| # taz.de -- Impulstanz Festival Wien: Schweiß und Pathos | |
| > Der Schlüssel zur Gegenwart liegt im Archiv. Um Zeitgenossenschaft zu | |
| > ergründen, blickt das Impulstanz Festival zurück. Geht es ohne Pina | |
| > Bausch? | |
| Bild: Die Wiener Choreografin Elisabeth Bakambamba Tambwe arbeitet in „SelFis… | |
| Immer wieder verheddert sich eine Tänzerin in der Drehtür zur Hinterbühne. | |
| Der Mechanismus, der in der Beschleunigung nur rasenden Stillstand erzeugt, | |
| wird zum Emblem von Entfremdung, die noch in die entlegensten Reservate des | |
| Privaten dringt. Gesellschaft ist in den leeren Stuhlreihen des „Café | |
| Müller“, Pina Bauschs Stück anno 1978, auch außerhalb der Öffnungszeiten | |
| immer präsent. | |
| Es spannt eine somnambule Zwischenwelt auf, in der die Subjekte im | |
| Blindflug einander begehren und zuverlässig verfehlen. Ein Tänzer räumt der | |
| schlafwandelnden Protagonistin die Stühle aus dem Weg. Mehr kann man in | |
| Zeiten wie diesen füreinander nicht tun. [1][Die Rollen in Paarbeziehungen | |
| stehen außer Frage, vielleicht scheitern sie gerade daran]. | |
| Den elfenhafte Frauenleib vermögen die kraftlos-starken Männerarme nicht zu | |
| halten. Heterosexualität ist hier noch das kulturelle Normalnull, aber | |
| verbunden mit dem Verweis auf eine unentrinnbare Gewaltgeschichte. Warum | |
| zeigt man Stücke, über die alles gesagt scheint, deren letzte Winkel seit | |
| Jahrzehnten beschrieben und erforscht sind? | |
| ## Das Festival geht auf historische Exkursionen | |
| [2][Das Wiener Impulstanz Festival] geht nicht zum ersten Mal auf | |
| Exkursionen in die Tanzgeschichte, die, soweit sie bis in die 1980er Jahre | |
| zurückreicht, auch seine eigene ist. Es hat sich aus überschaubaren | |
| Anfängen zum größten europäischen Tanzfestival entwickelt. | |
| Die Pluralität seiner Programmierung verfolgt weniger das kuratorische | |
| Interesse an einer hegemonialen Positionierung innerhalb der Tanzszene als | |
| letztlich eine kulturpolitische Mission: Tanz langfristig in einer Stadt zu | |
| etablieren und zu kanonisieren, in der er zu Beginn des 20. Jahrhunderts | |
| sehr präsent war, während er in der Rekonstruktion einer österreichischen | |
| kulturellen Identität nach dem Nationalsozialismus jenseits des Balletts | |
| für Jahrzehnte kaum noch vorkam. | |
| Unterdessen wird der Begriff des Zeitgenössischen im Tanz zunehmend unklar. | |
| Was verbindet die virtuosen Arbeiten der „alten Meister:innen“, die dem | |
| Festival die Spielstätten füllen, noch mit den fragilen Selbsterkundungen | |
| seiner Nachwuchsprogramme? | |
| Die Aufspaltung künstlerischer Praxis, die sich kaum mehr über methodische | |
| und theoretische Perspektiven verständigt, macht die Frage, wie all diese | |
| Differenzierungen entstanden sind, immer dringlicher. In „Café Müller“, d… | |
| Neueinstudierung von [3][Boris Charmatz], dem scheidenden Intendanten des | |
| Tanztheater Wuppertal, sind es durchweg junge Tänzer:innen, die sich ein | |
| fernes Repertoire aneignen. | |
| Die Differenz der aktuellen und der historisch geronnenen Körpererfahrung | |
| erst öffnet eine Ebene der Reflexion. Um Gegenwart als Gewordenes zu | |
| begreifen, braucht es das Archiv. „Nelken“ (1982), das zweite | |
| Pina-Bausch-Stück im Programm, treibt die Studie gesellschaftlicher | |
| Mikroaggression weiter. | |
| Im Meer von Kunstblumen kehrt das Bild einer Gesellschaft wieder, die nach | |
| einem sehr kurzen Jahrzehnt, das mehr Demokratie zu wagen versprach, in | |
| ihren Kontrollmechanismen erstarrt. Daran irritiert vor allem, das heute | |
| alltäglich erscheint, was damals noch verstörte. | |
| Das Programm von Impulstanz lässt sich in seiner ersten Halbzeit auch als | |
| horizontale Erzählung über [4][Formen der Vergesellschaftung] zu | |
| verschiedenen Zeiten lesen. Der Vorlauf auf der Zeitachse führt in die | |
| Postpandemie zu „In C“ von [5][Sasha Waltz] and Guests, die erstmals | |
| überhaupt bei Impulstanz vertreten sind. | |
| ## Irgendwann verschwindet das Hetero-Drama | |
| Das Frau-Mann-Drama ist vorläufig aus dem Zentrum verschwunden. Im | |
| Narkotikum der Musik von [6][Terry Riley] und den Schöne-Neue-Welt-Farben | |
| des Virtuellen tummelt sich ein Schwarm von Monaden getrieben von | |
| Individualkonkurrenz, sozialer Distanzierung und dem gegenläufigen | |
| Begehren, sich in labilen Konstellationen körperlich zusammenzurotten. | |
| In der aktuellen Arbeit von Alexander Vantournhout kehrt das Paarschema | |
| dagegen wieder. „every_body“ im Duett mit Emmi Väisänen erfindet den Pas … | |
| deux als Form artistischer Funktionalität neu. Dabei gelingt oder | |
| unterläuft ihnen ein wunderbares Bild. Seitlich ineinander verschränkt | |
| setzen sie symmetrisch auf einem Laufband einen Fuß vor den anderen. | |
| Als Einzelne könnten sie die Vertikale darauf nicht halten, gemeinsam | |
| bewältigen sie den Vortrieb des Laufbands. Das Paar wird als symbiotisches | |
| Zweckbündnis zur Ikone eines alle Lebensbereiche durchdringenden | |
| Verwertungszwangs. | |
| Der südkoreanische Choreograf [7][Kyoung Shin Kim] und sein Ensemble | |
| Unplugged Bodies betreiben eine tänzerische Transformation dystopischer | |
| Arbeitswelten. „Homo Faber – the Origin“ führt in eine Art Vertriebszent… | |
| für Internetbestellungen, in denen ein Arbeiter:innenheer in | |
| graubraunen Overalls Kartons verschiebt. | |
| Immer wieder treibt sie eine autoritative Lautsprecherstimme à la | |
| „[8][Squid Game]“. Hier im Außenbereich einer digitalen Ökonomie herrscht | |
| Schweiß statt Information und elektronische Tags sorgen dafür, dass die | |
| Pakete schnell genug bewegt werden. | |
| ## Tanzen im postindustriellen Jammertal | |
| Die der Effizienz der Arbeit unterworfenen Tänzer:innenkörper gewinnen | |
| ihrem postindustriellen Jammertal unerwartete Wendungen ab, werfen als | |
| Maschinenstürmer Steine, um den Maschinen doch zu unterliegen. | |
| Kyoung Shin Kim wechselt, wie der Titel will, von der Ökonomie in die | |
| Ontologie, was nicht zu den stärksten Momenten des Abends gehört. Was eben | |
| noch entfremdete Arbeit war, wird zum Makel im Dasein eines Mangelwesens. | |
| Die biologische Evolution hält mit der technischen nicht mit. War’s das mit | |
| der Spezies? | |
| Es bleiben opulente Bilder, die auch Pathos nicht scheuen. Zum zweiten | |
| Schostakowitsch-Walzer schleudern Sprünge auf eine Wippe rotes | |
| Blütenkonfetti durch die Luft. Ist es [9][Love Bombing] oder die | |
| Ankündigung des unvermeidlichen Krieges? | |
| Kyoung Shin Kim dreht in philosophischer Spekulation am großen | |
| Darstellungsrad. Aufgeklärte Skepsis, die überall Pathos und | |
| Ideologieverdacht wittert, kann das irritieren. Aber vielleicht braucht es | |
| gerade das, vielleicht ist, was einst Skepsis und Sorgfalt war, selbst | |
| längst Ideologie und als solche nur noch wissendes Einverständnis ins | |
| Bestehende. | |
| ## Erst spät schlägt das Thema „Pandemie“ im Tanz ein | |
| Mit Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“ im Gepäck nähert | |
| sich die Wiener Choreografin [10][Elisabeth Bakambamba Tambwe] zwei Figuren | |
| der griechischen Mythologie, dem ins eigene Spiegelbild verliebten | |
| Narcissos und der zum Nachhall Echo. Die Performance „SelFist“ liest den | |
| Mythos im Hinblick auf die Allgegenwart medial gestützter Selbsttechniken | |
| neu. | |
| Der/die nonbinäre, künstlerisch im [11][Ballhaus Naunynstraße] in Berlin | |
| beheimatete, britische Performancekünstler*in [12][Bishop Black], der | |
| Wiener Schauspieler Max Mayer und die Performerin Sunny Jana bearbeiten in | |
| einer von Musik und komplexen Videoprojektionen gestützten Performance ein | |
| populär- wie subkulturelles Bombardement von Identifikationsangeboten. | |
| Narziss wird mit ihnen zum Forscher, der die Fremdzuschreibungen | |
| verweigert. | |
| Zu den überraschenden Momenten des Festivals gehört, dass das Thema | |
| Pandemie erst jetzt mit Zeitverzug richtig durchschlägt. [13][Mette | |
| Ingvartsen] etwa inszeniert mit „Delirious Night“ einen postpandemischen | |
| Maskenball, der sich über eine Stunde steigert, gleich dem | |
| mittelalterlichen Schreckensbild einer besessenen Tanzwut. | |
| Es mehren sich Arbeiten, die auf diskursive Volten pfeifen und die Lust am | |
| Einssein mit dem bewegenden Körper als kollektive Erfahrung vermitteln. | |
| Eine „Inflationsperiode performativer Zeichenhaftigkeit“, die ein Wiener | |
| Kritiker noch diagnostiziert, scheint zu Ende zu gehen. | |
| 31 Jul 2025 | |
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| [3] /Choreograf-Boris-Charmatz-in-Wuppertal/!5975655 | |
| [4] /Vergesellschaftung-in-Berlin/!6098681 | |
| [5] /Sasha-Waltz/!t5044320 | |
| [6] /Die-Echokammer-des-Ich/!718889/ | |
| [7] https://www.impulstanz.com/artist/id2321/ | |
| [8] /Neue-Staffel-Squid-Game/!6059249 | |
| [9] /Virales-Essay-ueber-Machtmissbrauch/!5829707 | |
| [10] https://www.impulstanz.com/artist/id1275/ | |
| [11] /Ballhaus-Naunynstrasse-in-Berlin/!5625038 | |
| [12] /Physische-Selbsterkennung/!5651407/ | |
| [13] /Festival-Tanz-im-August/!6028318 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiß | |
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