlossen. | |
| Ihre heutige „Herausforderung für Europa“ wird zwar vor allem im Falle | |
| Ungarns und Polens auch hierzulande wahrgenommen, oft aber nicht korrekt | |
| eingeschätzt. Denn die Anti-EU-Polemik der V4 zielt nicht auf eine Trennung | |
| von der Union – dazu bietet diese ihnen zu viele Vorteile, auch die | |
| Bevölkerungen sind für den Verbleib. | |
| Vielmehr wollen sie die EU von innen verändern, von der Tendenz zum | |
| Bundesstaat wieder zu einem loseren Staatenbund mit hoher nationaler | |
| Souveränität. Dazu ist das jüngste Urteil des PiS-dominierten polnischen | |
| Verfassungsgerichts, das die Hoheit polnischen Rechts vor EU-Recht | |
| bekräftigte, ein wichtiger Schritt. | |
| Über das, was Leggewie und Karolewski „Party State Capture“ nennen – also | |
| die Übernahme eines Staates durch eine Partei –, wird in Bezug auf Ungarn | |
| und Polen auch bei uns ausführlich berichtet. Seit den Machtantritten von | |
| Viktor Orbáns Fidesz 2010 und Jarosław Kaczyńskis PiS 2015 wurden dort | |
| systematisch Medien und Justiz unterwandert und dadurch „Demokraturen“, | |
| Mischformen aus Demokratie und Diktatur, geschaffen. | |
| ## Eine pseudoliberale Oligarchie | |
| Weniger im Fokus steht dagegen die „Corporate State Capture“ – also die | |
| Machtübernahme durch Unternehmen – in Tschechien und der Slowakei. Obwohl | |
| Tschechien lange „als Vorbild der Demokratisierung“ angesehen wurde, ist | |
| dort im verblassenden Glanz der Bürgerrechtsbewegung eine „pseudoliberale | |
| Oligarchie“ mit den höchsten Korruptionswerten der OECD entstanden, in der | |
| Premier Andrej Babiš seit seinen politischen Anfängen vor zehn Jahren sein | |
| Vermögen fast verhundertfachen (!) konnte. | |
| Vorreiter eines „korporatistischen Mafiastaats“ in Europa war allerdings | |
| die Slowakei, wo seit der Unabhängigkeit 1993 der „Pate“ Vladimir Mečiar | |
| Staatsbetriebe an politische Freunde und Familie „regelrecht verramscht“ | |
| hat und noch [2][2018 der Journalist Ján Kuciak ermordet] wurde, nachdem er | |
| kriminelle Aktivitäten der regierenden Smer-SD aufdeckte. | |
| Der Auftragsmord löste dort allerdings die größten Massenproteste seit der | |
| Samtenen Revolution 1989 aus, die schließlich die Bürgerrechtlerin Zuzana | |
| Čaputová ins Präsidentenamt brachten. Glücklicherweise sind die | |
| Zivilgesellschaften der V4 noch nicht verloren, wie auch andere Proteste in | |
| den Ländern zeigen. | |
| ## Kaum faire Wahlen | |
| Hier müsste auch die EU ansetzen und Opposition und Zivilgesellschaft in | |
| den V4 stärken. Denn in vielen Ländern stehen Wahlen an, und wenigstens die | |
| sind noch frei – wenn auch kaum fair. In Tschechien etwa wurde Babiš gerade | |
| abgewählt, könnte aber dennoch Premier bleiben. | |
| Leggewie und Karolewski machen in ihrem hervorragenden Überblick deutlich, | |
| was in den V4 auf dem Spiel steht und wie eine Bedrohung für Europa noch | |
| abgewendet werden könnte. Die Lage ist brenzlig. | |
| 31 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Orbans-Wahlerfolg-in-Ungarn/!5494728 | |
| [2] /Prozess-im-Fall-Jan-Kuciak/!5652266 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Wohlfarth | |
| ## TAGS | |
| EU-Krise | |
| Ungarn | |
| Polen | |
| Slowakei | |
| EU-Mitgliedstaaten | |
| Politisches Buch | |
| Schwerpunkt Korruption | |
| Autokratie | |
| Viktor Orbán | |
| Europäischer Gerichtshof | |
| Polen | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| EU-Flüchtlingspolitik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neue Kulturbauprojekte in Ungarn: In Orbáns Wald wachsen Gebäude | |
| Im Budapester Stadtwäldchen Városliget entsteht ein Museums- und | |
| Kulturkomplex, dem viel Grün zum Opfer fällt. Kritiker beklagen zudem | |
| Korruption. | |
| Buch über Ungarn, Europa und Russland: „Bis gerade eben an Putins Seite“ | |
| Seit dem Ukraine-Krieg zeigt sich Viktor Orbán der EU gegenüber | |
| konsensfähig. Lacy Kornitzer über den Zustand Ungarns vor den Wahlen. | |
| Ungarn hetzt und kooperiert mit der EU: Orbáns Pfauentanz | |
| Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef spielt ein doppeltes Spiel. | |
| Einerseits hetzt er gegen die EU, andererseits zeigt er sich kooperativ. | |
| Architektur von Gerichtsgebäuden: Die Behausung von Riesen | |
| Dass wir Urteile akzeptieren, hängt auch mit der Architektur der Gerichte | |
| zusammen. Eine ästhetische Betrachtung des EuGH. | |
| EU und Polen: Verschärfte Symbolik | |
| Polen weigert sich, die Disziplinarkammer für Richter zu suspendieren. Der | |
| EuGH setzt deshalb finanzielle Daumenschrauben an. | |
| Migration über Belarus nach Deutschland: Zwischen den Fronten | |
| Belarus lässt Migranten durchreisen, um es der EU heimzuzahlen, Polen | |
| versucht die Einreise der Menschen zu stoppen. Ein Ortsbesuch nahe der | |
| Grenze. | |
| Reaktionen auf „Asylpakt“ der EU: Europa ohne Solidarität | |
| Die Visegrád-Gruppe hält nichts vom neuen „Asyl- und Migrationspakt“ der | |
| EU-Kommission. Für Ursula von der Leyen ist das ein herber Rückschlag. |