| # taz.de -- Leben im russisch-besetzten Gebiet: Von Knete zu Beton | |
| > Wenn autoritäre Regime Fuß fassen wollen, kommt es auf den Widerstand in | |
| > der Bevölkerung an. Und auf starke demokratische Partner. | |
| Bild: Im Norden von Slowjansk im Mai 2014: Der Versuch, die nahe Kriegsfront au… | |
| Es waren drei blutige Monate, bis die russischen Besatzer am 5. Juli 2014 | |
| Slowjansk verließen. Die Bilder aus dieser Zeit haben sich vielen Menschen | |
| bis heute ins Gedächtnis gebrannt: improvisierte Straßensperren, | |
| zwielichtige Gestalten an den Checkpoints, die ihre neue Macht willkürlich | |
| ausspielen, besetzte Verwaltungsgebäude, Verhaftungen und Verhöre in den | |
| Kellern des besetzten SBU-Gebäudes im Stadtzentrum. Slowjansk im Osten der | |
| Ukraine war die erste Stadt, die 2014 von russischen Spezialeinheiten und | |
| ihren Unterstützern besetzt wurde. Es war ein Testlauf. | |
| [1][Während heute im Westen, in den USA, in Deutschland und anderswo,] | |
| viele den russischen Angriffskrieg gern schnell abhaken würden, ist für die | |
| Betroffenen vor Ort klar: Der Preis für ein solches Ende wäre weit mehr als | |
| eine bloße Verschiebung von Grenzen. Die Menschen in Slowjansk, einer | |
| Stadt, die von US-Präsident Donald Trump ebenso wie vom russischen | |
| Präsidenten Wladimir Putin derzeit als gesichtslose Verhandlungsmasse | |
| diskutiert wird, erinnern sich noch sehr genau daran, wie russische | |
| Kontrolle aussieht – unter Söldnern und Geheimdienstlern. Wie es sich lebte | |
| unter der Schreckensherrschaft des brutalen Kommandeurs Igor Girkin, der | |
| mit seinen Todesschwadronen die Stadt kontrollierte. Es geht um weit mehr | |
| als eine bloße Verschiebung von Staatsgrenzen. | |
| Die Zivilgesellschaft von Slowjansk blieb damals im Untergrund aktiv. Und | |
| wie sich herausstellte, war das gerade in Zeiten des temporären | |
| Staatskollapses entscheidend. Proukrainische Gruppen formierten sich, | |
| Polizisten verweigerten den Dienst, Unternehmer:innen unterstützten | |
| den Untergrund, erinnert sich der Aktivist Denys Bihunow. Einige lokale | |
| Verwaltungsmitarbeiter:innen, Geschäftsleute und Aktivist:innen | |
| erkannten schnell die Brutalität und den Terrorcharakter des neuen | |
| Regimes. Solche horizontalen Netzwerke, allein auf Vertrauen und | |
| gegenseitiger Unterstützung beruhend, bildeten die Grundlage für das, was | |
| nach der Befreiung folgen konnte: die demokratische Entwicklung der Stadt. | |
| Bihunow blickt gern auf die Jahre 2014 bis 2022 zurück. Er beschreibt diese | |
| Zeit als eine Art „Knete“ – weich, unförmig, offen. | |
| Alles schien möglich, nichts war festgeschrieben. Die alten | |
| mafiös-autoritären Normen der Janukowytsch-Ära verloren ihre Gültigkeit, | |
| und aus dem Untergrund heraus entstanden neue Strukturen. Der Krieg blieb | |
| zwar seit 2014 nur wenige Kilometer entfernt. Doch trotz der anhaltenden | |
| Bedrohung lag die Möglichkeit in der Luft, etwas Neues zu schaffen. | |
| Demokratie war plötzlich kein abstrakter Begriff mehr – sondern ein | |
| Versprechen, das in Slowjansk womöglich tatsächlich Gestalt annehmen | |
| konnte, mit europäischer Unterstützung und Partnerschaften. | |
| ## Das Gefühl nicht allein zu sein | |
| Ich selbst blieb mehr als zwei Jahre dort. Mit der Organisation Austausch | |
| e. V. eröffneten wir 2019 in einer alten, zentral gelegenen Druckerei das | |
| zivilgesellschaftliche Zentrum Drukarnia. Im Namen spiegelte sich ein Stück | |
| gemeinsamer europäischer Kulturgeschichte: Das ukrainische wie auch das | |
| polnische Wort drukarnia bedeutet Druckerei und geht – ebenso wie das | |
| deutsche – auf das Verb drucken zurück. In diesen Räumen unterstützten wir | |
| lokale Projekte, organisierten Trainings zu Umweltbildung, europäischer | |
| Geschichte oder politischer Teilhabe. Wir halfen Netzwerke aufzubauen, die | |
| lokale Initiativen, um die Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam zu | |
| machen, mit internationalen Akteuren verbanden. | |
| Wir sahen, dass es möglich ist. Forschung wie die von Thomas Risse, | |
| Stephen Ropp und Kathryn Sikkink ([2][„The Persistent Power of Human | |
| Rights“]) zeigt das auch empirisch: Zivilgesellschaft kann selbst in | |
| autoritären Kontexten Veränderungen anstoßen. Genau das haben wir in | |
| Slowjansk erlebt: internationale Aufmerksamkeit, Fördermittel und | |
| Partnerschaften gaben den Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein. | |
| Ein Beispiel für politische Entwicklung liefert Wadym Ljach, Chef der | |
| Militärverwaltung von Slowjansk. 2014 saß er noch für die prorussische | |
| Partei der Regionen im Stadtrat, als Girkin die Stadt einnahm. Ein Jahr | |
| später wurde Ljach Bürgermeister. Das war damals ein Schock für viele | |
| Aktivist:innen. Doch seitdem hat sich das Bild gewandelt: Die | |
| Zusammenarbeit mit polnischen und westukrainischen Partnerkommunen sowie | |
| mit der lokalen Zivilgesellschaft hat ihn offenbar nachhaltig geprägt. | |
| Ljach spricht offen über diese Veränderung. 2014 habe ihm die Orientierung | |
| gefehlt, 2022 dagegen absolute Klarheit geherrscht: „Als die russische | |
| Armee nur zehn Kilometer vor Slowjansk stand, war alles einfacher: Ich | |
| wusste sofort, wer der Feind ist – und auf welcher Seite ich stehe“, sagte | |
| er Ende 2023 dem Spiegel. | |
| In unserem Büro im Stadtzentrum, nur wenige Schritte entfernt von dem 2014 | |
| von Girkins Truppen besetzten Gebäude des ukrainischen Geheimdienstes, in | |
| dessen Keller er Menschen brutal verhören ließ, diskutierten wir mit | |
| Aktivist:innen. Welche Verantwortung haben wir als Bürger:innen für die | |
| Zukunft unserer Gesellschaften? Was trennt und verbindet uns mit Polen, der | |
| Slowakei oder Deutschland? Es ging um gesellschaftlichen Wandel, weg von | |
| sowjetischen Prägungen, vom Bild des passiven, vom Staat abhängigen | |
| Menschen, hin zu mündigen Bürger:innen. Wie lässt sich Öffentlichkeit | |
| schaffen in einer Stadt, die ein solches Trauma erlebt hat? Wie soll mit | |
| Erinnerungen umgegangen werden, die noch immer spalten und verletzen? | |
| ## Vom Ort der Möglichkeiten zum Ort des Überlebens | |
| Viele Menschen, die damals diese und andere Städte der Region wachhielten, | |
| sind seit 2022 nicht mehr dort. Mit der russischen Vollinvasion ist die | |
| „Knete“ von einst hart geworden: Blei, Beton, Schutt. Slowjansk wurde vom | |
| Ort der Möglichkeiten zum Ort des Überlebens. Aktivist:innen, die früher | |
| Medienprojekte organisierten oder Antikorruptionsinitiativen führten, | |
| tragen heute Waffen. Manche verschwanden in russischen Foltergefängnissen | |
| oder gelten als vermisst. | |
| „Nach dem 24. Februar erlebten wir einen Einbruch dieser horizontalen | |
| Strukturen, weil das Level der Gewalt eine völlig neue Dimension erreicht | |
| hatte“, sagt Bihunow, der in Slowjansk geboren und aufgewachsen ist. „Nun | |
| sehe ich die Zivilgesellschaft im Militär“, fügt er hinzu. Er sagt dies aus | |
| Überzeugung und ist zugleich enttäuscht. | |
| Ich höre diese Gedanken nicht zum ersten Mal. Ich erinnere mich während des | |
| Gesprächs mit Bihunow an meinen Freund Ivan Paramonov, einen Aktivisten aus | |
| Kyjiw, dem kürzlich am Haus, in dem er gelebt hatte, eine Gedenktafel | |
| gewidmet wurde. Ivan Paramonov wurde am 8. Juni 2024 in der Region Charkiw | |
| getötet, nachdem er sich Anfang 2024 freiwillig für den Dienst im Militär | |
| gemeldet hatte. Er wurde 28 Jahre alt. Für die demokratische Entwicklung | |
| der Ukraine fehlt er schmerzlich. | |
| Ivan Paramonov war seit der Maidan-Revolution 2014 Aktivist. Er arbeitete | |
| mit Veteranen an sozialen Projekten in der Ostukraine, lange vor der | |
| russischen Vollinvasion 2022 – Ferienlagern, Kultur- und | |
| Jugendinitiativen, Wiederaufbauprojekten –, bis russische Panzer im | |
| Februar 2022 die Kontaktlinie einfach überrollten. Seine Organisation | |
| Shtuka, gegründet in der nun ebenfalls massiv zerstörten Stadt Myrnohrad in | |
| der Region Donezk, wollte die Vielfalt, die europäische Geschichte und das | |
| Potenzial der Region sichtbar machen. Denn Paramonov und viele andere | |
| wussten: Die Erzählung vom angeblich [3][„russischen Donbass“] ist ein | |
| imperiales Märchen, das nun auch im Westen wieder Fuß fasst. | |
| ## Russland schafft Fakten | |
| Auch Denys Bihunow weiß das. Gemeinsam mit anderen Aktivist:innen | |
| sammelt und evakuiert er historische Artefakte aus Slowjansk, um sie vor | |
| der Zerstörung zu retten, wie sie in [4][Mariupol, Bachmut, Awdijiwka und | |
| nun in Pokrowsk] zu sehen ist. Sie sind überzeugt, dass die europäische | |
| Geschichte dieser Stadt nicht ausgelöscht werden darf. Russland schafft | |
| Fakten, errichtet auf den Ruinen der zerstörten Gemeinden neue Städte mit | |
| propagandistischen Mythen und lässt europäisches Erbe verschwinden. Damit | |
| gehen auch unsere gemeinsamen europäischen Geschichten von | |
| Industrialisierung, europäischer Architektur und Demokratie verloren. | |
| Zeitgleich wird im Westen über Slowjansk nur noch als Territorium | |
| gesprochen, Koordinaten, die man in einem „Deal“ preisgeben könnte. Als | |
| Objekt in einem geopolitischen Spiel. Für die Menschen dort bedeutet das: | |
| keine Stimme, keine Handlungsmacht, keine Zukunft. | |
| Auch wenn in Deutschland viele noch zu hoffen scheinen, dass das von den | |
| USA hinterlassene globale Vakuum nur ein vorübergehendes Unwetter ist – | |
| a[5][uf die USA werden sich die Zivilgesellschaft und demokratische | |
| Bewegungen auf lange Zeit nicht mehr verlassen können]. Dort scheint nichts | |
| weniger als die außenpolitische Leitidee der liberalen Weltordnung | |
| zerfallen zu sein. | |
| Auch deshalb müssen wir in Europa unsere eigenen Allianzen stärken. | |
| Zivilgesellschaften weltweit – sei es in der Ukraine unter | |
| Kriegsbedingungen oder noch bestehende demokratische Netzwerke in | |
| autoritären Staaten wie Russland, Belarus, China oder Kasachstan – sind | |
| alle essenzieller Teil dieser Allianzen. Politikwissenschaftler Brian Klaas | |
| hat die Herausforderungen dabei auf den Punkt gebracht: In den letzten | |
| Jahrzehnten waren internationale Unterstützung und Druck entscheidend für | |
| Demokratisierung. Oppositionelle und Zivilgesellschaft wussten, dass die | |
| Welt hinsah. Denn wenn Druck nachlässt, siegt die Gewalt. | |
| Demokratieförderung ist keine Nebensache, sondern eine moralische wie auch | |
| sicherheitspolitische Notwendigkeit. Slowjansk ist mehr als ein Ort im | |
| Donbass. Es ist ein Ort, wo sich die Frage stellt, wie wir als westliche | |
| Gesellschaften leben wollen. Es ist ein Prüfstein dafür, ob Europa bereit | |
| ist, sein eigenes demokratisches Versprechen einzulösen. Die Menschen dort | |
| brauchen unsere Unterstützung, damit die Idee von Demokratie nicht in Blei, | |
| Blut, Schutt und Beton erstickt. | |
| Igor Mitchnik ist Erster Geschäftsführer von Austausch e. V. Die | |
| Organisation setzt sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft, | |
| insbesondere in Deutschland und Osteuropa, ein. In Russland ist sie seit | |
| 2021 verboten. | |
| 22 Aug 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Selenskyj-und-Trump-im-Oval-Office/!6108258 | |
| [2] https://www.cambridge.org/core/books/persistent-power-of-human-rights/D26A2… | |
| [3] /Der-Donbass-und-seine-Bedeutung/!6107328 | |
| [4] /Kaempfe-in-der-Ostukraine/!6025289 | |
| [5] /USAID-stellt-Zahlungen-ein/!6063648 | |
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| Igor Mitchnik | |
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