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# taz.de -- Politologe Matsiyevsky über Widerstand: „Die Menschen wissen, wo…
> Der Widerstand der Menschen in den russisch besetzten Gebieten würde nach
> dem Krieg weitergehen. Der ukrainische Politologe Yuriy Matsiyevsky
> erklärt, warum.
Bild: Ukrainische Soldaten sichern nachts Positionen östlich des Flusses Dnipr…
taz: Herr Matsiyevsky, die Vorgänge in den russisch besetzten Gebieten der
Ukraine sind weitgehend Terra incognita. Warum ist das so?
Yuriy Matsiyevsky: Es ist äußerst schwierig, mit den Menschen dort in
Kontakt zu treten. Dennoch finden Forscher Wege, um Informationen zu
sammeln.
taz: Ihnen ist es gelungen, ein sehr sensibles Thema zu erforschen: den
ukrainischen Widerstand in den besetzten Gebieten. Was konnten Sie
herausfinden?
Matsiyevsky: Wir hatten keinen Zugang zu Menschen in den derzeit besetzten
Orten, daher waren soziale Netzwerke, vor allem Telegram, unsere
Hauptquelle. Hilfreich waren auch Medieninterviews, analytische Artikel und
Arbeiten von Kollegen, die mit Augenzeugen zusammengearbeitet haben. Anhand
dieser Daten konnten wir mindestens 13 Gruppen identifizieren, die zivilen,
bewaffneten oder digitalen Widerstand leisten. Die größte Aktivität gibt es
in den Gebieten Cherson, Saporischschja und auf der Krim, aber auch [1][in
den besetzten Teilen der Gebiete Luhansk] und Donezk.
taz: Welche Beispiele sind am aussagekräftigsten?
Matsiyevsky: Die erste zivile Widerstandsgruppe war die im April 2022 in
Cherson entstandene „Gelbe Schleife“. Nach der Niederschlagung der
antirussischen Proteste in der Stadt Cherson beschloss eine Gruppe junger
Menschen, vor allem aus dem IT-Bereich, im Untergrund weiterzuagieren. Ihre
Zeichen des Widerstands – Flugblätter, ukrainische Symbole, Graffiti an den
Wänden – tauchten nicht nur im besetzten Cherson, sondern auch in
Nachbarstädten und auf der Krim auf.
Trotz der Gefahr ist die Gruppe in allen besetzten Regionen der Ukraine
aktiv. Diese Aktionen sind riskant, aber inspirieren die lokale Bevölkerung
und zeigen, dass die Ukraine diese Gebiete nicht aufgegeben hat.
Eine weitere bekannte Gruppe ist „Zli Mavky“(Wütende weibliche
Waldgeister),Frauen aus dem Gebiet Cherson, die ihre mutigen Aktivitäten
später auf das Gebiet Saporischschja und die Krim ausweiteten. Sie
versorgten die Besatzer mit Lebensmitteln oder Alkohol, denen sie etwas
beigemischt hatten. Dadurch wurden die Besatzer kampfunfähig. Der russische
FSB warnte die Soldaten sogar, „Geschenke von einheimischen Frauen“
anzunehmen. Darüber leiteten die „Zli Mavky“ Informationen über die
Stationierung russischer Truppen über gesicherte Kanäle an ukrainischen
Geheimdienste weiter.
Eine wichtige Rolle spielt die „IT-Armee der Ukraine“, eine dezentrale
Gemeinschaft von Freiwilligen, die russische Regierungsressourcen
angreifen. Unter den verschiedenen Partisanengruppen ist die
ukrainisch-krimtatarische „Atesh“ die bekannteste: Bis zu 4.000 Agenten in
der russischen Armee zerstören Technik, Personal und Logistik nicht nur in
den besetzten Gebieten, sondern auch tief in Russland und erschweren so die
Versorgung der Front mit Munition und Technik.
taz: Inwiefern unterscheidet sich der aktuelle Widerstand von der Situation
im Süden und Osten der Ukraine 2014?
Matsiyevsky: Auch vor 2022 gab es in den besetzten Gebieten im Donbass
Partisanen. Ihre Aktivitäten waren jedoch kaum sichtbar. Die meisten
Zeugenaussagen stammen von Wolodymyr Zhemtschuhow, einem der Organisatoren
des Untergrunds im Gebiet Luhansk. Beim Versuch, sich selbst in die Luft zu
sprengen, um sich nicht ergeben zu müssen, verlor er Hände und Augen. Dann
war er lange in russischer Gefangenschaft, bis er bei einem
Gefangenenaustausch freikam. In zahlreichen Interviews betont Zhemtschuhow,
dass dieser Widerstand anfangs eher spontan, schlecht vorbereitet und daher
wenig effektiv war.
Die Gesetzesänderungen, die die Vorbereitung des Widerstands ermöglichten,
erklären den Unterschied in der Zeit vor und nach 2022. Der Widerstand
wurde danach wesentlich organisierter und effektiver. Der Staat hat hier –
leider sehr spät – die richtigen Schritte unternommen.
taz: Was motiviert die Menschen in den besetzten Gebieten zum Widerstand?
Matsiyevsky: Als die Russen 2022 in Cherson, Mariupol, Melitopol und andere
ukrainische Städte einmarschierten, wurden sie nicht mit Brot und Salz,
sondern mit Widerstand und unverhohlener Empörung empfangen. Eine starke
ukrainische Identität, Hass auf die Russen und eigene Verluste motivieren
die Menschen in den besetzten Gebieten zum Widerstand. Das lässt sich durch
Interviews und Untersuchungen, die direkt mit Mitgliedern des
Untergrundwiderstands geführt wurden, deutlich nachvollziehen.
taz: Welche Tendenzen beobachten Sie aktuell?
Matsiyevsky: In den Jahren 2023/2024 war ein deutlicher Anstieg der
Widerstandsaktionen zu verzeichnen. Derzeit haben einige Gruppen ihre
Aktivitäten reduziert, aber es sind neue Gruppen entstanden. Die Intensität
des Widerstands bleibt somit stabil. Der digitale Widerstand hat sich sogar
verstärkt: Die „IT-Armee der Ukraine“ und andere Cyber-Gruppen sind den
russischen staatlichen Strukturen mittlerweile ebenbürtig. Russische Hacker
arbeiten aber in einer strengen Hierarchie der Geheimdienste, während der
ukrainische digitale Widerstand dezentralisiert ist und lediglich vom
Ministerium für digitale Transformation koordiniert wird. Diese Aktionen
sind schwerer zu verfolgen, die Operationen sind besser vorbereitet und
koordiniert.
Gleichzeitig hat der zivile Widerstand seine Form geändert und agiert jetzt
aus dem Untergrund. Die Russen haben die Kontrolle und Repressionen
verschärft; viele Untergrundkämpfer sind in ihre Hände gefallen. Derzeit
liegt der Schwerpunkt auf sichereren Formen: Flugblätter, Koordination in
geschlossenen Chats und vor allem Sammeln von Geheiminformationen.
taz: Was wird mit dieser Widerstandsbewegung im Falle eines „Einfrierens“
des Krieges geschehen?
Matsiyevsky: Russland kontrolliert diese Gebiete nur dank der Präsenz
seiner Armee, kann jedoch keinen Einfluss auf die Stimmung der lokalen
Bevölkerung nehmen. Allein die Existenz des Widerstands untergräbt den
russischen Mythos der „vollständigen Kontrolle“.
Denjenigen, die sich bewusst für den Widerstand entschieden haben, ist sehr
klar, dass es um Leben und Tod geht. Aber sie wissen, wofür sie kämpfen.
Dies bestätigt der ganzen Welt einmal mehr: Die Ukrainer haben sich nicht
mit der russischen Besatzung abgefunden und werden es nicht tun. Der
Widerstand wird weitergehen, auch, wenn die Kämpfe an der Front enden.
taz: Ein Teil Ihrer Forschungsergebnisse wurde in Deutschland in
Zusammenarbeit mit der deutschen Wissenschaftlerin Susann Worschech während
Ihres Gastaufenthalts [2][als KIU Research Fellow] an der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) veröffentlicht. Wie wichtig
ist die Zusammenarbeit zwischen deutschen und ukrainischen Unis?
Matsiyevsky: Während meines kurzen Fellowships habe ich festgestellt, dass
das Interesse an der Ukraine enorm ist. Gleichzeitig spürt man in
Deutschland noch immer einen starken russischen Einfluss, denn Russland
wurde hier lange als Befreier und Handelspartner wahrgenommen. Die Ukraine
muss deshalb nicht nur „das Gleichgewicht wiederherstellen“, sondern auch
kontinuierlich deutschen Forschern und der Gesellschaft zeigen, dass die
Unterstützung im Kampf gegen die russische Aggression nicht nur eine
humanitäre Mission ist, sondern auch der Sicherheit Deutschlands und ganz
Europas dient. Hier kann die akademische Zusammenarbeit einen wirksamen
Beitrag leisten.
11 Sep 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Anastasia Rodi
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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