# taz.de -- Familien im Krieg in der Ukraine: „Jetzt kann man niemandem mehr … | |
> Vertreibung, Enteignung, Indoktrination von Kindern und Jugendlichen: Wie | |
> lebt es sich in den von Russland besetzten Gebieten? | |
Bild: Dobropillia in der Region Donezk im Juli 2025: Abschied in Kriegszeiten | |
Switlana drückt mehrmals hintereinander auf das Telefonsymbol im Messenger. | |
Sie will ihre Tochter erreichen. Doch es ertönt nur ein Freizeichen, | |
niemand geht ran. Minuten später dann endlich das Signal einer eingehenden | |
Nachricht. Es ist Olha, ihre Tochter. Switlana lebt auf der Krim, Olha in | |
Kyjiw. Seit vier Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, seit jenem | |
letzten gemeinsamen Sommer vor der russischen Vollinvasion 2022. Aus | |
Sicherheitsgründen werden ihre echten Namen in diesem Text nicht genannt. | |
Whatsapp oder Telegram sind nahezu die einzigen Möglichkeiten, zu | |
telefonieren. Doch die russische Telekommunikationsaufsicht Roskomnadzor | |
versucht immer wieder, den Zugang der Einwohner der Russischen Föderation | |
und der besetzten Gebiete der Ukraine, einschließlich der Krim, zu | |
Sprachanrufen in den Messengern einzuschränken. | |
Auch jetzt, im Sommer 2025, [1][hat Russland nicht vor, den Krieg gegen die | |
Ukraine zu beenden.] Stattdessen drängen die USA die Ukraine dazu, ihre | |
besetzten Gebiete faktisch aufzugeben – die Menschen, die dort leben, | |
werden zur Verhandlungsmasse. „Die ukrainischen Gebiete sind keine | |
Immobilien. Dort gibt es Millionen von Menschen, die in Unfreiheit leben. | |
Alle, die sich gegen die Besetzung aussprechen, werden von Russland | |
getötet, gefoltert, moralisch zerstört oder deportiert. Besatzung ist kein | |
Frieden“, sagt Olha. | |
Als ihre Mutter Switlana Mitte der 1970er Jahre auf die Krim kam, war sie | |
Anfang zwanzig und hatte gerade ihr Studium in Kamtschatka abgeschlossen. | |
Sie heiratete, freute sich über die Geburt ihrer Tochter. Es war eine | |
glückliche, zufriedene Zeit. Bis zum Jahr 2014 – der Annexion der | |
ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland, die auch ihr Leben schlagartig | |
veränderte. | |
## Ohne Pass ist man quasi handlungsunfähig | |
Die 69-jährige Switlana erzählt heute, dass sie bereits nach 2014 viele | |
Menschen aus ihrem Leben verbannt hat, die das illegale Vorgehen Russlands | |
unterstützten. Nach dem Angriff 2022 wurde ihr Bekanntenkreis noch kleiner. | |
„Jetzt kann man niemandem mehr seine Meinung sagen. Wenn man die Handlungen | |
Russlands und seiner Armee offen kritisiert, wird man entweder verhaftet | |
oder verschwindet spurlos“, sagt sie. | |
Derzeit befindet sich rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets unter | |
russischer Kontrolle. Wie viele Menschen in diesen Gebieten leben, ist | |
unklar. Russlands Präsident Wladimir Putin gab kürzlich bekannt, dass sich | |
im April 2024 in den sogenannten „LNR“ und „DNR“ (den seit 2014 besetzt… | |
Teilen der Oblast Donezk und der Oblast Luhansk) sowie in den 2022 | |
besetzten Teilen der Oblast Cherson und der Oblast Saporischschja rund 3,2 | |
Millionen Menschen einen russischen Pass ausgestellt bekommen haben. Laut | |
ukrainischen Vertretern bei den Vereinten Nationen haben zwischen 2014 und | |
2022 etwa 2,5 Millionen ukrainische Staatsbürger [2][auf der Krim] diesen | |
Schritt vollzogen. | |
Die Zwangsausstellung russischer Pässe ist eines der ersten Instrumente zur | |
„Russifizierung“ der ukrainischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. | |
Personen ohne Pass sind praktisch in allem eingeschränkt. Sie haben keinen | |
Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Sozialleistungen, Bildung, Arbeit | |
und dem Recht auf Reisefreiheit. Selbst diejenigen, die alles versuchen, um | |
die Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft hinauszuzögern, sind früher | |
oder später dazu gezwungen. | |
So führt die Besatzungsbehörde nach der Eroberung eines Gebiets sofort | |
russisches Recht ein und verlangt die Umschreibung aller Dokumente, | |
einschließlich der Vermögenswerte. Wegen dieser Vorschriften haben viele | |
Ukrainer, die entweder aus den besetzten Gebieten geflohen sind oder deren | |
Häuser durch russische Bomben zerstört wurden, nicht nur ihr Eigentum | |
verloren, sondern auch das Recht auf ihr Eigentum, wenn sie nicht in die | |
besetzten Gebiete zurückgekehrt sind und rechtzeitig einen russischen Pass | |
erhalten haben. Anschließend verstaatlichen die Russen das Eigentum der | |
Ukrainer. Sie verkaufen es, oder siedeln dort Staatsbeamte an. Das sind | |
vor allem Militärangehörige und Lehrer, deren Aufgabe es ist, diese | |
Regionen in Russland zu „integrieren“. | |
In Russland wurde gar ein staatliches Programm zur Umsiedlung von Personal | |
– also von Beamten, Ärzten, Lehrern, Kulturschaffenden – ins Leben gerufen. | |
So verändert Russland aktiv die demografische Zusammensetzung der besetzten | |
Gebiete. | |
Gleichzeitig gehen die Besatzungsbehörden massiv gegen die lokale | |
Bevölkerung vor. Die Staatsduma verabschiedete 2023 ein Gesetz, das | |
erlaubt, Menschen aus allen Gebieten, in denen der Kriegszustand ausgerufen | |
wurde – also aus den besetzten Gebieten der Ukraine –, zu vertreiben. Laut | |
der russischen Statistikbehörde Rosstat haben 2023 mindestens 87.000 | |
Menschen diese Gebiete offiziell verlassen oder wurden deportiert. Die | |
Kinderrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Maria Lwowa-Belowa, | |
behauptet hingegen, dass etwa 4,8 Millionen Ukrainer, darunter 700.000 | |
Kinder, nach Russland umgesiedelt seien. Im selben Jahr erließ der | |
Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Putin und | |
Lwowa-Belowa wegen des Vorwurfs eines Kriegsverbrechens – der Deportation | |
von Kindern. | |
## Ukrainisch wird nicht mehr unterrichtet | |
Den Kindern in den besetzten Gebieten der Ukraine wird von Russland ohnehin | |
viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Besatzungsbehörden bemühen sich, in | |
diesen Gebieten so schnell wie möglich alles zu beseitigen, was an die | |
Zugehörigkeit zur Ukraine erinnern könnte. Der Lehrplan entspricht dem | |
russischen Lehrplan. Ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte werden | |
nicht mehr unterrichtet, und in den Geschichtsbüchern werden die besetzten | |
Gebiete als zu Russland gehörig ausgewiesen. Ukrainische Kinder und | |
Jugendliche werden darin geschult, Waffen zu zerlegen, sie lernen | |
Militäruniformen zu tragen, üben Nahkampf und andere militärische | |
Aktivitäten. Ab dem Alter von acht Jahren werden sie dazu ermutigt, sich | |
der Organisation „Junarmija“ (Junge Armee) anzuschließen. All dies unter | |
dem Deckmantel des russischen Patriotismus. Für Kinder ist es sehr | |
schwierig, unter diesem Druck ihre ukrainische Identität zu bewahren. | |
Die Geschichte des 18-jährigen Iwan Sarancha aus Luhansk ist daher sehr | |
ungewöhnlich. Als Russland vor elf Jahren seine Heimatstadt besetzte, war | |
er gerade eingeschult worden. Er sagt, er sei damals noch zu klein gewesen, | |
um zu begreifen, was die Besatzung bedeutete. Seitdem habe er keine | |
Erinnerungen mehr an die Ukraine. Nur ein Bild sei ihm all die Jahre im | |
Kopf geblieben: die gelb-blaue Flagge aus der ersten Schulstunde. | |
Erst im Frühjahr 2025 sah er diese Flagge wieder, als es ihm gelang, aus | |
der Besatzung zu fliehen. Freunde aus der ukrainischen Stadt Dnipro, mit | |
denen er Kontakt hatte, halfen ihm dabei, russische Propaganda von der | |
Wahrheit zu unterscheiden. Sie brachten ihm auch die ukrainische Sprache | |
bei, die er während der Besatzung nie in der Schule gelernt hatte. Mit | |
Hilfe von Freiwilligen gelang es Iwan Sarancha, nach Kyjiw zu kommen. Als | |
seine Eltern erfuhren, wo er sich aufhielt, brachen sie den Kontakt zu ihm | |
ab. | |
Dank einer Hilfsorganisation ist er nun ukrainischer Staatsbürger und setzt | |
sich selbst für eine Initiative ein, die Menschen wie ihn unterstützt: | |
Jugendliche, die die russische Besatzung verlassen und in der von der | |
Ukraine kontrollierten Region leben möchten. Er verfolgt die politische | |
Lage weiterhin sehr aufmerksam, äußert sich allerdings nicht zu einem | |
möglichen „Austausch“ der besetzten Gebiete. Nur dies weiß Iwan Sarancha | |
genau: „Ich möchte weder moralisch noch physisch dorthin zurückkehren. Ich | |
glaube auch, dass die Russen mich einfach nicht am Leben lassen würden.“ | |
Olha und Switlana, Tochter und Mutter, getrennt durch die Kriegsfronten, | |
wollen sich ihren Schmerz und ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen. Aber | |
es gibt eine Frage, die sie stets begleitet und die sie nicht verdrängen | |
können. „Vielleicht sehen wir uns nie wieder?“ | |
🐾 Auch in der aktuellen des Folge des [3][taz-Podcasts Bundestalk] geht es | |
um die Gipfeldiplomatie in der Ukraine. | |
24 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Gipfel-in-Washington/!6105068 | |
[2] /Annektierte-Halbinsel-Krim/!6085772 | |
[3] /Verhandlungen-zum-Ukrainekrieg/!6108553 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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