| # taz.de -- Ungarn hetzt und kooperiert mit der EU: Orbáns Pfauentanz | |
| > Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef spielt ein doppeltes Spiel. | |
| > Einerseits hetzt er gegen die EU, andererseits zeigt er sich kooperativ. | |
| Bild: Anti-Regierungs-Protest mit EU-Fahne vor dem ungarischen Parlament im Mai… | |
| Während sich internationale Regierende auf der [1][COP26] trafen, feuerte | |
| der nicht an der Konferenz teilnehmende Viktor Orbán eine weitere | |
| Breitseite gegen die EU ab. Er bezeichnete die grünen Vorschläge der EU als | |
| „utopische Fantasie“, die die Energiekosten in die Höhe treiben werde. Für | |
| den EU-Gipfel kommende Woche prophezeite er ein diplomatisches Gerangel. | |
| Orbáns [2][feindselige Stimmungslage] mag aus der Einsicht resultieren, | |
| dass Europas Führungskräfte angesichts seiner illiberalen Politik langsam | |
| die Geduld verlieren. Die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren | |
| gegen Ungarn eingeleitet, nachdem die Regierung Anfang des Jahres ein | |
| homophobes „Pädophilengesetz“ verabschiedet hat. | |
| Zugleich forderte die Kommission strengere Maßnahmen zur | |
| Korruptionsbekämpfung, bevor sie Ungarns Auszahlungen aus dem | |
| Wiederaufbaufonds genehmigt. Auch an anderen Stellen fährt die EU eine | |
| härtere Gangart. So verhängte der [3][EuGH gegen Polen] unlängst eine | |
| Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag, weil die Regierung in Warschau | |
| ein EU-Urteil ignoriert, das zum Schutz der polnischen Richter die | |
| Neubesetzung der Disziplinarkammer verlangte. | |
| Es scheint heute riskanter als noch vor einigen Jahren zu sein, die EU | |
| offen zu provozieren. Als Reaktion auf die strenger werdende EU haben | |
| einige prominente Köpfe in der ungarischen Regierung angeregt, über einen | |
| Austritt des Landes nachzudenken. Einige von Orbáns Kabinettsministern | |
| haben die Idee in den Raum gestellt, die Mitgliedschaft in ein paar Jahren | |
| zu überdenken, wenn das Wirtschaftswachstum in Ungarn weniger von | |
| EU-Geldern abhängig ist. Hier zeichnet sich ein alarmierendes Muster ab: | |
| ## UngarInnen mehrheitlich gegen Huxit | |
| Ob gewollt oder als Folge von Fehlentscheidungen: Ungarn steuert immer | |
| stärker auf einen EU-Austritt zu. Erst vor sechs Monaten verließ Orbáns | |
| Fidesz-Partei das Europäische Parlament, bevor sie nach wiederholten | |
| Verstößen gegen europäisches Recht aus dem Mitte-rechts-Block der EVP | |
| gedrängt werden konnte. Doch jenseits der Rhetorik – will Orbán tatsächlich | |
| die EU verlassen? Vordergründig deutet wenig darauf hin, dass er ernsthaft | |
| einen „Huxit“ anstrebt. | |
| 85 Prozent der [4][ungarischen Bevölkerung befürworten die | |
| EU-Mitgliedschaft], unter ihnen 77 Prozent der Fidesz-Wähler. | |
| Wahrscheinlicher ist, dass er sich auf die Parlamentswahlen im Frühjahr | |
| nächstes Jahr vorbereitet, bei denen die Fidesz durchaus eine Niederlage | |
| erleiden könnte. Orbán versucht, das Erfolgsrezept von 2018 zu wiederholen, | |
| als die Fidesz ihre dritte Amtszeit in Folge mit einer radikalen | |
| Antimigrationspolitik und EU-feindlichen Haltung gewann. | |
| Könnte sich dies auf lange Sicht ändern? Orbán heizt seine Anhänger | |
| unerbittlich mit EU-feindlicher Propaganda an. Man darf nicht | |
| unterschätzen, welch gewaltige Infrastruktur die Regierungspartei für ihre | |
| Kampagnen aufgebaut hat und wie geschickt sie die öffentliche Meinung zu | |
| manipulieren versteht. Wenn Orbán die Wahlen im nächsten Frühjahr gewinnt, | |
| könnte dieses Bollwerk die EU-freundliche Mehrheit aushöhlen. | |
| Auch wenn einige europäische Regierungen über einen Austritt Orbáns mehr | |
| als glücklich wären, so würde ein Polexit oder Huxit doch einen | |
| dramatischen Bedeutungsverlust der EU in der Welt markieren. Nach dem | |
| Schock und den [5][Turbulenzen des Brexits] würde das niemand wollen. Orbán | |
| ist ein geschickter Taktiker. Während er einerseits die EU provoziert, | |
| zeigt er sich andererseits in für die Gemeinschaft wichtigen Bereichen | |
| kooperativ. | |
| Bis zur Pandemie verfolgte Orbán eine disziplinierte Finanzpolitik, bei der | |
| er mit Deutschland und den sparsamen Ländern eine partnerschaftliche | |
| Beziehung pflegte. Nach dem Brexit blieb er kooperativ und blieb selbst in | |
| außenpolitischen Fragen und wichtigen Entscheidungen, wie den Sanktionen | |
| gegen Russland, auf gleicher Linie mit der EU. Nur bei weniger wichtigen | |
| Belangen schaltete er erneut auf Gegenwind. | |
| ## Orbán will die EU verändern | |
| Nicht zuletzt unterstützt Orbán Frankreichs Bestrebungen, die Atomkraft als | |
| saubere Energie zu etablieren, und macht sich Freunde bei deutschen | |
| Automobilfirmen, indem er bei EU-Entscheidungen für deren Interessen | |
| eintritt. Dieser „Pfauentanz“, wie Orbán es selbst ausdrückte, hat bislang | |
| sehr gut funktioniert. Anders als die polnische PiS-Regierung hat Orbán nie | |
| einen direkten Kampf gegen die EU geführt. Er will die EU nicht verlassen, | |
| er will sie verändern. | |
| Mithilfe neuer Bündnisse rechtsradikaler Parteien in Europa hoffen Orbán | |
| und PiS-Chef Jarosław Kaczyński, ihre Regierungsgewalt und ihre Erfahrung | |
| mit westlichen radikalen Parteien zu bündeln, um die Richtung der | |
| EU-Politik zu ändern und sie zu nötigen, Autokraten unter ihren Mitgliedern | |
| zu akzeptieren. | |
| Orbáns jüngste Treffen mit Frankreichs Marine Le Pen und [6][Éric Zemmour] | |
| deuten ebenso wie seine Unterstützung für Polens Mateusz Morawiecki und | |
| Italiens Matteo Salvini darauf hin, dass bald eine rechtsradikale | |
| politische Gruppe an die Öffentlichkeit treten wird. Ich gehe davon aus, | |
| dass sie noch vor den Wahlen in Ungarn zustande kommen wird, um Wählerinnen | |
| und Wählern zu beweisen, dass Orbán und seine Partei keinesfalls zu | |
| Außenseitern geworden sind, sondern in Europa eine starke Rolle spielen. | |
| Der Einfluss der Autokraten wird ab diesem Zeitpunkt stärker, lauter und | |
| geschlossener sein, vor allem wenn die gemäßigten europäischen Parteien | |
| keine bessere Strategie finden, um diese illiberale Macht in die Schranken | |
| zu weisen. In dieser Situation muss die EU ihren Werten treu bleiben, klare | |
| Grenzen für ihre Mitgliedstaaten setzen und gewährleisten, dass illiberale | |
| Regelverletzer nicht in ihrer Gemeinschaft agieren können. | |
| Was auch immer Orbán beabsichtigt, es besteht die Gefahr, dass im Falle | |
| einer weiteren Amtszeit Ungarns Mitgliedschaft in der EU zum ersten Mal auf | |
| dem Spiel steht. | |
| Aus dem Englischen von Ingo J. Biermann | |
| 8 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ergebnisse-der-COP26/!5811057 | |
| [2] https://abouthungary.hu/speeches-and-remarks/prime-minister-viktor-Orb%C3%A… | |
| [3] /EuGH-verhaengt-Zwangsgelder-gegen-Polen/!5808659 | |
| [4] https://dailynewshungary.com/is-huxit-supported-by-hungarians/ | |
| [5] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864 | |
| [6] /Rechter-Zemmour-erklaert-Kandidatur/!5815701 | |
| ## AUTOREN | |
| Zsuzsanna Szelényi | |
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