| # taz.de -- Flucht vor russischer Besatzung: Sie entschied sich für Freiheit | |
| > Russische Truppen haben am 24. Februar 2022 ihr Dorf in der Region | |
| > Melitopol besetzt. Wie die Journalistin Antonina Bukreewa es | |
| > herausgeschafft hat. | |
| Bild: Bus mit evakuierten Ukrainer*innen in Saporischschja im März 2022 | |
| Saporischschja taz | Die Journalistin Antonina Bukreewa stammt aus | |
| Jakymiwka, einer kleinen Siedlung in der Region [1][Melitopol]. Und sie hat | |
| eine Angewohnheit: Morgens will sie immer ungestört ihren Kaffee trinken. | |
| Es ist die Zeit, in der sie ihren Tag plant. Niemand darf sie in dieser | |
| Zeit stören. Doch am [2][24. Februar 2022] hielt sich ihr Sohn, der bei der | |
| Feuerwehr arbeitet, nicht mehr an diese Vereinbarung. | |
| „Mein Sohn rief mich an diesem Morgen ungewöhnlich früh an – um halb | |
| sieben. So etwas war noch nie passiert. Er fragte: „Mama, sitzt du oder | |
| stehst du?´ – Ich sagte, ich stünde. „Setz dich.“ sagte er. „Mama, es… | |
| Krieg.“ | |
| Es war der Tag, als die russische Armee die Ukraine überfallen hatte. „Am | |
| 23. Februar bin ich in einem freien Land eingeschlafen, am 24. Februar in | |
| einem besetzten Land aufgewacht“, erzählt sie. | |
| Schon bald war Jakymiwka vollständig von [3][russischen Truppen besetzt.] | |
| Panzer und andere Militärfahrzeuge kamen aus Richtung Henitschesk in die | |
| Ortschaft. Sechs Monate lebten Antonina Bukreewa und ihr Sohn unter | |
| russischer Besatzung. Sechs Monate Angst, Unsicherheit und ständige | |
| Bedrohung. | |
| „Das Schlimmste war: Man wusste nicht mehr, wer dein Nachbar wirklich ist. | |
| Kooperiert er mit den Besatzern oder denkt er so wie du. Wem kann man | |
| trauen?“ Nun musste man genau aufpassen, was man sagte. „Ein falscher Satz, | |
| ein Kommentar über fehlendes Brot oder etwas anderes, konnte zur | |
| Denunziation führen. Und dann kann ein Mensch schnell verschwinden, | |
| spurlos“, berichtet sie. | |
| Bukreewa wohnte in der Nähe der Polizeistation, die sofort nach dem | |
| Einmarsch von den Russen übernommen worden war. Dort wurden Menschen | |
| verhört und misshandelt, berichtet sie. „Ich habe die Schreie von dort | |
| gehört.“ Schlimm sei es vor allem für die Kinder gewesen, die auch diese | |
| Schreie gehört hatten und ganz verschreckt waren. | |
| ## 24 Stunden im Dienst | |
| „Mein Sohn war zu diesem Zeitpunkt ununterbrochen im Einsatz. Die | |
| Feuerwehrleute wurden in verstärkter Schicht eingesetzt. Nun hatten sie 24 | |
| Stunden Dienst, das heißt, er war einen Tag bei sich zu Hause, dann wieder | |
| 24 Stunden im Dienst. Über zwei Monate lang hielten sie diesen Rhythmus | |
| durch, ohne Pause. | |
| Die Besatzer versuchten in den besetzten Gebieten, die Feuerwehrleute zur | |
| Zusammenarbeit zu zwingen. Doch die widersetzten sich, wofür einige von | |
| ihnen hart bestraft wurden. Sie wurden in Handschellen abgeführt. Einige | |
| sind seitdem verschwunden. Doch die Feuerwehreinheit meines Sohnes hatte | |
| Glück. Seine Einheit hatte von den Besatzern keinen Besuch erhalten. Warum? | |
| Wahrscheinlich wollten sie die Lage nicht noch weiter anheizen. Klar war | |
| aber auch, dass sie früher oder später kommen würden. | |
| Am 31. August 2022 kam dann der offizielle Befehl aus Kiew: Alle | |
| Feuerwehrleute aus Jakymywka sollten sich bis 10. September in | |
| Saporischschja melden. Am Nachmittag versammelte der Chef der Feuerwehr von | |
| Jakymywka seine Feuerwehrleute. Jeder könne sich nun entscheiden, was er | |
| wolle: vom Dienst ausscheiden, wegziehen oder weiter im besetzten Gebiet | |
| arbeiten. | |
| „Für mich und meinen Sohn war seit dem ersten Tag des russischen Überfalls | |
| und der Besatzung unseres Dorfes klar“, sagt Antonina, „wir entscheiden uns | |
| für die Freiheit. Wir hatten in der ganzen Zeit buchstäblich auf unseren | |
| Koffern gelebt. Wir waren bereit, jederzeit auf das besatzerfreie Gebiet zu | |
| gehen. Wir hatten nur auf diesen Befehl gewartet.“ | |
| Am 3. September 2022 sind sie in Saporischschja eingetroffen. Dort hatte | |
| ihnen eine Bekannte eine leerstehende Wohnung, ohne Möbel, mit kahlen | |
| Wänden, angeboten. Die beiden kauften Matratzen und schliefen anderthalb | |
| Monate auf dem Boden. Dann erhielten sie vom Roten Kreuz Feldbetten, die | |
| sie noch heute nutzen. Geschirr, Bettwäsche und anderes erhielten sie von | |
| befreundeten Journalisten. | |
| ## 100 Euro Rente | |
| Der Staat gab ihnen jeweils 50 Euro Unterstützung. Sie erhält diese | |
| Unterstützung weiterhin, ihr Sohn nicht mehr, da er ja bei der Feuerwehr | |
| angestellt ist. Hinzu kommen 100 Euro Rente und 20 Euro medizinische | |
| Beihilfe. „Stressbedingt leide ich unter Sehschwäche“, berichtet sie. Auf | |
| einem Auge sei sie fast blind. „Bei den derzeitigen Preisen würde mir das | |
| zum Leben nicht ausreichen. Deswegen bin ich froh, dass mein Sohn mich | |
| finanziell unterstützt.“ | |
| Die Zeit der Besatzung, berichtet sie, war geprägt von Angst und Gewalt. | |
| Menschen wurden entführt, geschlagen, gefoltert. Eine Bekannte, eine | |
| ehemalige Bürgermeisterin eines Dorfes, wurde aufgrund haltloser | |
| Anschuldigungen festgenommen, weil sie sich weigerte, mit den Besatzern zu | |
| kooperieren. Einige Tage wurde sie festgehalten und verhört. „Ich habe sie | |
| kurz danach gesehen. Ihre Handgelenke waren von den Handschellen | |
| gezeichnet.“ Ich habe sie nicht gefragt, was da alles war. Hauptsache, sie | |
| war wieder frei. | |
| Ein anderer Freund, ein pensionierter Polizist und Unternehmer aus | |
| Melitopol, wurde verschleppt, misshandelt, ihm wurden die Zähne | |
| ausgeschlagen. Ihn hatte man, so berichtet sie, mehrere Tage in einem | |
| Keller festgehalten. Nur durch öffentlichen Druck wurde er freigelassen. | |
| Heute lebt er mit seiner Familie in der Nähe von Kiew. | |
| „Viele meiner Freunde und Bekannten wurden zu Kollaborateuren. Einige haben | |
| die russischen Besatzer sogar freudig empfangen. Andere, wie meine Kollegin | |
| Irina Lewtschenko und ihr Mann, wurden auf der Straße festgenommen. Er | |
| wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen, von ihr hatten wir vor Kurzem | |
| gehört, dass sie möglicherweise in einer Haftanstalt auf der Krim ist.“ | |
| Die Okkupation habe tiefe seelische Wunden hinterlassen – nicht nur bei den | |
| Erwachsenen. Kinder wachsen mit Angst, Gewalt und Unsicherheit auf. Viele | |
| benötigen heute psychologische Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten. | |
| „Während der Besatzung habe ich am 24. August 2022, dem Unabhängigkeitstag, | |
| das Gedicht „Gelb-blauer Kaffee“ geschrieben, das mit folgenden Zeilen | |
| endet: Unsere Soldaten kämpfen in einem gerechten Krieg für den Traum, dass | |
| an einem friedlichen Morgen in jedem Haus Kaffee gekocht wird – stark, | |
| unabhängig und gelb-blau wie unser Staat!“ | |
| „Auf freiem Gebiet habe ich weitere Gedichte geschrieben, weil die erlebten | |
| Emotionen einen Ausweg suchten. Eines davon ist „Die Schlüssel zum Haus“. | |
| Es endet mit den Zeilen: Wir werden zurückkehren, ich weiß es, wir werden | |
| den ganzen Schmutz und Müll beseitigen, denn die Schlüssel zum heimischen | |
| Haus sind die Schlüssel zu einem neuen Leben!“ | |
| „Am 12. August 2022, kurz vor unserer Flucht, habe ich diesen Vers | |
| geschrieben: Ich weiß nicht, wann wir zurückkehren, doch ich weiß, wir | |
| werden zurückkehren.“ | |
| 10 Oct 2025 | |
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| Bernhard Clasen | |
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