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# taz.de -- Drei Jahre nach dem Tod Mahsa Aminis: Iran braucht Hilfe von außen
> Der Tod der Kurdin im Polizeigewahrsam löste Massenproteste aus. Viele
> Iraner*innen glauben, dass sie Israel ihre relative Ruhe vor der
> Sittenpolizei verdanken.
Bild: Der Tod von Mahsa Amini am 16. September 2022 löste massive Proteste aus…
Der Mann holt mit seinem Schlagstock aus – und schlägt ihn hart gegen meine
Windschutzscheibe. Das Glas zersplittert, Scherben spritzen über meinen
Körper und mein Gesicht. Er reißt die Autotür auf, packt mich am Schopf und
schleudert mich zu Boden. Sein Gesicht ist hinter einer schwarzen Maske
verborgen. Er knurrt mich an: „Du Hure, hast du wirklich geglaubt, ich
würde dich so durch die Straßen laufen lassen?“
Ich wache schweißgebadet auf. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird,
dass ich mich in meiner Wohnung in Berlin befinde. Es fühlt sich an, als
wäre ich drei Jahre zurück nach Teheran versetzt worden.
In jene Tage, als [1][Mahsa], [2][Nika und Sarina] getötet wurden; in die
Nachmittage, als ich auf den Straßen von Teheran demonstrierte und kämpfte;
in die Nächte, in denen ich aus Angst vor der Verhaftung bei Freunden
schlief, und in die Morgenstunden, in denen ich Berichte schrieb und Videos
für ausländische Medien schnitt.
Jene Tage, als eine Nachricht nach der anderen über die Verhaftung von
Freunden und Kollegen eintraf, spielen sich immer wieder in meinem Kopf ab.
So viele junge Männer und Frauen sind ums Leben gekommen. Die Mordmaschine
des Klerikalregimes war einmal mehr in Gang gesetzt worden und nicht mehr
aufzuhalten.
Ich schlafe wieder ein, der Albtraum kehrt zurück. Diesmal ist es der
Moment [3][der Hinrichtung von Majidreza Rahnavard]. In meinem Traum bin
ich mit ihm in der Folterkammer. Seine linke Hand ist gebrochen, sie
stampfen weiter gnadenlos mit ihren Füßen darauf. Weil er ein Tattoo mit
dem Löwen und der Sonne auf seiner Haut trägt. Der Löwe und die Sonne sind
eines der wichtigsten Symbole des Iran. Bis zur Revolution von 1979 waren
sie auf der Nationalflagge zu sehen.
Ich schreie und flehe sie an, aufzuhören, aber sie sehen und hören mich
nicht. Die Folterer der Islamischen Republik, taub für meine Schreie,
bringen Säure. Sie gießen sie über Majidrezas Hand, die Säure verbrennt
sein Fleisch. Dann bringen sie ihn weg, um ihn hinzurichten. Wieder
schrecke ich aus dem Schlaf, diesmal ist mein Gesicht nass. Ich wische die
Tränen weg und greife nach meinem Handy, um zu sehen, was im Iran passiert.
Wieder schrecke ich aus dem Schlaf, diesmal ist mein Gesicht nass. Ich
wische die Tränen weg und greife nach meinem Handy, um zu sehen, was in
Iran passiert. Ich öffne Instagram. Ungezählte junge Frauen in den Straßen
von Teheran teilen Bilder aus ihrem Alltag. Sie zeigen sich unverschleiert,
befreit von der Pflicht, den Hidschab zu tragen. Ohne dass ich es gleich
merke, beginne ich zu lächeln.
Ich spüre, wie in mir ein kleiner Keim Wurzeln schlägt. Könnte es sein,
dass unser Kampf, der Kampf iranischer Frauen und Männer für Freiheit in
den vergangenen fünf Jahrzehnten, endlich Früchte getragen hat? Ich weiß es
nicht.
War die [4][Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“] eine Frauenbewegung? Oder
war es eine Freiheitsbewegung jenseits der Geschlechtergrenze? Kann man
eine Trennlinie ziehen zwischen dem Kampf für Freiheit und der Ablehnung
eines obligatorischen Islam?
Resultiert die zumindest teilweise erreichte Freiheit in Bezug auf den
Zwang zum Tragen des Hidschabs aus dem Widerstand der Bevölkerung oder ist
sie das Ergebnis internationalen Drucks und der Drohung amerikanischer und
israelischer Angriffe?
Wenn sie die Errungenschaft der Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“ ist,
warum haben wir im vergangenen Jahr nicht einmal diese begrenzte Freiheit
gesehen? Der Strom von Fragen reißt nicht ab. Ich habe das Gefühl, dass ich
mit Menschen in Iran sprechen muss, um zu hören, wie sie die Dinge sehen.
## Der Wandel in Iran vollzieht sich schnell
Babak ist ein vierzigjähriger Musiker, der in Teheran lebt. Er schickt mir
eine Sprachnachricht auf Whatsapp: „Heutzutage sind mehr Frauen ohne
Hidschab auf den Straßen unterwegs, mehr Frauen fahren Motorrad. Der Grund
dafür ist, dass die Sittenpolizei zurückgezogen wurde; die Agenten der
Islamischen Republik sind nicht mehr auf den Straßen präsent. [5][Ich bin
mir fast sicher, dass das eine direkte Folge des Zwölf-Tage-Kriegs ist].
Seit der Mahsa-Bewegung sind drei Jahre vergangen, natürlich hat sie die
Gesellschaft verändert, genauso wie die Grüne Bewegung oder die Proteste
vom November 2019 ihre Spuren in den folgenden Jahren hinterlassen haben.
Alle diese Bewegungen haben sich Schicht für Schicht abgelagert.“
Er spricht weiter: „Letztendlich hat jedoch keine dieser Bewegungen die
Islamische Republik zu einem vollständigen Rückzug gezwungen. Keine hat zum
dauerhaften Abzug der Sittenpolizei geführt oder den Druck auf Frauen
wirklich verringert. Es waren vielmehr der internationale Druck und die
Angst des Regimes vor einem Zusammenbruch angesichts eines militärischen
Angriffs, die letztlich das Gleichgewicht der Macht verschoben haben. Der
Wandel in Iran vollzieht sich so schnell, dass die Erinnerung an die
Mahsa-Bewegung schon verblasst ist.
Viele junge Männer und Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie sich einer
solchen Bewegung, sollte sie wieder entstehen, nicht anschließen würden.
Die Kosten, argumentieren sie, überwiegen den Nutzen. Die Anführer aus
dieser Zeit werden heute in der öffentlichen Meinung verachtet oder an den
Rand gedrängt. Die einzige Persönlichkeit, die nach wie vor eine zentrale
Rolle in der iranischen Opposition spielt, ist Prinz Reza Pahlavi.“
Nika ist 41 Jahre alt. Sie ist Krankenschwester und lebt in der Hauptstadt.
Während des Zwölf-Tage-Kriegs, als die israelische Luftwaffe das iranische
Atomprogramm und Repräsentanten des Regimes angriff, hatte sie große Angst
und hoffte, dass er möglichst bald enden würde. In einer kurzen
Sprachnachricht, die sie mir über Telegram schickte, sagt Nika: „Die
jetzige Situation ist das Ergebnis vieler Faktoren, der Mahsa-Bewegung, ja,
aber auch der Kämpfe all derer, die davor und danach gekämpft haben, des
israelischen Militärschlags und natürlich des Aufstiegs der Generation Z.
Wir können nicht nur einen Faktor isoliert betrachten.“
## Die Islamische Republik weiß, dass ein weiterer Fehler ihr letzter sein
könnte
Shayan arbeitet in einem Supermarkt. Er ist 37 Jahre alt und lebt in
Teheran. Auch er schickt mir eine Sprachnachricht via Telegram: „Obwohl die
Mahsa-Bewegung für die Situation der Frauen im heutigen Iran nicht
irrelevant ist, war es der israelische Militärschlag, der eine
funktionale und praktische Wirkung hatte. Ich hasse Krieg, aber ich
glaube nicht, dass es einen anderen Weg gibt. Ich kann den wirtschaftlichen
Druck, die Armut, den uns aufgezwungenen Islam, die ständigen Ausfälle in
der Strom- und Wasserversorgung nicht mehr ertragen. Ehrlich, ich gehe
nicht mal mehr auf die Straße. Ich möchte nicht durch die Kugeln der
Streitkräfte der Islamischen Republik erblinden oder gelähmt werden. Wenn
Proteste Ergebnisse bringen würden, hätten sie das inzwischen getan. Was
jungen Menschen heute ein etwas freieres Leben ermöglicht, ist die Angst
des Regimes. Sie gründet einzig und allein in dem militärischen Angriff und
der Gefahr eines Massenaufstands. Die Islamische Republik weiß, dass ein
weiterer Fehler ihr letzter sein könnte.“
Ich scrolle weiter durch Instagram. Meine Timeline wird von einer Welle
seltsamer neuer Werbeanzeigen aus Iran überschwemmt. Unverschleierte junge
Frauen mit starkem Make-up werben für Cafés, Partys und Diskotheken. Videos
zeigen Massen junger Menschen, die tanzen. Selbst in der Jameh-Moschee von
Jasd, eine der heiligen Stätten in Iran, gibt es Musik und Gesang.
Nichts davon erscheint mir natürlich. Bis vor Kurzem ging die iranische
Cyberpolizei gegen solche Beiträge vor und brandmarkte sie als „Verbreitung
von Korruption“. Diejenigen, die sie geteilt haben, wurden verhaftet,
inhaftiert oder mit Geldstrafen belegt.
Ich vermute, dass all das eine Inszenierung ist, die von der Islamischen
Republik orchestriert wurde, um die Menschen zu täuschen. Rechtlich hat
sich nichts geändert. Das Regime hat seine Cyber-Einheiten mobilisiert, um
ein idyllisches Bild zu zeichnen und so sowohl das heimische als auch das
ausländische Publikum zu blenden.
Ich öffne ein Word-Dokument und starre auf den leeren weißen Bildschirm.
Wie soll ich all das einem deutschen Publikum erklären? Die wichtigsten
Informationsquellen über Iran in Deutschland sind oft Menschen, die das
Land vor Jahrzehnten verlassen haben. Das schafft natürlich eine Distanz
zwischen ihnen und der sich schnell verändernden Realität der iranischen
Gesellschaft. Es ist schwierig, sich ein realistisches Bild vom Alltag
einer Gesellschaft zu machen, in der man so lange nicht gelebt hat.
## Das Regime reagiert auf Protest mit Gewalt, Verhaftungen und Morden
Viele Menschen in Iran sind heute desillusioniert. Sie hoffen nicht mehr
auf Proteste und Massenbewegungen. Ihnen steht eine religiöse Diktatur
gegenüber, die durch Öleinnahmen am Leben erhalten wird. Das Regime
reagiert auf Protest mit Gewalt, Verhaftungen und Morden, während die
Menschen unbewaffnet sind. Viele sehen keine andere Möglichkeit mehr als
eine militärische Intervention von außen, die sie von der Theokratie
befreien könnte. Das mag surreal klingen, aber es ist die Realität.
Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft unterschiedliche Stimmen. Einige
einflussreiche iranische Strömungen in den westlichen Medien neigen jedoch
dazu, die Realität eher aus ideologischer Sicht als aus der gelebten
Erfahrung in Iran darzustellen. [6][In einigen Fällen sind die
Darstellungen stark von antiisraelischen oder propalästinensischen
Tendenzen geprägt], was manchmal dazu führt, dass die Gewalt der
Islamischen Republik heruntergespielt wird.
Mein Ziel ist es, den deutschen Lesern die Realität des heutigen Iran ohne
ideologische Vorurteile zu vermitteln. Ich habe keine andere Wahl, als
mutig zu sein, wie die Männer und Frauen, die ihr Leben für die Freiheit
geopfert haben.
Menschen in Iran versuchten mit demokratischen Mitteln ihre Freiheit zu
erlangen, indem sie wählen gingen. Sie organisierten stille Demonstrationen
während der Grünen Bewegung im Jahr 2009. Sie demonstrierten friedlich und
unbewaffnet während der Proteste im Dezember 2017 und November 2019 und
wurden niedergeschossen. Schließlich gipfelte der Kampf in der Bewegung
„Frauen, Leben, Freiheit“, der Freiheitsbewegung iranischer Männer und
Frauen.
Heute sind die Menschen durch bittere Erfahrungen zu der Erkenntnis
gelangt, dass sie die tödlichen Waffen der Geistlichen nicht mit bloßen
Händen bekämpfen können. Sie brauchen Hilfe von außen.
Der Kampf des iranischen Volkes für die Freiheit wird niemals enden. Er
geht weiter, er wächst, er wird Früchte tragen.
Die Sozialwissenschaftlerin Zara Kanaani sagt: „Auch wenn wir heute keine
sichtbaren Proteste wahrnehmen können, ist die Bewegung in eine latente
Phase getreten. Das ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, der
beschreibt, wenn öffentliche Aktionen nachlassen, aber der alltägliche
Widerstand fortbesteht. Wir können nicht ignorieren, dass sich die
Fähigkeiten der Islamischen Republik zur Repression durch den anhaltenden
Widerstand der Menschen und den internationalen Druck abgenutzt haben.“
Laut Kanaani schwächen heute wirtschaftliche, politische und soziale Krisen
das Regime. „Alltägliche Akte des Widerstands bedeuten, dass die Angst, die
einst viele Menschen davon abhielt, sich zu engagieren, zunehmend schwächer
wird, insbesondere da immer mehr Frauen vorangehen. Was einst als
Widerstand galt, wird allmählich zu normalem Verhalten im Alltag. Ich
glaube, dass der internationale Druck den Herrschenden Angst eingeflößt und
zugleich den Menschen die Hoffnung verliehen hat, dass die Islamische
Republik irgendwann zusammenbrechen wird.“
Die Geschichte zeige, dass es fast unmöglich ist, ein einmal gebrochenes
gesellschaftliches Tabu wiederherzustellen, selbst wenn der Staat versucht,
Widerstand gegen seine Wiederherstellung für eine gewisse Zeit zu
unterdrücken, meint die Soziologin. Ebendies ist mit der Hidschab-Pflicht
in Iran geschehen. Jetzt kann jede gesellschaftliche Krise zum Funken
werden, der eine weitere Massenbewegung entfacht. Lassen Sie es mich
einfach ausdrücken: Die Islamische Republik ist tot, und bald wird sogar
ihr Leichnam von der Erde verschwinden.
Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair
Die Namen von in Iran lebenden Personen wurden geändert.
15 Sep 2025
## LINKS
[1] /Fehlende-muslimische-Solidaritaet/!5882348
[2] /Proteste-in-Iran/!5885325
[3] /Zweite-Hinrichtung/!5902437
[4] /Cousin-von-Mahsa-Amini-im-Interview/!5891384
[5] /Israel-Iran-Krieg/!6091720
[6] /Recherche-zu-New-York-Times/!6109387
## AUTOREN
Mahtab Qolizadeh
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