# taz.de -- Flucht aus russisch-besetzten Gebieten: Von Träumen, Heimweh und l… | |
> Die russische Armee besetzt ihre Heimatstädte und Regionen in der | |
> Ukraine. Drei Portraits von Frauen, die im Exil versuchen zu überleben. | |
Bild: Das Land verlassen: mit dem Zug von Odessa im Juni 2022 | |
## Träume für Mariupol | |
Ein heller großer Raum in einem Gebäude im Zentrum der westukrainischen | |
Stadt Lwiw. An den Wänden Fotos, in einem Regal, an einem Holzstab, eine | |
blau-gelbe Flagge mit einem Anker in der Mitte. Darauf steht „Mariupol“. | |
Alewtina Schwezowa lächelt und legt einen Bildband auf den Tisch. Sie | |
schlägt ihn auf und beginnt die Seiten umzublättern. Ihre Finger gleiten | |
fast zärtlich über die Aufnahmen. | |
Auf einer ist das Drama-Theater von Mariupol zu sehen, das russische | |
Truppen im März 2022 dem Erdboden gleichmachten. In dem Theater hatten | |
Hunderte Zivilist*innen Zuflucht gesucht. Wenn Schwezowa in dem Buch | |
blättert, reist sie in die Vergangenheit, zurück zu glücklichen Momenten | |
und einem schmerzlichen Verlust. „[1][Mariupol, diese einzigartige Stadt, | |
das war mein Leben]“, sagt sie. „Ich habe jeden Stein, jedes Haus, jeden | |
Menschen geliebt und jede Welle des Meeres.“ | |
Die 35-Jährige wächst in Mariupol auf. Kurz nach ihrem Studium bringt die | |
Ingenieurin ihren heute elf Jahre alten Sohn Gleb zur Welt. 2016 geht sie | |
zum lokalen TV-Sender Ranok Mariupolja. Dann, sechs Jahre später, kommt der | |
Tag, der alles verändert: Am 24. Februar 2022 beginnt Russlands | |
Vollinvasion in der Ukraine. „Es war die Hölle. Ständiger Beschuss, kein | |
Wasser, nichts zu essen, auf den Straßen lagen überall Leichen“, erinnert | |
sie sich. Nach 21 Tagen gelingt es ihr und ihrer Familie, der Hölle zu | |
entkommen. Erstes Ziel ist Krywyj Rih – eine Industriestadt im Gebiet | |
Dnipropetrowsk und Geburtsort des heutigen Präsidenten Selenskyj. Doch als | |
auch hier der Bombenterror unerträglich wird, fliehen sie erneut. Die | |
vorläufige Endstation heißt Lwiw. | |
2024 bekommt Schwezowa dort einen Job – im Ausstellungszentrum „Mariupol | |
reborn“. Hier finden regelmäßig Kulturveranstaltungen zur Geschichte von | |
Mariupol statt. Schwezowa betont, dass ihre Stadt den Angriffen russischer | |
Truppen 86 Tage lang Widerstand leistete. Aber auch andere Orte in von | |
Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebieten werden dort in | |
Ausstellungen, Vorträgen und Lesungen zum Thema. | |
Schwezowa hat nur noch wenige Kontakte nach Mariupol. Manchmal schicken | |
Leute Fotos von der russisch besetzten Stadt. „Dann krampft sich in mir | |
alles zusammen. Ich kann sie nicht ertragen, diese Ungerechtigkeit“, sagt | |
sie. „Russland hat meine Stadt getötet. Doch dafür wurde bisher niemand zur | |
Verantwortung gezogen.“ | |
Mittlerweile ist Schwezowa geschieden, ihr Ex-Mann ist bei der ukrainischen | |
Armee und kämpft an der Front. Die Eltern und der Bruder sind nach | |
Deutschland geflüchtet und leben heute in Freiburg. „Ich habe großes | |
Heimweh“, sagt Schwezowa. Manchmal nehme sie ihren Sohn in den Arm und dann | |
reisten sie gemeinsam in Gedanken nach Mariupol. „Wir erinnern uns an | |
unsere Lieblingsorte, an die Promenade, an Cafés und an das, was wir dort | |
gegessen haben.“ | |
Ob sie einen Traum habe? Sogar zwei. Alle Kriegsgefangenen, die Mariupol | |
verteidigt haben, sollten zurückkehren. Und die ukrainische Flagge solle | |
wieder über der Stadt wehen. „Dann“, sagt Schwezowa, „würde ich den ers… | |
Zug nehmen, nach Mariupol. Barbara Oertel | |
## In alle Winde zerstreut | |
Wenn der Krieg vorbei ist, will ich zurück in die Ukraine. Aber die Kinder | |
fühlen sich wohl in Deutschland“, sagt Olha Haidamachuk. Seit März lebt die | |
Ukrainerin mit ihrem Mann und drei Kindern in einem Dorf bei Berlin. | |
Der Heimatort der 49-Jährigen im Gebiet Luhansk ist russisch besetzt. Die | |
Stadt Charkiw, in der sie fast dreißig Jahre gelebt hat, steht unter | |
russischem Dauerbeschuss. Haidamachuk ist außerordentliche Professorin an | |
der Fakultät für Ukrainistik, Kulturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte | |
der Nationalen Technischen Universität Charkiw. Heute unterrichtet sie nur | |
noch online. Die Studierenden sind seit 2022 in alle Winde zerstreut. | |
Ursprünglich stammt Haidamachuk aus dem Bezirk Starobilsk. In Charkiw | |
studierte sie Ukrainistik, Kulturphilosophie und Philosophische | |
Anthropologie. Mit Beginn des russischen Großangriffs floh die Familie nach | |
Krementschuk, kurz darauf zu einer Freundin nach Deutschland. Ihr Mann | |
hatte sich zwar zur Armee gemeldet, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen | |
abgelehnt. So blieb die Familie zusammen. | |
Kontakte in die russisch besetzten Gebiete habe sie keine mehr, sagt | |
Haidamachuk. Doch dann erzählt sie von ihrem jüngeren Bruder. Der lebte | |
2022 als jung verheirateter Familienvater in Siwerskodonezk, im Westen des | |
Gebietes Luhansk. Bei Kriegsbeginn war dort alles ruhig. Aber schon bald | |
wurden die Menschen mit Zügen evakuiert. Ihr Bruder hatte sich gerade ein | |
Auto gekauft, das er ebenso wenig zurücklassen wollte wie seine Wohnung. | |
Dann gab es keinen Weg mehr über die Front nach Westen. So kam er nach | |
Russland, zu Verwandten seiner Frau. | |
„Das letzte Mal haben wir vor einem Jahr voneinander gehört“, erzählt sie | |
leise. „Schon sein ukrainischer Nachname kann ihn verdächtig machen. Ich | |
schreibe auf Facebook über ukrainische Themen. Das kann für ihn gefährlich | |
sein.“ | |
Kontakte in von Russland kontrollierte Gebiete seien generell | |
problematisch, sagt Haidamachuk. Denn die Menschen hätten jetzt häufig | |
russische Telefonnummern. Handys und Chatverläufe würden oft überprüft, da | |
könnten Verbindungen in die Ukraine verdächtig sein. Ihre Eltern hätten | |
ihnen im Gebiet Luhansk eine Wohnung vererbt. Wer jetzt darin lebt, ob es | |
sie überhaupt noch gibt – sie zuckt nur mit den Schultern. | |
[2][Trumps Gerede über einen Gebietsaustausch hält Haidamachuk für einen | |
schlechten Scherz]. „Innerhalb international anerkannter Grenzen gehören | |
alle diese Gebiete dem ukrainischen Volk. Wir haben 2014 kampflos die Krim | |
verlassen, hat das etwa zu Frieden mit Russland geführt?“. Ein Einfrieren | |
des Konflikts löse keine Probleme. „Man hätte Putin in Alaska verhaften | |
sollen, aber man hat ihm den roten Teppich ausgerollt.“ Zu Sowjetzeiten | |
hieß es scherzhaft: „Wir wurden geboren, um aus Kafka Realität zu machen.“ | |
Jetzt sei Moskau noch weitergegangen mit dem schwarzen Humor, meint | |
Haidamachuk. „Putin zeigt, dass die Absurdität keine Grenzen mehr kennt.“ | |
Gaby Coldewey | |
## Nur ein Foto hat sie noch | |
In ihrer Heimatstadt Melitopol war Liusiena Zinovkina zuletzt vor | |
dreieinhalb Jahren. Wie sich die Stadt nahe des Asowschen Meers verändert | |
hat, bekommt die Ukrainerin nur aus dem Exil in Berlin mit, wenn sie mit | |
Freunden oder Verwandten von dort chattet. „Sie sagen mir, ich würde die | |
Stadt nicht wiedererkennen, wenn ich je zurückkehren würde“, sagt sie. „E… | |
Bekannter hat mir Fotos geschickt, es sah schrecklich aus. An den Straßen | |
die großen Werbetafeln mit russischer Propaganda, und überall die Farben | |
weiß-blau-rot.“ Niemand soll übersehen, dass die 150.000-Einwohner-Stadt in | |
russischer Hand ist. Bereits am dritten Kriegstag, dem 26. Februar 2022, | |
wurde Melitopol eingenommen. | |
Liusiena Zinovkina hat die Stadt kurz vor Beginn des russischen | |
Angriffskriegs verlassen, weil sie für eine berufliche Weiterbildung nach | |
Kyjiw zog. Es war ihr Glück, sonst würde sie heute unter Besatzung leben. | |
I[3][hr Mann Kostiantyn Zinovkin] aber hielt sich damals in Melitopol auf, | |
ihn musste sie zurücklassen. Heute sitzt er in Rostow am Don im Gefängnis; | |
im Mai 2023 war er vom russischen Geheimdienst FSB gefangen genommen | |
worden, weil er an Protesten gegen die Besatzung teilgenommen hatte. „Unter | |
anderem wird ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung | |
vorgeworfen“, sagt Liusiena Zinovkina, „ihm drohen zwanzig Jahre Haft. Es | |
ist die für Russland typische Willkür. Sie haben wirklich Angst vor | |
Menschen, die die russische Welt nicht akzeptieren.“ | |
Vor zwei Wochen war sie zuletzt in schriftlichem Kontakt mit ihrem Mann, er | |
sei gesundheitlich einigermaßen stabil, sagt sie. Laut der Internationalen | |
Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) sind mindestens 14.000 Zivilisten | |
von russischen Beamten oder Militärs festgenommen und verschleppt worden, | |
die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Ein Urteil für ihren Mann wird für | |
November erwartet. | |
Liusiena Zinovkina wurde 1992 in einer Kleinstadt in der Nähe von Melitopol | |
geboren und wuchs dort auf. Ende der Nullerjahre zog sie nach Melitopol, um | |
Sozialpädagogik an der Universität zu studieren. 2012 lernte sie ihren Mann | |
Kostiantyn in einem Ferienlager am Asowschen Meer kennen, als sie dort | |
beide als Betreuer arbeiteten. Als die Russen im Februar 2022 die gesamte | |
Ukraine beschossen und bombardierten, floh Liusiena Zinovkina nach Berlin. | |
Dort lebt sie noch heute, genauso wie ihre Schwester und ihre Neffe. | |
Zinovkina arbeitet als Sozialpädagogin in einer Jugendeinrichtung und | |
kämpft für die Freilassung ihres Mannes. | |
„Das Leben unter Besatzung ist ein großes Gefängnis, man hat dort keine | |
Freiheit“, sagt die 33-Jährige. Das wisse sie von den Bekannten und | |
Verwandten, auch wenn sie manchmal zwischen den Zeilen lesen muss, weil | |
diese sich nicht frei äußern könnten. Eine Rückkehr habe sie nie in | |
Erwägung gezogen. Zinovkina, eine schmale, sportlich aussehende Frau, | |
spricht fast fließend Deutsch, sie ist zum Gespräch in die taz Kantine | |
gekommen. Manchmal sieht man ihre Augen hinter den Brillengläsern leicht | |
glänzen; es scheint, als müsse sie mit den Tränen kämpfen. | |
So auch, als sie über ihre Mutter spricht. Die ist 2022 zunächst im | |
besetzten Melitopol geblieben. „Sie wollte ihr Haus und ihre Umgebung nicht | |
verlassen, wie es bei der älteren Generation öfter so ist. Ich wollte, dass | |
sie nach Berlin kommt. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen.“ Der | |
Kontakt zu ihr habe darunter gelitten, „ich konnte ihre Entscheidung nicht | |
verstehen.“ | |
Bei ihrer Mutter, die vor einigen Jahren schon eine Brustkrebs-Erkrankung | |
überstanden hatte, wurden im Frühjahr 2025 wieder Metastasen gefunden, so | |
Zinovkina. Sie sei im Krankenhaus Melitopol behandelt worden, dort habe man | |
kurz darauf festgesellt, dass der Krebs überall im Körper gestreut hat. | |
Trotzdem sei sie von den Ärzten nach Hause geschickt worden, es gebe in | |
Melitopol derzeit nur einen Onkologen. | |
Mithilfe mutiger russischer Bürger sei es gelungen, ihre Mutter über die | |
belarussisch-polnische Grenze – wo die Töchter sie abholten – nach Berlin | |
zu holen und sie in die Charité zu bringen. Aber es war zu spät, ihre | |
Mutter hatte wertvolle Zeit verloren, Anfang Juli verstarb sie. „Diese | |
Geschichte sagt auch viel über Besatzung“, sagt Zinovkina sichtlich bewegt. | |
Ihre Mutter soll nun in Berlin begraben werden – eine Stadt, mit der sie | |
nie etwas zu tun hatte. | |
Ihr Elternhaus in Melitopol, in dem die Mutter zuletzt allein lebte, steht | |
nun leer. Liusiena Zinovkina glaubt nicht an eine Rückkehr. „Wahrscheinlich | |
werde ich Melitopol nie wiedersehen. Ich bin so wütend. Wie kann es sein, | |
dass meine Heimatstadt jetzt einfach in einem anderen Land ist?“, sagt sie. | |
„Die Welt entscheidet darüber, dass das nun Russland ist. Und alle müssen | |
sich damit zufrieden geben.“ Die Entscheidung, ob der Krieg weitergeführt | |
werde oder nicht, solle doch eigentlich vor allem bei der ukrainischen | |
Armee liegen, meint sie. | |
Ihre Mutter hat Zinovkina ein Foto aus ihrer Kindheit mit nach Berlin | |
mitgebracht. „Das ist das einzige, was ich noch von meinem alten Leben | |
habe“, sagt sie und holt das Foto aus einer Mappe. Darauf zu sehen ist ein | |
Mädchen im Schulalter, in bunter Kleidung, lächelnd. Jens Uthoff | |
24 Aug 2025 | |
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