| # taz.de -- Recherche zu „New York Times“: Tötete Israel 100 Transpersonen… | |
| > Die „New York Times“ zeigt mangelnde Bereitschaft, eine Falschmeldung zu | |
| > korrigieren. Eine Recherche zum Weg einer Fake News in Zeiten heißer | |
| > Kriege. | |
| Bild: Das beschädigte Büro des Staatsanwalts im Evin-Gefängnis nach dem isra… | |
| Im Zuge des israelisch-iranischen Zwölftagekriegs im Juni 2025 wurde auch | |
| das Evin-Gefängnis in Teheran bombardiert. Die taz veröffentlichte Ende | |
| Juli dazu [1][ein Gespräch mit Kamran Ghaderi,] der von 2016 bis 2023 dort | |
| inhaftiert war. Das berüchtigte Evin-Gefängnis steht symbolhaft für die | |
| fortwährenden Menschenrechtsverbrechen der Islamischen Republik Iran. | |
| Kritiker des taz-Gesprächs mit Ghaderi behaupteten jedoch, das israelische | |
| Militär habe beim Angriff auf das Evin-Gefängnis neben Geheimdiensttrakt, | |
| Justizgebäuden und Eingangsbereich auch einen Trakt mit hundert | |
| Transsexuellen getroffen. Sie beriefen sich dazu auf einen von der „New | |
| York Times“ im Juli veröffentlichten Beitrag. Auch die deutsche und | |
| englische Wikipedia beziehen sich bei ihren Einträgen zum Evin-Gefängnis | |
| darauf. Allerdings finden sich keine weiteren Quellen zu den angeblich 100 | |
| verschwundenen oder toten Transsexuellen aus dem Teheraner Evin-Gefängnis. | |
| Wir fragten deswegen bei der „New York Times“ nach. Doch die Mails mit | |
| detaillierten Fragen an Chefredaktion, Leitung Auslandsressort sowie an die | |
| verantwortliche Redakteurin des Beitrags, Farnaz Fassihi, blieben in der | |
| Sache unbeantwortet. Am 7. August schrieb uns eine Mitarbeiterin der „New | |
| York Times“, Nicole Taylor, kursorisch und abschließend: „Hallo, wir haben | |
| dem, was wir in dem Artikel berichtet haben, nichts weiter hinzuzufügen. | |
| Danke.“ Daraufhin ließen wir die iranischen Quellen der „New York Times“ | |
| selbst überprüfen. Heraus kam schließlich ein Lehrstück über | |
| Fahrlässigkeit, Propaganda und Desinformation, aber lesen Sie selbst. Die | |
| Redaktion | |
| Der Boden ist wackelig, der Sumpf sehr nah. Nur Haltung gewährt Halt. | |
| Journalisten aus Kriegsregionen, die für westliche Medienhäuser arbeiten, | |
| haben häufig eine hervorgehobene Position. Gelten sie doch als ausgewiesene | |
| Kenner, aufgrund ihrer Herkunft und Sprachkenntnisse verfügen sie oft über | |
| besondere Kontakte. Doch wie sie ihre besonderen Kenntnisse einsetzen, ob | |
| kritisch oder nicht, das hängt von ihrer Überzeugung und Professionalität | |
| ab. Oft ist der Abstand zu einem unmittelbar beteiligten Kombattanten eines | |
| weltweit stattfindenden Informationskrieges kürzer, als man glauben möchte. | |
| So auch bei einem Artikel der New York Times, der am 6. Juli unter der | |
| Überschrift [2][„Israel’s Deadly Assault on Iran Prison] Incites Fury, Even | |
| among Dissidents …“ erschien und online abrufbar ist. | |
| Übersetzt lautet die Überschrift, „Israels tödlicher Angriff auf iranisches | |
| Gefängnis löst Wut aus, sogar unter Dissidenten“. Im Zuge der | |
| Bombenkampagne gegen das iranische Regime und dessen Atomprogramm hatte | |
| Israel auch das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran am 23. Juni 2025 | |
| angegriffen. Das Evin-Gefängnis ist das wohl bekannteste Symbol für die vom | |
| iranischen Regime begangenen Menschenrechtsverbrechen. | |
| Die New York Times berichtete in ihrem Artikel über angeblich viele zivile | |
| Opfer durch den israelischen Angriff. Aber so richtig interessant wurde der | |
| Text der Autorinnen Farnaz Fassihi, Parin Behrooz und Leily Nikounazar über | |
| die israelische „Schandtat“ erst durch eine krasse Behauptung. Sie | |
| schrieben: „Etwa 100 transsexuelle Gefangene werden vermisst, nachdem ihr | |
| Trakt des Gefängnisses dem Erdboden gleichgemacht wurde; die Behörden gehen | |
| davon aus, dass sie tot sind.“ | |
| ## Keine Nachricht dazu | |
| Eine sensationelle Nachricht. Doch woher stammt sie? Die Behörden der | |
| Islamischen Republik haben selbst nie so etwas gesagt. Es findet sich keine | |
| Nachricht dazu. | |
| Fassihi, langjährige Redakteurin und derzeit Büroleiterin der New York | |
| Times bei den Vereinten Nationen, und ihre beiden jungen Co-Autorinnen | |
| geben als einzige Quelle den iranischen Rechtsanwalt Reza Shafakhah an. Ihn | |
| gibt es auch wirklich. Neben Kriminellen verteidigt er Dissidenten und | |
| Aktivisten und geht laut eigenen Aussagen beruflich im Evin-Gefängnis ein | |
| und aus. Denn dort befindet (oder befand sich bis zum Angriff) die | |
| Staatsanwaltschaft, Zweigstelle 33, die sich mit politischen Fällen | |
| befasst, aber auch mit Betrug, Gewalt und anderen Delikten. | |
| Shafakhah äußert sich (wie andere seiner Kollegen in Iran auch) sporadisch | |
| öffentlich zu seinen Mandanten. Aber auch zu anderen Themen. [3][Seine | |
| Webseite] hat er unter das Motto gestellt: „Ich glaube, dass die größte | |
| Frage der Menschheit seit jeher die Vorstellung von der Überwindung der | |
| eigenen Sterblichkeit betrifft. Von Höhlenmalereien und eingeritzten | |
| Baumstämmen bis zu den Versen von Hafez oder wissenschaftlichen Theorien – | |
| jeder Mensch versucht auf seine Weise, eine Spur in dieser Welt zu | |
| hinterlassen.“ | |
| Auf der Webseite kritisierte er auch den israelischen Angriff auf das | |
| Evin-Gefängnis. Israels Vorgehen missachte Leben und Sicherheit der | |
| Gefangenen; denn der Zeitpunkt des Angriffs – mittags an einem Werktag – | |
| habe auch bedeutet, dass viele zivile Besucher, Anwälte, Mediziner und | |
| Verwaltungspersonal zugegen gewesen seien. | |
| ## Die meisten Opfer gehörten zum Wach- und Justizpersonal | |
| Von dem israelischen Angriff getroffen wurde, wie der Anwalt bestätigt, der | |
| Eingangsbereich sowie das Verwaltungs- und Gerichtsgebäude des | |
| Evin-Gefängnisses. [4][Wie der Langzeitgefangene Kamran Ghaderi] in seinem | |
| taz-Gespräch Ende Juli darstellt, besteht das riesige Evin-Gefängnis aus | |
| sehr unterschiedlichen Bereichen. | |
| Die meisten Opfer des israelischen Angriffs gehörten zum Wach- und | |
| Justizpersonal. Aber auch eine dreiköpfige Familie mit ihrem 5-jährigen | |
| Kind, die sich wegen eines Gefangenenbesuchs zufällig dort aufhielten, | |
| kamen ums Leben. | |
| Laut iranischen Behörden sollen insgesamt 82 Personen bei dem Angriff | |
| gestorben sein. [5][Die Gefängnisleitung veröffentlichte Namen und Bilder] | |
| von 78 „Märtyrern“, allesamt Staatsbedienstete, darunter auch berüchtigte | |
| Schergen des Folterregimes. | |
| Im [6][Juli veröffentlichten die BBC und der Nachrichtensender TV Iran | |
| International] zudem Luftaufnahmen des Evin-Gefängnisses nach der | |
| Bombardierung. Auf ihnen ist genau zu sehen, dass nur das Portal und das | |
| Verwaltungsgebäude beschädigt sind. | |
| ## Die einzig genannte Quelle der „New York Times“ | |
| Das Gefängnis ist inzwischen wieder intakt, die teils evakuierten | |
| Gefangenen sind zurückgekehrt. Aber was ist nun mit jenen 100 | |
| Transgender-Gefangenen, deren Trakt laut New York Times völlig zerstört sei | |
| und die nun alle vermisst oder tot seien? Als ich Rechtsanwalt Shafakhah, | |
| die einzig genannte Quelle des New-York-Times-Artikels, im Gespräch direkt | |
| danach fragte, war er außer sich. Er bestreitet vehement, je so etwas | |
| gesagt zu haben. Auch Kollegen der BBC hätten ihn deswegen schon angerufen. | |
| Doch wie kommt es dann zu der Geschichte von den hundert vermissten oder | |
| toten Transgender-Gefangenen? | |
| Anwalt Shafakhah stellt es so dar. Er sagt: „Ich war dabei, Frau Fassihi | |
| von meinem Gehörten nach dem Raketenanschlag zu erzählen und davon, wie die | |
| Menschen danach herumgeirrt seien, unter ihnen wahrscheinlich auch | |
| Transgender. Sofort unterbrach mich Frau Fassihi und fragte, wie viele | |
| Gefangene würden normalerweise in einem Trakt untergebracht. Ich | |
| antwortete: hundert. Ich habe weder von vermissten Transgender gesprochen | |
| noch von einem zerstörten Trakt, weder eine Zahl genannt noch weiß ich | |
| überhaupt, wie viele Transgender in iranischen Gefängnissen einsitzen.“ | |
| Warum er trotzdem auf seiner eigenen Webseite auf den | |
| New-York-Times-Beitrag verweist, frage ich den Anwalt. Das sei nur als ein | |
| allgemeiner Hinweis, keineswegs als eine Bestätigung der über die New York | |
| Times verbreiteten Fakten und Daten gedacht, antwortet er. | |
| ## Mangelnde Distanz zu den Machthabern in Iran | |
| Warum aber publiziert eine erfahrene Journalistin wie Farnaz Fassihi eine | |
| solche Story über angeblich 100 vermisste oder von Israel getötete | |
| Transgender? Rechtsanwalt Shafakhah interpretiert es so: „Ich glaube, hier | |
| ist eine Teufelei im Spiel. Da Israel behauptet, nur den Eingang und das | |
| Gefängnispersonal getroffen zu haben, wollte sie offenbar dem Ganzen mit | |
| etwas Sensationellem widersprechen, um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen.“ | |
| Schwerwiegende Vorwürfe. Doch es ist auch nicht das erste Mal, dass die | |
| 1971 geborene Journalistin Farnaz Fassihi wegen ihrer Berichterstattung in | |
| die Kritik gerät. Leser beschwerten sich immer wieder über Fassihis, wie | |
| sie meinten, mangelnde Distanz zu den Machthabern in Iran. 2021 | |
| veröffentlichten Akademiker, Journalisten und Aktivisten – überwiegend mit | |
| oppositionellem iranischem Hintergrund –, [7][einen offenen Brief an | |
| Herausgeber und Chefredaktion] der New York Times, in dem sie die Rolle von | |
| Fassihi hinterfragten. | |
| Fassihis derzeitiger Arbeitsplatz, das UN-Büro der New York Times, befindet | |
| sich an demselben Ort, wo auch die Vertretung der Teheraner Machthaber bei | |
| den Vereinten Nationen residiert. Der Iran unterhält dort keine normale | |
| UN-Mission wie jede andere. Da die Islamische Republik offiziell keine | |
| diplomatischen Beziehungen zu den USA pflegt, fungiert die UN-Vertretung | |
| quasi als Botschaft. Vieles, was die Teheraner Machthaber der US-Regierung | |
| oder der amerikanischen Öffentlichkeit mitteilen wollen, geschieht über | |
| dieses Büro. Es gibt Beobachter, die meinen, Farnaz Fassihi säße vielleicht | |
| etwas zu nahe an der Quelle. | |
| Anmerkung der Redaktion: Nach Veröffentlichung dieses Artikels wurde die | |
| Falschbehauptung der „New York Times“ auf der englischen Seite zum | |
| Evin-Gefängnis auf Wikipedia gelöscht. | |
| 10 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kamran-Ghaderi-ueber-Evin-Gefaengnis-/!6100531 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2025/07/06/world/middleeast/israel-iran-evin-prison… | |
| [3] http://rezashafakhah.com | |
| [4] /Politische-Gefangene-im-Iran/!5848773 | |
| [5] https://www.mashreghnews.ir/news/1731526/%D8%A7%D8%B3%D8%A7%D9%85%DB%8C-%D9… | |
| [6] https://www.iranintl.com/fa/202507012579 | |
| [7] https://medium.com/@iranfactrecords/open-letter-to-the-new-york-times-fc641… | |
| ## AUTOREN | |
| Ali Sadrzadeh | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel | |
| Teheran | |
| Angriff | |
| Gefängnis | |
| Transgender | |
| Fake News | |
| New York Times | |
| Reden wir darüber | |
| Social-Auswahl | |
| Proteste in Iran | |
| Radtouren | |
| US-Wahl 2024 | |
| wochentaz | |
| Kanzler Merz | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Islamismus | |
| Nahost-Debatten | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Welttag gegen die Todesstrafe am 10.10.: „Eine Hinrichtung ist unumkehrbar“ | |
| Der Vater von Zhino Beigzadeh Babamiri sitzt in Iran im Todestrakt. Mit der | |
| Organisation „Daughters of Justice“ kämpft sie gegen die Todesstrafe. | |
| Verdacht der Spionage: Deutsch-französischer Radreisender im Iran freigelassen | |
| Ein 19-jähriger deutsch-französischer Radreisender war im Iran verhaftet | |
| worden und saß im berüchtigten Evin-Gefängnis ein. Nun wurde er | |
| freigesprochen. | |
| Trump verklagt die New York Times: Trump will 15 Milliarden vom „Sprachrohr d… | |
| Der US-Präsident wirft der „New York Times“ vor, Lügen über ihn und seine | |
| Familie zu verbreiten. Und sie habe Kamala Harris unterstützt. Das sei | |
| Wahlbetrug. | |
| Drei Jahre nach dem Tod Mahsa Aminis: Iran braucht Hilfe von außen | |
| Der Tod der Kurdin im Polizeigewahrsam löste Massenproteste aus. Viele | |
| Iraner*innen glauben, dass sie Israel ihre relative Ruhe vor der | |
| Sittenpolizei verdanken. | |
| Deutsche Iran-Politik: Drei Jahre leere Phrasen | |
| Was bleibt nach den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten im Iran? Eine | |
| deutsche Politik, die Menschenrechte je nach Opportunität ein- oder | |
| ausblendet. | |
| Entführter Unternehmer über Haft in Iran: „Sie benutzen uns wie Trümpfe in… | |
| Der iranische Geheimdienst kidnappte Kamran Ghaderi 2016. Ein Gespräch über | |
| siebeneinhalb Jahre im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis und Irans | |
| Agenten. | |
| Zukunft Irans: Das Ringen um die Ära nach Chamenei | |
| Nach den Schlägen des israelischen Militärs ist im Iran die Herrschaft Ali | |
| Chameneis so geschwächt wie noch nie. Wie es dort weitergehen könnte. | |
| Israel, Iran und das Mullahregime: Teheran, was nun? | |
| Vor der Kamera sagt es niemand, doch viele Menschen in Iran freuen sich | |
| über die Verluste des despotischen Regimes. Es wirkt instabiler denn je. |