# taz.de -- Virales Essay über Machtmissbrauch: Keine Grauzonen | |
> Grenzt ungewollte Zuneigung an sexualisierte Gewalt? Eine junge Frau hat | |
> über ihre schmerzhaften Erfahrungen mit einem Schauspieler geschrieben. | |
Bild: „The Movie Star and Me“ heißt der Text der Theaterregisseurin Domeni… | |
Sexualisierte Gewalt ist, so scheint es, eindeutig definiert: Ein Mensch | |
wird von einem anderen Menschen zu sexuellen Handlungen gezwungen. Was | |
genau sexuelle Handlungen sind, ist immer wieder Gegenstand der Debatte. | |
[1][Es gibt Grauzonen, die oft weniger grau sind, als es zunächst den | |
Anschein hat.] Denn auch Taten, die rechtlich nicht belangt werden können, | |
sind teilweise moralisch zu verurteilen. | |
In den USA wird über ein Essay diskutiert, das die 28-jährige | |
Theaterautorin Domenica Feraud kürzlich im Onlinemagazin Medium | |
veröffentlichte. [2][„The Movie Star and Me“] ist ein fast 10.000 Wörter | |
langer schmerzhafter und schonungsloser Text, in dem sie eine Erfahrung | |
verarbeitet, die uns zeigt, wie fließend die Grenzen von Grauzone zu | |
Übergriffigkeit sein können. | |
Vermutlich im Herbst 2016 macht die damals 23-Jährige ein Praktikum bei | |
einer großen Theaterproduktion am Broadway; ihre Mentorin, mit der sie seit | |
Jahren zusammenarbeitet, hat sie ins Boot geholt. Der Star des | |
Theaterstücks ist ein bekannter Hollywood-Schauspieler, zu dem Zeitpunkt | |
35, fast 36 Jahre alt. Chronologisch berichtet die Autorin von ihren | |
Begegnungen mit ihm. | |
Wie er ihr am ersten Tag, als sie sich hinter den Kulissen verloren fühlt, | |
seine volle Aufmerksamkeit schenkt, Witze über Oralsex macht, sie eine Spur | |
zu fest umarmt. Wie er seinen Pulli über ihre Beine legt, als sie fröstelt, | |
ihr jeden Morgen schreibt. Wie er seinen Kopf in ihren Schoß legt für einen | |
„Mittagsschlaf“, während sie nicht weiß, was sie mit ihren Händen anstel… | |
soll. Wie er sie zu sich einlädt, Witze darüber macht, sie sollten | |
heiraten, wie sie sich küssen und sie Angst hat, er könne merken, wie | |
unerfahren sie ist. Und wie er sie aus dem Nichts komplett ignoriert. | |
## Überschüttet mit Zuneigung, komplett ignoriert | |
Vom ersten Tag an ist das kein harmloses Flirten, sondern wirkt wie | |
aggressives Jagdverhalten. So aggressiv, dass die junge Praktikantin | |
keinerlei Gelegenheit hat, sich darüber klarzuwerden, was sie selbst will; | |
zu Beginn fühlt sie sich sogar leicht abgestoßen von ihm. Aber alle um sie | |
herum ermutigen sie, auf die Avancen des Schauspielers einzugehen. „Es kam | |
mir nicht in den Sinn, dass das, was er gesagt hatte, unangemessen war: Ich | |
dachte, es sei normal, alle taten so, als sei es normal.“ | |
Auf eindringliche Weise schildert Feraud, was diese Überschüttung seiner | |
Zuneigung, abgewechselt von einem gelegentlich vollkommenen Desinteresse, | |
mit ihr macht. Sie kann nicht mehr essen, schlafen, fühlt sich benutzt und | |
sagt trotzdem nicht nein zu ihm. Letzteres wirft sie sich heute noch vor. | |
„Ich sagte: ‚Nein, es ist mir nicht unangenehm.‘ Und weil ich diese Worte | |
ausgesprochen habe, frage ich mich, ob ich das Recht habe, diesen Essay zu | |
veröffentlichen.“ Es ist bemerkenswert, wie klar Feraud ihre Gefühle | |
analysiert, wie viel Einblick sie gewährt in ihre Unsicherheiten. | |
Nachdem sie sich wegen Dreharbeiten einen Monat lang nicht sehen, besucht | |
sie den Schauspieler zu Hause. Als er schon nackt über ihr ist, platzt es | |
aus ihr heraus: „Ich kann heute keinen Sex haben.“ „Dankbar“ dafür, da… | |
sie nicht bedrängt, performt sie Oralsex an ihm. Kurz danach ghostet er | |
sie. | |
## Eindeutiges Fehlverhalten | |
Jahre später hört Feraud davon, dass der Schauspieler einen gewissen Ruf | |
dafür hat, sich in Praktikantinnen und Assistentinnen zu „verlieben“, um | |
sie nach einem Monat wieder zu vergessen. „Als ich aus dem Mund einer | |
anderen mein Leben erzählt bekam, hatte ich das Gefühl, in einen Abgrund zu | |
fallen. Mein erster Gedanke war nicht: ‚Er ist ein Raubtier, das es auf | |
Frauen abgesehen hat, die für ihn arbeiten. Sondern: Wie konntest du nur so | |
dumm sein?‘“ | |
Die Anspielungen im Text legen nahe, dass es sich bei dem berühmten | |
Schauspieler um Jake Gyllenhall handelt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: | |
Er spielte im Oktober 2016 die Hauptrolle im Broadway-Musical „Sunday in | |
the Park with George“. Ferauds Essay ist mit einem Ausschnitt aus dem | |
Kurzfilm zu Taylor Swifts Songs „All To Well“, in dem es um ihre kurze | |
Beziehung mit Gyllenhaal im Jahr 2010 gehen soll, bebildert. | |
Doch für die Debatte spielt es keine Rolle, wer der Schauspieler ist, denn | |
die Dynamik ist nicht neu, Ferauds Geschichte kein Einzelfall: Ein Mann in | |
einer eindeutigen Machtposition (älter, berühmter und/oder reicher) stellt | |
einer jungen Frau (unerfahren, leicht zu feuern) nach, die sich nicht zu | |
wehren weiß. In Ferauds Fall sind das nicht nur ungewollte Avancen, sondern | |
ein eindeutiges Fehlverhalten des Schauspielers, der ihr zu keinem | |
Zeitpunkt die Möglichkeit gibt, selbst zu wählen, was sie eigentlich will. | |
„Ich werde nie erfahren, was meine wahren Gefühle waren, weil er Grenzen | |
überschritt, die für ihn nicht existierten, Grenzen, von denen ich nicht | |
wusste, dass ich sie schützen musste.“ | |
## Vom Love Bombing zum Ghosting | |
Ebenso erschreckend wie dieses im [3][Englischen als „Love bombing“] | |
bezeichnete Verhalten des Mannes, also der Versuch, eine andere Person | |
durch das wiederholte Zeigen von Aufmerksamkeit und Zuneigung zu | |
beeinflussen – laut Psycholog*innen potentiell Teil eines | |
Missbrauchskreislaufes –, ist auch das Verhalten aller Menschen in ihrem | |
Umkreis. | |
Die Mentorin und die Produzentin des Stücks, die die junge Praktikantin als | |
ausschlaggebend für die Performance des Schauspielers identifizieren und | |
sie in seine Richtung drängen, die anderen Mitarbeitenden des | |
Theaterstücks, die schulterzuckend zusehen, die Freundinnen, die jedes | |
einzelne Detail aufsaugen, als wäre es ein Märchen, und noch Jahre später | |
darauf hoffen, er würde eines Tages zurückkommen zu ihr und zu seinen | |
Gefühlen stehen, und nicht zuletzt die Eltern, die von dem Verhältnis | |
wissen und ihrer Tochter offensichtlich keinen Rückhalt geben. Sie alle | |
machen sich in einer Form mitschuldig. | |
Das vermindert natürlich nicht seine Schuld. Aber dieser Text sollte uns | |
als Gesellschaft eine Lehre sein: In krassen Hierarchien und bei | |
eindeutiger Manipulation benötigen diejenigen, die im Zentrum dieser | |
ungewünschten Aufmerksamkeit stehen, Hilfe von Nahestehenden. Der | |
Schauspieler macht sich im rechtlichen Sinne nicht schuldig. Gezwungen hat | |
er sie nie – aber manipuliert die ganze Zeit. Und da hört die Grauzone auf, | |
eine Grauzone zu sein. „Es ist schwer, in einer Grauzone zu leben, die | |
eigentlich gar nicht grau ist, diejenige zu sein, die sich sagt, dass das, | |
was passiert ist, inakzeptabel ist, während alle so tun, als hättest du in | |
dem Moment, in dem er dich angräbt, im Lotto gewonnen“, so Feraud. „Ich | |
glaubte, ich lebe in einem Märchen, und die Gesellschaft unterstützte | |
dieses Narrativ. Aber es war ein Albtraum, der mich immer noch schmerzt … | |
Das ist das Märchen nicht wert.“ | |
2 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Publizistin-Sara-Hassan-ueber-sexuelle-Belaestigung/!5723966 | |
[2] https://medium.com/@domenicamferaud/the-movie-star-and-me-5d711ee661e3 | |
[3] /Ehemaliges-Sektenmitglied/!5729297 | |
## AUTOREN | |
Isabella Caldart | |
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