| # taz.de -- EuGH-Urteil zu Rechtstaatlichkeit: EU-Gericht billigt die Geldkeule | |
| > Polen und Ungarn scheitern mit Klagen gegen die neue | |
| > EU-Sanktionsverordnung. Die beiden Länder müssen nun mit Geldkürzungen | |
| > rechnen. | |
| Bild: Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki und der ungarischen Prem… | |
| FREIBURG taz | Der neue finanzielle EU-Sanktionsmechanismus kann jetzt | |
| angewandt werden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) [1][lehnte am Mittwoch | |
| Klagen von Polen und Ungarn] ab: Der Rechtsstaatsmechanismus verstoße nicht | |
| gegen EU-Recht. Wegen der großen Bedeutung der Sache entschied der EuGH im | |
| Plenum aller 27 Richter:innen. | |
| Schon seit Jahren wurde diskutiert, wie die EU auf EU-Mitgliedstaaten | |
| einwirken kann, die ihre [2][Gerichte auf Regierungslinie] bringen, die die | |
| [3][Grundrechte von Minderheiten] missachten und die im Innern korrupt | |
| sind. Der EU-Vertrag sieht in Artikel 7 ein eher unpraktikables Verfahren | |
| vor: Einem Staat, der die Werte der EU verletzt, können die Stimmrechte in | |
| EU-Gremien entzogen werden – wenn sich alle anderen Staaten einig sind. Das | |
| Verfahren läuft aber leer, wenn sich zwei Staaten, etwa [4][Polen und | |
| Ungarn, gegenseitig decken]. | |
| Deshalb hat die EU im Dezember 2020 einen weiteren Sanktionsmechanismus | |
| beschlossen. Bei Mitgliedsländern, die intern die Rechtsstaatlichkeit | |
| verletzen und so finanzielle Interessen der EU gefährden, können | |
| EU-Gelder gekürzt oder gestrichen werden. Die EU nennt das | |
| „Konditionalität“: Geld gibt es nur bei rechtsstaatlichem Verhalten. | |
| Beschlossen werden die Sanktionen dann mit qualifizierter Mehrheit | |
| (erforderlich sind also mindestens 15 von 27 EU-Staaten, die für 65 Prozent | |
| der EU-Bevölkerung stehen). | |
| Polen und Ungarn konnten die Sanktionsverordnung damals nicht verhindern. | |
| Sie drohten aber, den EU-Haushalt und den 700 Milliarden Euro schweren | |
| Corona-Aufbaufonds zu blockieren. Deshalb sagten Brüssel und die anderen | |
| EU-Staaten zu, den neuen Sanktionsmechanismus erst dann anzuwenden, wenn | |
| der EuGH über die angekündigten [5][Klagen von Polen und Ungarn] | |
| entschieden habe. Das Europäische Parlament war über dieses Zugeständnis | |
| empört und erhob im Oktober 2021 eine Untätigkeitsklage gegen die | |
| EU-Kommission, über die der EuGH aber noch nicht entschieden hat. | |
| ## Recht ist auf Seite der EU | |
| An diesem Mittwoch ging es nur um die Nichtigkeitsklagen von Polen und | |
| Ungarn. Sie hielten den Sanktionsmechanismus aus drei Gründen für | |
| rechtswidrig. Erstens habe die EU keine Kompetenz, die Justiz der | |
| Mitgliedstaaten zu kontrollieren. Zweitens werde das Verfahren nach Artikel | |
| 7 umgangen. Und drittens sei völlig unklar, was mit „Rechtsstaatlichkeit“ | |
| überhaupt gemeint ist. Alle drei Argumente hat der EuGH nun zurückgewiesen. | |
| Die EU habe das Recht, einen Mechanismus zum Schutz ihres Haushalts zu | |
| beschließen, so die Richter:innen. Das Ziel der neuen Verordnung sei nicht | |
| die Beseitigung von rechtsstaatlichen Mängeln in den Mitgliedstaaten, | |
| sondern der Schutz der finanziellen Interessen der EU. Das Geld aus Brüssel | |
| soll dafür ausgegeben werden, wofür es vorgesehen ist. Wenn in einem | |
| bestimmten Staat das EU-Geld vor allem an Regierungsgünstlinge ginge und es | |
| in diesem Staat keine unabhängige gerichtliche Kontrolle gäbe, dann wären | |
| zugleich die finanziellen Interessen der EU verletzt. | |
| Der EU-Haushalt, so der EuGH, beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass | |
| alle Mitglieder das Geld korrekt ausgeben. Im Haushalt werde auch die | |
| gegenseitige Solidarität konkretisiert, betonten die Richter:innen. Es gehe | |
| nicht an, dass Staaten die EU-Werte nur beim Beitritt einhalten und sie | |
| später missachten. Die EU müsse in der Lage sein, die gemeinsamen Werte im | |
| Rahmen ihrer Aufgaben zu verteidigen. | |
| Artikel 7 wird laut EuGH nicht umgangen, denn er habe eine andere Funktion | |
| als die neue Sanktionsverordnung. Der Artikel ziele darauf, die Verletzung | |
| verschiedener EU-Werte in Problemstaaten abzustellen, während die neue | |
| Verordnung nur den Haushalt schütze und sich auf Rechtsstaatsmängel | |
| beschränke. | |
| Schließlich hält es der EuGH auch für ausreichend klar, was mit | |
| „Rechtsstaatlichkeit“ gemeint ist: transparente und pluralistische | |
| Gesetzgebung, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Schutz der | |
| Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot von Willkür. So stehe es | |
| auch ausdrücklich in der Verordnung. | |
| ## Sanktionsverfahren bereits auf dem Weg | |
| Gegen die EuGH-Entscheidung können Polen und Ungarn keine Rechtsmittel mehr | |
| einlegen. Die EU-Kommission kann und muss den Sanktionsmechanismus nun | |
| anwenden. Auf Druck des EU-Parlaments hat Kommissionschefin Ursula von der | |
| Leyen im November bereits Briefe mit vielen Fragen an Ungarn und Polen | |
| geschickt, eine erste Stufe im Sanktionsverfahren. | |
| Gleichzeitig hat die EU-Kommission bereits im Vorjahr die Auszahlung von | |
| [6][Geldern aus dem Corona-Aufbaufonds] an Polen und Ungarn blockiert. Für | |
| Polen geht es dabei um 24 Milliarden Euro Zuschüsse, Ungarn wartet auf rund | |
| 7 Milliarden Euro. Offiziell hat Brüssel dabei nicht den | |
| Sanktionsmechanismus angewandt, faktisch ging es aber auch hier um die | |
| Frage, ob die Gelder im Sinne der EU verwendet werden und es ausreichende | |
| Kontrollen gibt. | |
| Zudem hat der EuGH in zwei Vertragsverletzungsverfahren Zwangsgelder gegen | |
| Polen verhängt. Konkret geht es um den [7][Braunkohletagebau Turów], der | |
| ohne Umweltprüfung betrieben wird. Hier setzte der EuGH im September 2021 | |
| ein tägliches Zwangsgeld von 500.000 Euro an. | |
| Und im Streit um die Disziplinarkammer für Richter:innen, die die | |
| Unabhängigkeit der Justiz bedroht, verlangt der EuGH seit Oktober 2021 | |
| täglich 1 Million Euro. Auch dies ist unabhängig vom neuen | |
| Sanktionsmechanismus. | |
| Az.: C-156/21 und C-157/21 | |
| 16 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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