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# taz.de -- Deutsche Iran-Politik: Drei Jahre leere Phrasen
> Was bleibt nach den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten im Iran? Eine
> deutsche Politik, die Menschenrechte je nach Opportunität ein- oder
> ausblendet.
Bild: Eine iranische Frau in Teheran: Über 850 Menschen wurden allein in diese…
Arash* war 20 Jahre alt, als ihn ein Schuss der Revolutionsgarden bei den
Protesten in Iran traf. Nach der Ermordung der Kurdin Jina Mahsa Amini
durch die Sittenpolizei brachen [1][landesweite Proteste unter der Parole
„Frau, Leben, Freiheit“] aus. Arash war einer von Tausenden, die auf die
Straße gingen und für Freiheit demonstrierten. Aus 50 Metern Entfernung
zielte ein Mann in Uniform auf sein Gesicht und zeichnete ihn damit für den
Rest seines Lebens. Heute lebt Arash in einem Drittland und versteckt sich
aus Angst vor einer Abschiebung nach Iran. Sein Antrag auf Aufnahme in
Deutschland nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes, also eine sogenannten
humanitäre Aufnahme, wurde abgelehnt.
Ein Schicksal wie dieses macht die ganze Absurdität der deutschen
Iranpolitik sichtbar. 2022 kündigte die damalige Außenministerin Annalena
Baerbock (Grüne) an, den Verfolgten der Proteste in Deutschland [2][Schutz
zu geben]. Eine niedrige dreistellige Zahl von Aufnahmezusagen pro Jahr kam
zustande. Doch schon unter der damaligen sozialdemokratischen
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stockten die Verfahren, die
Kriterien wurden enger. Selbst Menschen, denen ins Auge geschossen worden
war, galten nicht mehr als „herausragend engagiert“ genug.
Mit der Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Friedrich Merz
kam die Vollbremse. Drei Monate lang wurden humanitäre Aufnahmen komplett
gestoppt. Inzwischen gibt es sie wieder – aber nur noch für „herausragende
Menschenrechtler*innen“ oder Journalist*innen mit starkem
Deutschlandbezug. Wer entscheidet, was „herausragend“ ist? Das
Bundesinnenministerium unter der Leitung von Alexander Dobrindt. Das
vereinfachte Profilraster, das den Protestierenden der „Frau, Leben,
Freiheit“-Bewegung eine klare Perspektive bot, existiert nicht mehr.
Gleichzeitig ließen die Innenminister*innen der Länder den
Abschiebestopp nach Iran schon Ende 2023 auslaufen. Seitdem werden wieder
Menschen [3][in ein Land abgeschoben], in dem mehr als 850 Menschen allein
in diesem Jahr hingerichtet wurden. Jede einzelne Abschiebung bedeutet
direkte Kooperation mit einem Regime, das foltert, mordet und Frauen für
das Abstreifen eines Kopftuchs auspeitscht. Erst im Juni sollte eine
67-jährige Frau aus Bayern zu ihrem gewalttätigen Ehemann abgeschoben
werden – zwei Tage vor Ausbruch des Kriegs zwischen Israel und der
Islamischen Republik Iran. Deutschland steht vor menschenrechtliche
Abgründen – und es scheint, als wolle die Union direkt hineinspringen.
## Ihre Worte waren nichts Wert
Die Doppelmoral ist unübersehbar. Noch vor drei Jahren schmückte sich die
Union mit Solidaritätsbekundungen für die „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegun…
Aus der Opposition heraus war das einfach, rückblickend geradezu billig. In
der Regierungsverantwortung dagegen zeigt sich, was diese Worte wert waren:
nichts. Denn wer seine Solidarität ausspricht und gleichzeitig
Aufnahmeverfahren sabotiert, Abschiebungen durchführt und mit den Mördern
in Teheran verhandelt, betreibt keinen Wertediskurs, sondern ist zynisch.
Auch außenpolitisch ist das Bild düster. Deutschland, Frankreich und
Großbritannien – die sogenannten E3-Staaten – verhandeln derzeit mit dem
iranischen Regime über das Atomprogramm. Menschenrechte spielen in keinem
Statement eine Rolle. Kein Wort zu den Hungerstreiks politischer
Gefangener, die seit Januar 2024 jeden Dienstag in Dutzenden Gefängnissen
gegen die Todesstrafe protestieren. Kein Wort zu Folter, Hinrichtungen,
Verschwindenlassen und dem Krieg des Regimes gegen die eigene Bevölkerung.
Stattdessen behauptet Bundeskanzler Friedrich Merz, Israel mache mit den
völkerrechtswidrige Bombardements im Juni die [4][„Drecksarbeit für uns“]…
wissend, dass dabei auch Zivilist*innen getötet wurden; wissend, dass
von den Angriffen auch die politischen Gefangenen [5][im berüchtigten
Evin-Gefängnis] betroffen waren – genau jene Gefangenen, mit deren
Schicksal sich die Union, und auch Friedrich Merz, noch vor Kurzem
vermeintlich solidarisch zeigte.
Was bleibt drei Jahre nach dem Ausbruch der „Frau, Leben,
Freiheit“-Proteste? Eine Politik, die Menschenrechte je nach Opportunität
ein- oder ausblendet. Nach außen ein Bekenntnis zur Freiheit, nach innen
ein Kooperationsmodus mit Folterern. Die Botschaft an die Menschen in Iran
ist verheerend: Ihr seid auf euch allein gestellt, Deutschland interessiert
sich nicht für euch.
## Hoffnung erwächst aus Widerstand
Doch sie geben nicht auf. In zahlreichen Städten Irans protestieren
Menschen derzeit trotz massiver Repressionen gegen die ständigen Strom- und
Wasserausfälle, gegen die Hinrichtungen, gegen das gesamte Regime.
Politische Gefangene melden sich immer wieder aus den Gefängnissen mit
Protestschreiben zu Wort, treten in Hungerstreiks, riskieren weitere Folter
und längere Haftstrafen, um ein Zeichen zu setzen. Junge Menschen sprühen
Parolen gegen das Regime an die Wände, schreiben Proteste auf Geldscheine,
um sie in Umlauf zu bringen. Arbeiter*innen treten immer wieder in
Streiks. Der Freiheitskampf in Iran geht täglich weiter.
Hoffnung erwächst nicht aus der deutschen Politik, sondern aus dieser
Beharrlichkeit. Wer heute noch auf die Straßen Irans geht, wer in den
Gefängnissen protestiert, beweist, dass Widerstand möglich bleibt. Aber
Deutschland trägt Verantwortung. Wer von Solidarität und Frauenrechten
spricht, aber in ein Land abschiebt, wo Frauen ausgepeitscht und Menschen
die Finger amputiert werden, zeigt seine Doppelmoral.
Wer in der Opposition von der Unterstützung der mutigen Protestierenden in
Iran spricht, aber in Regierungsverantwortung keine gefährdeten Personen
mehr aufnehmen möchte, verspielt seine Glaubwürdigkeit. Wer in
Sonntagsreden von Freiheit spricht, muss in Alltagsentscheidungen
Menschenleben schützen. Ansonsten wird Solidarität zur leeren Phrase.
*Name redaktionell geändert
15 Sep 2025
## LINKS
[1] /Proteste-in-Iran/!t5884344
[2] /Reaktion-auf-die-Proteste-in-Iran/!5880142
[3] /Menschenrechtslage-im-Iran/!6046466
[4] /Mutmasslicher-Spion-verhaftet/!6097695
[5] /Recherche-zu-New-York-Times/!6109387
## AUTOREN
Daniela Sepehri
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